Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig
Unter Stechpalmenkron.
Für ihn ein eindeutiges Vermächtnis. Nur der Till irritierte etwas. War es ein Schreibfehler und sollte es eigentlich Tell heißen? Oder wusste von Wustrow mehr, noch mehr über den Mann aus Müggenburg, der im Herbst nicht nur die Halbinsel in Angst und Schrecken versetzt hatte?
Seine entsprechenden Fragen waren auf jeden Fall unbeantwortet geblieben. Würden es bleiben. Fakt war indes, dass ihnen nun das Werk Antoni Libudas zur Verfügung stand, um es der Öffentlichkeit vorzustellen.
Die Anregung Johanna Rieses, dies möglichst zeitnah zur großen Eröffnung zu wagen, war jedoch auf ebenso wenig Gegenliebe bei ihren Mitstreitern und Mitstreiterinnen gestoßen wie ihr Engagement für Libudas Sohn. Vor allem die Mitstreiterinnen hatten sich als unnachgiebige Bedenkenträgerinnen erwiesen. Selbst Dörte Wahnschaffe, die ja Libudas Bilder vor gut einem Jahr überhaupt erst in der einstigen Büdnerei von Gerhard Marcks in Niehagen entdeckt hatte, zeigte sich nun erstaunlich abweisend, verwies auf den avisierten Besuch der Kanzlerin, die zu erwartende Medienpräsenz sowie eine mögliche negative Publicity.
Dieser zweite Affront gegenüber der designierten künstlerischen Leiterin des Partikel-Hofes hatte die Stimmung weiter getrübt, das Klima noch stärker abkühlen lassen. Von atmosphärischen Störungen zu sprechen, wäre eine Untertreibung gewesen. Erstaunlich nur, dass die Vorbereitungen für den bald anstehenden großen Tag trotzdem nahezu reibungslos abliefen. Hakala-Holappa befürchtete, dass dieser Riss im Fundament zwischenzeitlich entstandener Freundschaften weiter mäandern würde.
Er horchte auf. Hinaus. Zwischen die Blütenzweige von Apfelbaum und Felsenbirne. Tatsächlich, eine Nachtigall: »Huit. Tick. Huit. Tick. Düh – düh – düh – düh. Huit. Tick …« Ein verzaubernder Gesang zwitscherte durch das maienhafte Dunkel. Die passende Begleitung für ein, zwei Glas zur Nachtruhe. Er machte sich auf den Weg in die Küche. Fand den passenden Wein. Einen weißen. Einen Vernaccia. Öffnete ihn. Kehrte zurück. Der Zaubervogel war aber leider schon wieder verstummt.
Stattdessen setzten sich finstere Gedankenmahre auf die Fensterbank. Ließen ihre Fledermausflügel hängen. Wilhelm tat es ihnen gleich. Sein Tag war wirklich anstrengend gewesen. Erst die Nachricht vom Tod Hans von Wustrows mit allen dazugehörigen Gedankenkonsequenzen. Wenig später hatte er dann eine vertrauliche wie rätselhafte SMS von Kempowski erhalten, dem Syndikus der Stiftung sowie Zimmermanns juristischem Adjutanten: ›Brauche Rat. Komme morgen vorbei. Was für ein beschissenes Erbe!!! Kempowski‹. Wilhelm war es nach wie vor vollkommen unklar, wieso ein Anwalt und Notar ihn als Psychologen um Rat bei einer Erbschaftsangelegenheit ersuchen sollte.
Anschließend ein langes wie aufreibendes Telefonat mit Lore Bradhering, die als Patenkind Wilhelmine von Wustrows zwar nicht blutsverwandt, dennoch in gewisser Weise die naheste; einzige Angehörige des Verstorbenen war. Und die sich dieser Verantwortung auch stellte, sich schließlich nach quälend langem Abwägen dazu durchrang, dass es im Sinne ihrer Tante Wilhelm sei, wenn ihr »verlorener Sohn« nach seinem Tod zu ihr zurückkehren würde und neben ihr seine letzte Ruhe finden könnte. Eine mutige Entscheidung, wie Hakala-Holappa fand. Nach all dem, was geschehen war. Sicherlich würde es einiges Gerede geben. Nicht nur in der Nachbarschaft. Da war er sich sicher. Doch Lore Bradherings Entschluss stand fest – Hans von Wustrow sollte auf dem Borner Friedhof bestattet werden.
5. Hogna truculenta
Abermals stand Robert Aaron Zimmermann nun auf dem Borner Friedhof am Familiengrab derer von Wustrow. Doch die Trauerfeier für Hans von Wustrow bot keinerlei Nährboden für aufkeimende Déjà-vu-Momente. War in nahezu allen Punkten das extreme Gegenteil der Beisetzung seiner Mutter, der Zimmermann vor etwas mehr als einem Jahr beigewohnt hatte.
