Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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dritten Sätze zu formulieren. Sowie sein Ziel dieses Unterfangens. Was wollte er eigentlich von Olaf Hegerdorp? Sich entschuldigen sicherlich nicht. Doch wollte er selbst eine Entschuldigung hören? Nach weit über 80 Jahren? Ja. Genau das wollte er. Eine Entschuldigung! Wenigstens von ihm. Seinem intimsten Nazi. Der für ihn einst ein großer Bruder, starker Freund, fast so etwas wie ein Vorbild gewesen war. Wenigstens er sollte sich bei ihm entschuldigen. Persönlich! Dann hatte er es gewagt.

      »Olaf? Olaf Hegerdorp?« Keine Regung. Es schien, als sei der alte Knabe eingeschlafen. Obgleich seine Augen offen waren. Die wenigen Wimpern flirrten unstet im lauen Sommerlüftchen. Ein weiterer Versuch. »Erinnerst du, erinnern Sie sich? Ich bin es, Robert Zimmermann, Robert Aaron Zimmermann. Weißt du noch, wissen Sie noch, damals in Ahrenshoop, bei Onkel Alfred? Zusammen mit Barbara, Adrian, Nele. Und dann das Kinderfest. 1935 war es. Unser, nun ja, Streit. Weißt du noch? Deine Narben …«

      Eine erste Reaktion durchfuhr den Angesprochenen. Er wandte Zimmermann den Kopf zu. Mühsam. So als ob es eine ungemeine Anstrengung für ihn wäre, ihm Aufmerksamkeit zu widmen. Der Erinnerung zu begegnen. Sich womöglich der Vergangenheit zu stellen. So zumindest deutete Zimmermann die Bewegung. Dann jedoch traf ihn der Blick des Alten. Wässerig blau. In gallegelben Augäpfeln. Und dennoch zutiefst verachtend. Zutiefst böse. Ein Fluchblick. Ein Verfluchen. Ein Verwünschen. Das Zimmermann all das wünschte, dem er und seine Familie dank der Weitsicht seines Vaters gerade noch entkommen waren. Alle bis auf Großmama Ruth …

      Dann schnellte die rechte Hand vor. Umklammerte Zimmermanns Handgelenk. Eine Pranke. Noch immer voller Kraft. Voller Hass. Der zudrückte. Wie ein Schraubstock. Schmerzte. Da entdeckte Zimmermann den Ring. Einfaches Silber. Matt. Anstelle eines Steins ein Vogel. Ein Adler. Mit ausgebreiteten Schwingen. Darunter ein Kreuz. Schwarz. Eisern.

      »Hallo, Sie da, was machen Sie da? Lassen Sie sofort meinen Vater los! Aber plötzlich!« Die vermeintlichen Kinder, Schwiegerkinder kehrten zurück. Eilten zur Bank. Schrien auf Zimmermann ein. »Das ist ja eine Unverschämtheit. Sie sollten sich was schämen, einen armen alten Mann zu belästigen. Sie sind doch selber nicht viel jünger. Verschwinden Sie! Auf der Stelle. Sonst rufen wir die Polizei! Komm, Günter, alles ist gut. Wir sind wieder da.«

      »Schon gut, schon gut. Beruhigen Sie sich. Eine Verwechslung. Weiter nichts. Eine harmlose Verwechslung. Das kann ja in unserem Alter mal vorkommen, nicht wahr.« Auf weitere Ausführungen verzichtete Zimmermann lieber. Verabschiedete sich. Lächelnd. Grußlos. Nur dem alten Mann zischte er ein »Auf Wiedersehen« zu. Er war sich sicher, dass es dessen Ohren erreicht hatte. Und dass diese Ohren Olaf Hegerdorp gehörten.

      Dann beeilte er sich, den Kurpark zu verlassen. Seine Musketiere warteten sicher schon auf ihn.

       3. Rhodera hypogea

      D’Artagnan und die Musketiere. Diese Bezeichnung für das Altmännerquartett um Robert Aaron Zimmermann stammte von Richard Sonntag, der dem hochbetagten Anwalt aus Kanada nun seit über einem Jahr zur Seite stand. Eigentlich hatte Zimmermann den angegrauten Taxiunternehmer lediglich für die Dauer seiner Mission in Ahrenshoop als Chauffeur engagiert. Doch inzwischen war er zum vertrauten Gefährten geworden, der ihm nicht nur bei den turbulenten Ereignissen und tragischen Verwicklungen rund um die komplexe wie komplizierte Testamentsangelegenheit treue Dienste geleistet hatte, die Zimmermann vor gut 14 Monaten nach Deutschland geführt hatte. Er war ihm zum Freund geworden. Ans Herz gewachsen.

      Das galt auch für Johannes Clauert und Bernhard Gutzeit. Der etwas wunderliche Pfarrer aus Wismar und der kauzige Bestatter a.D. aus Prerow waren Zimmermann im vergangenen Herbst »zugelaufen«, wie es Sonntag gerne schmunzelnd zu formulieren pflegte. Beide Herren weit über 80 und dennoch immer noch ein Stückchen jünger als Zimmermann, der die Gesellschaft dieser neuen Vertrauten überaus schätzte. Zumal er in jenen kalten wie beängstigenden Novemberwochen die tiefe Einsamkeit der beiden Männer gespürt, erkannt hatte. Der verwitwete Clauert lebte in seinem recht chaotisch anmutenden Haus inmitten von abertausenden Büchern, Gemälden, Mineralien, Präparaten und anderen Objekten seiner Sammelleidenschaft wie Hieronymus im Gehäuse. Weniger wohlwollende Zeitgenossen wie zum Beispiel die Mitarbeiter offizieller Behörden bezeichneten ihn zumeist als verwahrlosten Sonderling.

