Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


Скачать книгу
setzte sich anschließend fort. Denn die ungastliche Pensionswirtin hatte überdies beschlossen und energisch verkündet, dass es keinen Leichenschmaus geben würde. »Keinen Kaffee und keinen Streuselkuchen. Kein Süppchen. Und erst recht keinen Doppelkümmel. Weder bei Petersson noch im Walfischhaus. Noch sonstwo. Und bei mir schon gar nicht. Das hat er nicht verdient!«

      Ach ja, die »schöne Laich« in Peterssons Hof-Café, damals nach Tante Wilhelms Trauerfeier! Zimmermann dachte gerne an das gesellige Beisammensein zurück. An seine Plaudereien mit den Damen. Den alten, sehr alten. Den Scherzen. Doch Omi Marzahn war ja nun auch nicht mehr. Aber – Zimmermann war urplötzlich hellwach – wie hieß denn ihre Freundin noch mal, die sich ins Gespräch eingemischt hatte und noch recht genau über die Zeiten während des Zweiten Weltkriegs erzählen konnte? Irgendetwas Richtung Ingeborg, Hildburga, Brunhilde, oder so. Eben ein seinerzeit typischer Name für ein Mädel, das im BDM gewesen war. Und womöglich ein Auge auf so einen schmucken, ansehnlichen Hitlerjungen wie Olaf geworfen hatte. Zimmermann war sich mehr als sicher, dass der heranwachsende Hegerdorp dem damaligen Ideal eines kernigen deutschen Jungen perfekt entsprochen haben musste. Blond, groß, drahtig, durchtrainiert. In summa stattlich. Abgesehen natürlich von den beiden Ausrufezeichen auf den Innenseiten seiner Oberschenkel. Die er ihm zu verdanken hatte, ihm, dem kleinen Judenbengel.

      Ja, diese nette ältere Dame war ein Ansatzpunkt. Wenn ihm bloß der Name einfallen würde. Vielleicht könnte ihm Lore auf die Sprünge helfen, womöglich einen Kontakt vermitteln? Ohne dass er zu viel von seinen Gründen für sein Interesse preisgeben müsste. Er scheute sich immer noch, selbst seinen Vertrauten und Freunden gegenüber von der unheilvollen Begegnung mit den Schatten der Vergangenheit zu erzählen. Vielleicht fürchtete er, seine Souveränität einzubüßen, seine durch weise Gelassenheit gekennzeichnete Position gegenüber der Geschichte, der deutschen ebenso wie jener seines Volkes, dem er spätestens seit dem Beschluss der »Nürnberger Rassengesetze« im September 1935 wohl doch anzugehören schien. Daher mied er seit ihrer Rückkehr auch längere Gespräche mit Kempowski ebenso wie mit Hakala-Holappa. Sowie eigentlich auch mit Lore Bradhering.

      Nun hielt er dennoch suchend nach ihr Ausschau. Die Herrin des Kuhfußes hatte sich aber inzwischen bei Bernhard Gutzeit untergehakt und wandelte mit ihm über die Weiten des Friedhofes. Sicherlich wollte sie ihm, dem Experten für Sepulkralkultur, die Gräber ihrer eigentlichen Familie zeigen. Und womöglich sogar noch etwas länger mit ihrem neuen Favoriten zusammen sein. Was Zimmermann prinzipiell durchaus recht war und zupasskam.

      Daher beschloss er, sich noch etwas in Geduld zu üben. Außerdem war ihm kalt. So beeilte er sich, Richard Sonntag einzuholen. Den einzigen Menschen, den er momentan um sich haben konnte. Weil Sonntag grundsätzlich keine Fragen stellte. Wenigstens keine persönlichen. Zudem stand ihm der Sinn nach wärmender Sitzheizung und einer kleinen Spritztour, an deren Zielpunkt ein heißer Grog wartete. Oder wenigstens ein Tee. Mit Rum.

      Er entdeckte Sonntag in einer der vorderen Gräberreihen nahe des Eingangs. Dort war er vor einem noch recht frischen Grab stehengeblieben und unterhielt sich mit einem rundlichen, mittelalten Herrn in grüner Montur. Mutmaßlich der Friedhofsgärtner.

      Zimmermanns Vermutung bestätigte sich, als er näherkam. Der Mann in Grün schimpfte wie ein Rohrspatz, wies aufgebracht und wiederholt auf ein merkwürdiges Gebilde, das mitten zwischen Kränzen, bereits angewelkten Blumensträußen und Gebinden lag. Beziehungsweise thronte. Denn es war anscheinend hochkant in das Erdreich gesteckt worden. Auffällig erschien ihm besonders, dass der nicht genauer zu erkennende Gegenstand mit rotweißem Trassierband umwickelt, verknotet war, das in mehreren Enden fast froh im Nieselwind flatterte.

      »So ein Schiet! So eine Schande! Dabei ist der Wolfgang noch keine Woche unter der Erde. Seitdem finde ich jeden Morgen wieder so einen perversen Mist hier auf seinem Grab. Wenn ich den erwische, Richard, das kannste mir glauben, der kriegt so eine Abreibung von mir, dass er das in Zukunft sein lässt, diese Drecksau. Da kannste einen drauf lassen.«

      Richard Sonntag nickte zustimmend. Fasste nach. »Da hast du recht, Conny, das sieht wirklich nicht schön aus. Aber um was für einen »perversen Mist« handelt es sich denn da genau?« Zimmermann hingegen hörte nur mit halbem Ohr zu.