Das begann schon damit, dass Pastor Seeberg, im Rücken gestärkt durch seinen Kirchenvorstand und sogar seinem Bischof, die Nutzung der Fischerkirche und auch der kleinen Kapelle verweigert hatte. Selbst ein weltlicher Trauerredner war nicht aufzufinden gewesen, so dass sich letztlich Johannes Clauert und Hakala-Holappa die traurige Aufgabe teilten, Worte des Abschieds zu formulieren. Immerhin hatte man Dottore Lappe, den gewichtigen Gerichtsmediziner mit der Leidenschaft für die italienische Oper gewinnen können, die musikalische Begleitung zu übernehmen. Ihm war es zu verdanken gewesen, dass zumindest bis zu einem gewissen Grade eine würdevolle Stimmung aufgekommen war. Händels ›Largo‹. Puccinis ›Nessun dorma‹. Und natürlich das unvermeidbare ›Ave Maria‹, das Lore Bradhering mit brüchiger Stimme mitgesungen hatte. Ebenso Bernhard Gutzeit. Mehr laut als schön; er wollte jedoch vorrangig seinen Sohn Bernd ärgern. Der, zum wiederum nicht geringen Ärger des Seniors, von Lore den Auftrag erhalten hatte, Hans von Wustrows letzte Reise zu betreuen. Sie hatte sich in diesem Punkt auf keinerlei Diskussion eingelassen. »Das machen wir schon immer so und Punktum. Sieh du lieber zu, dass du in deiner Bude mal Klarschiff machst. Seitdem du die entzückenden Kunstwerke von Tante Wilhelm weggeräumt und durch deine grässlichen Särge ersetzt hast, setze ich keinen Fuß mehr in diese Altmännergruft.«
Die wenigen anderen Trauergäste verzichteten darauf, in Dottore Lappes Gesang einzustimmen. Außer Zimmermann und seinen Musketieren, Hakala-Holappa und dem schmetternden Doktor standen nur noch Johanna Riese und Kempowski im lockeren Halbkreis um das Grab herum. Im sehr lockeren, lichten. Die anderen Ahrenshooper hatten sich entschuldigen lassen, Geschäftigkeiten vorgeschoben und auf die immer näherkommenden Eröffnungsfeierlichkeiten verwiesen. Dafür waren umso mehr Zaungäste erschienen, allen voran diverse Pressevertreter, ein paar Radiojournalisten sowie das Team eines privaten Fernsehsenders. Die sich aber in respektvollem Abstand hielten. Noch. Außerdem schlenderten auffällig viele Einheimische aus Born und den angrenzenden Ortschaften den Kirchweg entlang. Und das, obwohl es inzwischen zu nieseln angefangen hatte.
Zimmermann fröstelte. Von Richard Sonntags Schirm, den jener fürsorglich über den kahlen Schädel seines Chefs und Freundes hielt, tröpfelte es. In schöner Regelmäßigkeit. Stete Tropfen. Die erstaunlicherweise stets jene schmale Lücke zwischen Mantelkragen und seinem faltigen Hals fanden. Und das obwohl er mehrfach seinen Standort ein wenig verändert hatte, ein zwei Schritte nach links, dann wieder nach rechts. Und nach vorn. Sonderbar.
Ebenso sonderbar wie die Tatsache, dass ihn der Tod Hans von Wustrows noch immer nicht berührte. In keinster Weise. Er spürte nichts. Keine Betroffenheit. Keine Genugtuung. Nicht einmal Beruhigung. Das war ihm schon während des Telefonats mit Hakala-Holappa aufgefallen. Diese Unberührtheit. Sicherlich hatte er dennoch umgehend nach dem Gespräch zum Aufbruch geblasen und bereits am nächsten Morgen war die Viererbande aus Bad Warmbrunn abgereist und am späten Abend in Born eingetroffen. Wie gewohnt sicher und souverän von Richard Sonntag chauffiert.
Auch wenn Zimmermann diese vorzeitige Heimkehr seinen Gefährten gegenüber vorrangig mit der Sorge um Lore Bradhering begründet hatte, war ihm im tiefsten Inneren gewahr, dass auch dies nur vorgetäuscht war. Er wollte einzig und allein zurück auf den Darß, die Halbinsel, um Olaf Hegerdorp nachzuspüren. Obgleich er noch nicht recht wusste, wie er das bewerkstelligen, wo er anfangen sollte.
Er wusste nur, dass er es musste. Allein schon, weil ihm Hegerdorp seit ihrem vermeintlichen Wiedersehen jede Nacht in seinen Träumen begegnete. Die alles andere als schöne Träume waren.
»Träumst du, Zimmermann? Es ist vorbei. Wir wollen gehen. Besser gesagt, wir sollen.« Richard Sontag ließ den Freund für einen kurzen Moment richtig im Regen stehen. Ging zwei, drei Meter voraus. Mitsamt Schirm. Zimmermann erwachte in der Gegenwart. Tatsächlich! Die triste Zeremonie war überstanden. Lore verzichtete zudem darauf, am offenen Grab die Kondolenzen der handverlesenen Teilnehmer entgegenzunehmen. Die sich nun, eines solchen obligaten dramaturgischen Fixpunktes beraubt, etwas unsicher umschauten und ohne rechte Ordnung Richtung gähnender Grube stolperten. Dort wählten nahezu alle die kleine Schaufel und ließen Bröckchen bereits durchnässter Erde auf den Sarg niedertrommeln. Nein, für Hans von Wustrow sollte es keine roten Rosen regnen. Lediglich Bernhard Gutzeit machte eine Ausnahme und holte ein kleines Stück Holz aus der ausgebeulten Tasche seines schwarzen Anzuges. Eines seiner kleinen Kunstwerke, auf dessen Oberseite er einen kleinen Korb herausgeschnitzt hatte, wie Zimmermann später von Kempowski erfahren