      Gutzeit hingegen war von seinem Sohn, dem Juniorchef des gleichnamigen Bestattungshauses, diskret wie entschlossen aufs Altenteil abgeschoben worden. Aufs Abstellgleis in Form eines klitzekleinen Zimmers in einem Heim, das sich euphemistisch als Seniorenresidenz titulierte.

      Angesichts dieser Situationen hatte sich Zimmermann entschlossen, den beiden Käuzen ein neues Nest zu bieten. Und zwar in der Pension Kuhfuß in Born, wo er selbst seit seiner Ankunft an der Ostsee logierte, sich mitunter gar zu Hause fühlte. Lore Bradhering, seine Wirtin, hatte zunächst schlucken müssen. Die Perspektive, dass ihr liebevoll eingerichtetes und geführtes Haus nun zum »Männerwohnheim und Obdachlosenasyl« würde, erschien ihr etwas suspekt, zumal Johannes Clauert ein starker Kettenraucher war. Allerdings hatte sie Gefallen an Herrn Gutzeit gefunden. Nicht so viel wie an Robert Zimmermann, das nicht. Doch immerhin reichte ihre Sympathie für den rüstigen Bestatter, um sich breitschlagen zu lassen und einzuwilligen.

      Johannes Clauert hatte ebenfalls etwas zögerlich reagiert. So ganz und vollständig mochte er sich nicht von seiner Wismarer Wissenstrutzburg trennen. Zudem wusste er um Lore Bradherings Aversion gegenüber dem Rauchen an sich, seiner Sucht im speziellen. Dennoch war er in den letzten Monaten häufiger Gast im Kuhfuß gewesen und fühlte sich dort zunehmend wohl.

      Bernhard Gutzeit hingegen war sofort Feuer und Flamme gewesen. Hatte Zimmermann umarmt und stand schon am nächsten Morgen mit Sack und Pack vor der Pensionstür. Wobei sein Besitz außer zwei bescheidenen Koffern nur noch aus einigen Kisten und Kartons bestand, die seine »Kunstwerke« beherbergten; die Früchte seiner Leidenschaft und künstlerischen Passion: Bernhard Gutzeit schnitzte Särge. Im Streichholzschachtelformat. Und das äußerst artifiziell. Mit Schnörkeln und Arabesken, Mustern und erhabenen Motiven auf der Oberseite. Das Holz dafür erhielt er von den Roloffs, deren Prerower Tischlerei für ihre schönen Darßer Türen bekannt war. Mit denen Gutzeits »Erdmöbel« wiederum eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Als Zimmermann die Arbeiten zuerst gesehen hatte, war ihm jedoch eher Queequeg eingefallen, der »gute Wilde« aus Hermann Melvilles ›Moby Dick‹.

      Aber Bernhard Gutzeit schuf seine kleinen Särge nicht für die eigene letzte Reise. Nein, in ihnen barg er seine bösen Wünsche und schlechten Gedanken, die er insbesondere gegenüber seinem Sohn Bernd hegte. »Da drin sind die gut aufgehoben. Trocken und sicher. Und ich komm nicht auf dumme Ideen.« So hatte er es Zimmermann erklärt, dem diese kluge und weise Kompensationstechnik beeindruckte.

      Als Zimmermann ihn und die anderen Freunde nun vorm Hotel Pod Rózami sitzend erblickte, hatte er auch wieder ein kleines Holzstück in Arbeit, dem er sich mit großem Geschick und kleinem Messerchen widmete. Clauert und Sonntag studierten hingegen die Speisekarte des Rosengartens.

      »Was gibt es denn Feines? Haben sie hier Bigos?« Zimmermann klopfte schlapp auf die rotweiß karierte Tischdecke und nahm Platz. Das polnische Leibgericht hatte es ihm angetan und war seine Standardbestellung bei den diversen Besuchen der verschiedenen Gasthäuser und Restaurants auf ihren Streifzügen durch Polen geworden. Er würde es auch jetzt bestellen. Obgleich er nur wenig Appetit verspürte.

      »Schau selbst, mein guter Zimmermann.« Johannes Clauert reichte ihm die Karte. Im Dunstkreis der Herren um Zimmermann galt es als ungeschriebenes Gesetz, sich zu duzen, jedoch mit Nachnamen anzusprechen. »Lies, wenn du es verstehst. Prüfe, wenn es gefällig ist«, fügte der Hirte im Ruhestand hinzu. Geheimnisvoll, doch augenzwinkernd. Lies, wenn du es verstehst. Prüfe, wenn es gefällig ist – dieser mysteriöse Sinnspruch aus der Heiligen-Geist-Kirche in Wismar hatte eine wichtige Rolle bei jenem mörderischen Rätsel gespielt, das es für Zimmermann und sein Team im letzten Jahr zu lösen gegolten hatte.

      Doch das war Vergangenheit. Ebenso wie der Täter. Die letzten Monate waren voller Frieden und Freude gewesen. Sogar eine Hochzeit war gefeiert worden, der Partikel-Hof, das neue Museum am Ahrenshooper Schifferberg, nahm mehr und mehr Gestalt an und die Exkursionen der Musketiere hatten überwiegend touristischen


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