      »Na, um tote Viecher, Richard. Mal ein plattgefahrener Igel. Mal ein Flügel von ’ner Möwe. Mal ’ne gemangelte Kreuzotter. Solchen Krams eben. Eine vertrocknete Ratte war auch schon dabei. Und ein Kopf von einem Hirschkalb. Halb verwest. Mit Maden drin. Echt eklig. Allein die Augen. Obwohl ich ja ansonsten einiges abkann, so rein aus Berufsgründen. Aber dieser Wahnsinnige … Das geht überhaupt nicht. Schon gar nicht auf meinem Friedhof. Und alles in dieses Flatterband eingewickelt. Richtig fest verschnürt. Kreuz und quer verwurschtelt. Wie so eine olle Mumie. Der ist doch krank. Total krank. So einer gehört weggesperrt.«

      »Sicherlich ein bedauerlicher Vorfall, ein schändlicher Frevel. Leider müssen wir jetzt weiter …« Zimmermann räusperte sich. Hoffte, dass Sonntag sein Signal verstanden hätte. Der jedoch war neugierig geworden. »Und was meinst du, was in diesem … nun ja, … Paket ist? Willst du’s nicht mal aufmachen?«

      »Warum machst du das nicht selbst? Ich habe langsam die Schnauze voll von diesem Schiet. Hier!« Conny warf Sonntag zwei Arbeitshandschuhe zu. Eine große Gartenschere folgte. Gereicht. Sonntag ließ sich nicht zweimal bitten und bugsierte das mysteriöse Gebilde zunächst auf den Weg und machte sich sogleich ans Werk. Leise fluchend, da die Verschnürung wirklich sehr sorgfältig ausgeführt worden war. Sonntag fuhrwerkte wie ein Chirurg bei einer Notoperation, bis er endlich eine Öffnung eingeschnitten hatte. Aus der sogleich Fliegen ans düstere Tageslicht krabbelten. Frisch geschlüpft. Sich flugs die Flügelchen putzend, um in die Welt zu entfleuchen. Zimmermann schluckte ersten Ekel herunter.

      Sonntag war jedoch jetzt in Rage gekommen. Zerrte. Schnippelte. Riss am Bandsalat. Und förderte schließlich einen Lauf hervor. Einen Hinterlauf. Rötlichgraue Haare. An denen diffuse angetrocknete Flüssigkeiten klebten. Sämig. Vermutlich Gedärm. Sowie eingesprenkelter Schottersplitter. Fast stolz hielt er das Stück Aas in die Höhe. Wedelte damit herum. »Na, wen haben wir denn da? Erkennst du ihn wieder, Zimmermann?«

      »Ja, ich schätze, das …« Er bemühte sich, flach zu atmen. Wollte dem Freund nicht das fragwürdige Vergnügen verderben. Schluckte abermals. Säuerlichkeit hinunter.

      »… gehört zu diesem Goldschakal, der uns im letzten Herbst schon einmal begegnet ist. Da zwischen Prerow und Wieck. Kurz hinter der Kurve. Du hast ja …«

      »Zwischen Prerow und Wieck?« Conny fiel ihm ins Wort. »Komisch, dort ist auch der Wolfgang gestorben. Also der hier …« Er wies auf das frische Grab vor ihnen. »Am 12. Mai erst. Ist mit seinem Motorrad ins Schlingern geraten. Glatteis. In eben dieser beschissenen Ellenbogenkurve. Und dann über die Planke. Mitten innen Wald. Obwohl der die Strecke eigentlich in- und auswendig kannte. Außerdem war er ja auch noch Fahrlehrer. Jetzt isser trotzdem tot. Merkwürdige Geschichte. Zwischen Prerow und Wieck. Ob das irgendwie zusammenhängt?«

       6. Parafroneta pilosa

      »Also diese Kurve zwischen Wieck und Prerow hat es wirklich in sich. Diese Ellenbogenkurve. Ist schon einiges passiert. Böse Unfälle. Aber dass es den Wolfgang Tiedje da erwischt? Wirklich merkwürdig. Hab das nur am Rande mitbekommen. Wir waren ja unterwegs. Doch, das finde ich mehr als merkwürdig. Kam doch aus der Gegend der Bursche, aus Pruchten, glaube ich. Feiner Bengel war das. Ganz feiner Bengel. Hat früher sogar Rennen gefahren. Speedway und so. Dass so einer sich von ein bisschen Glatteis aus der Bahn werfen lässt? Unglaublich. Das ist so, als wenn sich ein Frisör beim Rasieren das Ohr abschneidet und daran verblutet. Guck mal, gleich sind wir da.«

      Richard Sonntag sprudelte wie ein Wasserfall. Derweilen der Regen mit nahezu gleicher Intensität gegen die Frontscheibe prasselte. Zimmermann war es gleich. Er war nur froh, dem Friedhof entkommen zu sein. Den Freunden, ihren unausgesprochenen Fragen, traurigen Frageblicken. Er hatte sich knapp rundum entschuldigt: »Wisst ihr, mir geht es nicht so gut. Das Wetter, der Regen, das Alter …« Und hatte sich dann mit seinem Fahrerfreund durch die Phalanx der Medienvertreter geschlagen. Widerwärtig. Wie nach so einem großen Prozess. Wie die Schmeißfliegen


Скачать книгу