Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


Скачать книгу
des Zusammenpralls mit mehreren Bäumen in zwei Teile gerissen. Der Fahrer prallte ebenfalls gegen einen größeren Baum und erlitt schwerste tödliche Verletzungen. Er starb direkt am Unfallort.

       Fahrlehrer aus Zingst

      Warum der erfahrene Motorsportler, der in Zingst eine eigene Fahrschule betrieb, von der Fahrbahn abkam, ist bislang ungeklärt. Allerdings herrschte in den frühen Morgenstunden auf diesem Abschnitt der L21 Straßenglätte aufgrund leichter Glatteisbildung. An den Bergungsarbeiten waren die Feuerwehren aus Wieck und Prerow sowie mehrere Rettungsfahrzeuge eingebunden. Nach ersten Angaben der Polizei war kein anderes Fahrzeug am Unfall beteiligt. Zeugenaussagen zufolge soll der Fahrlehrer während der besuchten Feier in Born keinen Alkohol getrunken haben.

      Olaf Hoppe

       2. Eresus moravicus

      »Olaf? Olaf Hegerdorp?« Robert Aaron Zimmermann hatte länger nachdenken müssen, bis ihm der Nachname eingefallen war. Der Vorname war ihm jedoch sofort präsent. War wie ein Blitz durchs Gehirn geschossen. Hatte wie ein solcher eingeschlagen. Als er den alten Mann am Vormittag gesehen hatte. Erkannt. Olaf. Beim Wassertreten in der Therme von Bad Warmbrunn. Das heute jedoch anders hieß. Und in der Republik Polen lag. Statt im Niederschlesien seiner Kinderjahre.

      Die Zimmermann beim Anblick des Alten auf einmal wieder zum Greifen nahe erschienen. Wie ein Zitronenfalter auf blassvioletter Skabiosenblüte. Seine Kinderjahre in Ahrenshoop. Zwischen Fischland und Darß, Urwald und Bodden, Ostsee und Hafenträumen. Geplatzten Träumen. Seifenblasenträumen. Die ihm schließlich die Tränen in die Augenwinkel getupft hatten. Getupft? Eher gepiekst. Gestochen. Mit spitzen Fingern, deren Nägel gefeilt. Gepfeilt. Treffsicher.

      Der böseste Pfeil für ihn war Olaf gewesen. Olaf Hegerdorp. Sicherlich, auch der kleine Robert hatte 1933 mitbekommen, dass nun eine andere Zeit angebrochen war. Zu Hause in Berlin ebenso wie in den Orten der Sommerfrische. Hatte wahrgenommen, dass die Ahrenshooper Dorfstraße auf einmal Adolf-Hitler-Straße hieß. Mit kleiner Wut die Strandburgen betrachtet. Die Hakenkreuze aus Muscheln gesehen. Die Fahnen, Wimpel. In Schwarz-Weiß-Rot. Sich über die Schriftzüge geärgert: ›Trutzburg‹. ›Deutschland erwache‹. ›Heil!‹. ›Juda verrecke!‹. Mit den Blütenköpfchen disteliger Dünenblümchen in den schönen weißen Sand geschrieben.

      Denn sein Vater hatte ihn beizeiten zur Seite genommen. Versucht, seinem Sohn zu erklären, was das alles zu bedeuten habe. Für Deutschland. Die Welt. Und vor allem für die Familie Zimmermann. Allerdings hatte sich Robert Aaron lieber an Großmama Ruth gehalten. Ihren Worten vertraut, wonach nichts so heiß gegessen würde, wie es gekocht sei.

      Diese Hoffnung hatte für einige Zeit angehalten. Ihn getröstet. Beruhigt. Getragen. Bis zu jenem Sommertag 1935. Dem Tag des Ahrenshooper Kinderfestes. Dem Tag, an dem Olaf sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Und ihn fallengelassen.

      Die beiden Jungen waren sich zuerst drei Jahre zuvor im Atelier von Onkel Alfred begegnet. Der Kunstprofessor und Landschaftsmaler Alfred Partikel lud gerne die Freunde seiner Kinder ein, um ihnen die Welt der Farben, Formen und Fantasien nahezubringen. Olaf war Klassenkamerad und Verehrer Barbaras, der ältesten Tochter des Künstlers. Jahrgang 1922. Sowie mit Adrian befreundet. Der im August 1923 geboren worden war. Robert hingegen himmelte Nesthäkchen Cornelia an. Seine Nele. Beide hatten 1927 das Licht der Welt erblickt.

      Aufgrund des Altersunterschieds kam natürlich keine wirkliche Freundschaft zwischen ihm und dem Sohn eines Fischers aus Althagen in Frage. Dafür war Olaf sein Held. Sein Idol. So wollte er damals auch werden! Spätestens, seitdem ihm Olaf aus der Bredouille geholfen hatte, als ihn die Fretwurstjungs einmal durchs Brennnesselfeld treiben wollten. Nackig! Da war er einfach nur dazwischen gegangen. Hatte dem Ältesten der Brüder eine Ohrfeige verpasst. Die Köpfe der anderen beiden zusammenkrachen lassen. Um dann den Arm um Roberts schmale Schultern zu legen, dessen Kleidungsstücke aufzuheben und gemeinsam mit ihm den Schauplatz der Schlacht zu verlassen. Was war er dankbar gewesen! Stolz auch. Stolz darauf, so einen starken Freund zu haben.

      Das war im Juli 1933 gewesen. Nur ein knappes Jahr später dann der Verrat. Am Tag des Kinderfestes. Er hatte Nele abgeholt. War mit ihr die Dorfstraße entlang geschlendert. In glühender Hitze. In glühender Vorfreude auf das, was sie, ihn erwartete. Er wollte unbedingt beim Tonnenabschlagen gewinnen. Für Nele. Das hatte er sich fest vorgenommen. Da hatte er Olaf gesehen. Im feschen Ornat des Deutschen Jungvolkes. Umgeben von einigen älteren Jungs. Noch älteren. Jene bereits im martialischen Braun der HJ. Zuerst hatte er ihm freundlich zugewunken. Zögerlich zwar. Verlegen auch. Aber noch nichts Böses ahnend. War mit Cornelia nähergekommen. Hatte sogar kurz überlegt, ob er den Großen zuliebe den Arm zum Hitlergruß erheben sollte.

      Olaf war ihm zuvorgekommen. »Na, wo wollen wir denn hin? Doch nicht etwa zum Kinderfest? Das schlag dir am besten gleich aus dem Kopf, du Judenbengel. Das würde dem Führer überhaupt nicht gefallen, wenn da so ein kleiner, schmutziger Itzig mitmachen würde. Zieh Leine; Juda verrecke!«

      Roberts gestammeltes »Aber Olaf …« war im Gelächter der Kameraden in Durchfallbraun untergegangen. Ein, zwei von ihnen hatten sogar nach ihm gespuckt. Allerdings Nele getroffen. Die sich angewidert umdrehte. Und nach Hause lief. Er jedoch hatte rotgesehen. Sich klein gemacht. Den Kopf auf die Brust gepresst. Wie ein Widder. Und war wie ein solcher auf seinen gefallenen Helden zugestürmt. Mit einem lauten »Er sol kackn mit Blit un mit Eiter.« auf den Lippen. Das sagte sein Vater immer, wenn er ein Foto von Hitler in der Zeitung sah.

      Eine solche Reaktion hatte Olaf nicht erwartet. Sich eben noch im Beifall der Hitlerjungen sonnend, war er daher wenige Sekunden später vom »Judenbengel« umgerannt worden und rückwärts über den Zaun vom Vorgarten Dr. Ziels gestürzt. Dort zwischen Lupinen und Rittersporn liegen geblieben. Zuerst fluchend. Dann jammernd. Schließlich weinend. Da es ein Jägerzaun gewesen war. Dessen Zacken Olaf beide Oberschenkel aufgeschlitzt hatten. Eine folgenschwere Verletzung …

      Davon hatte Robert aber erst später erfahren. Viel später. Nachdem ihm aufgrund der allgemeinen Überraschung und Bestürzung der jungen Herren der Herrenrasse die Flucht geglückt war, hatte er sich noch am gleichen Tag seinem Vater anvertraut. Der umgehend die Abreise der Familie Zimmermann in die Wege geleitet hatte. Zunächst die aus Ahrenshoop. Gute zwei Monate später dann auch jene aus Deutschland. Die Robert auf Umwegen letztlich nach Kanada führte und ihn zum Bob werden ließ. Dort war er Adrian wiederbegegnet, der ihm berichtete, dass Olaf noch Jahre später mit zwei langen, senkrecht verlaufenden, rotwulstigen Narben an beiden Schenkeln gezeichnet war. Die ihn an Ausrufezeichen erinnerten. Mit den beiden Kniekehlen als Punkten.

      Zwei Ausrufezeichen. Mit den Kniekehlen als Punkten. Genau sie hatte Robert Aaron Zimmermann heute am Vormittag gesehen. An, auf den Beinen eines alten, sehr alten Mannes, der vor ihm durch das Wasser der Kurtherme geschritten war. Genauer gesagt, geschlurft. In kurzer, altmodischer Badehose. Sich dabei mühsam am Geländer des Beckens festhaltend. Langsam vortastend. Sicherlich, Falten und sonstige Chiffren des Alters bildeten nun einen etwas unruhigeren Hintergrund als die ansonsten makellose, stets gebräunte Haut des jungen Olaf Hegerdorps. Doch Zimmermann war Adrians Schilderung der Narben so gegenwärtig, dass er den müden Greis genauer betrachtete, ihn überholte, die Augen anschaute, den Mund, die kühne Nase. Ja, diese, ungeachtet aller Flecken, geplatzten Äderchen und wildwuchernder Härchen immer noch kühne Nase war es gewesen, die ihm Gewissheit gegeben hatte.

      Allerdings gönnte er sich noch einige Stunden des Privatstudiums seines Objektes der Erinnerung, bis er den ersten Schritt zur Kontaktaufnahme wagte. Zum Mittagessen im Restaurant Caspar war der Alte von einem Ehepaar geleitet worden, das Zimmermann auf etwa Mitte bis Ende sechzig schätzte. Wahrscheinlich Sohn und Schwiegertochter. Beziehungsweise umgekehrt. Mit ihnen zu sprechen, verspürte er jedoch wenig Lust. Daher wartete er geduldig ab, bis die Drei ihr Mahl beendet und bezahlt hatten, und anschließend den Kurpark ansteuerten, wo der mutmaßliche Hegerdorp einschließlich seines Rollators von seinen Verwandten auf einer schattigen Bank unter Rhododendren geparkt wurde, bevor das Paar Richtung historischer Altstadt verschwand.

      Zimmermann steuerte die


Скачать книгу