Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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irgendeine weitere Spur von Antoni Libuda, Maler und Mörder, Fremdarbeiter und Fälscher aus Zielonki zu finden, ließ ihn immer noch nicht ganz los.

      Der Vorschlag, das einstige Hirschberg und speziell den Stadtteil Bad Warmbrunn – heute Jelenia Góra und Cieplice Śląskie-Zdrój – zu besuchen, war von Richard Sonntag gekommen. Als Referenz gegenüber Hans-Emil Oberländer, einem weiteren Maler der zweiten Ahrenshooper Künstlergeneration und Ehemann von Doris Oberländer, die unter anderem die Ahrenshooper Kirche ausgestaltet hatte. Oberländer, kurz zuvor noch im Alter von 59 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen, war Ende Dezember 1944 in einem schlesischen Lazarett in Warmbrunn verstorben und Sonntag empfand es angemessen, ihm durch ihren Besuch die Ehre zu erweisen.

      Zimmermann hatte die Anregung begrüßt, zumal er auch mit dem Riesengebirge Kindheitserinnerungen verband. Schneekoppe und Mädelsteine. Märchenbauden und Rübezahl, der launische Berggeist, vor dem es ihm damals arg gegraust hatte. Dass ihm hier in Gestalt von Olaf Hegerdorp ein ganz anderes Gespenst aus der Vergangenheit begegnen würde, hatte er wahrlich nicht gedacht.

      Er war sich noch unschlüssig, ob er seinen Freunden von seinen Beobachtungen erzählen sollte. Kurz überlegte er, Clauert um eine Sobieski zu bitten, die jener in Polen bevorzugt rauchte. Verwarf dies aber und griff stattdessen zum jüngsten Werk Gutzeits, das jener gerade vollendet und auf den Tisch gelegt hatte. Nachdenklich betrachtete er die filigrane Schnitzerei, strich über die Oberfläche, die eine Windmühle schmückte. Nickte Respekt.

      »Das soll die aus Ahrenshoop sein. Die hat ja der Oberländer auch gemalt, wie Sonntag erzählte.« Gutzeit sonnte sich in der vermeintlichen Anerkennung, die Zimmermanns Blick für ihn ausdrückte. »Wie eine Tür«, bemerkte dieser. »Nur ohne Klinke«, fiel Clauert ein. »Die letzte Tür braucht keine Klinke. Und kein Schlüsselloch. Da möchte keiner durchlinsen.« Seine tiefsinnigen Ausführungen wurden von Zimmermanns Smartphone unterbrochen.

      Zimmermann fand es überraschend schnell, meldete sich knapp und angespannt. Lauschte. Verfinsterte seine Miene. Antwortete kurz angebunden. »Ja.« – – – »Gut, beziehungsweise nicht gut.« – – – »Verstanden. Ja. Wir werden es versuchen.« – – – »Doch, sicher. Und wenn es nur wegen der guten Lore ist.« – – – »Ja, tschüss. Bis bald.« Dann kappte er die Verbindung. Steckte das Gerät in die Innentasche seines Leinenjacketts. Sah noch faltenreicher aus als jenes edle Gewand. Wandte sich schließlich an die Ritter seiner Tafelrunde. »Das war Hakala-Holappa. Hans von Wustrow ist tot.«

       4. Agelena labyrinthica

      Wilhelm Hakala-Holappa wurde vom Flieder geweckt. Dessen Schwersüßduft durch das offene Flügelfenster seines Arbeitszimmers schwebte. Hereingeweht vom Mondenschein. Er musste eingenickt sein. Eingeschlafen. Mit dem Hörer seines greisenalten Telefons in der Hand. Ein ehrwürdiger Apparat: Bakelit, Ringelschnur und das ehrliche Klingeln aus vergangenen Klangkosmen: Firma Hesselbach. Der Kommissar. Stahlnetz. Das Fenster zum Hof.

      Der Psychologe und Profiler mit finnischem Vater und Mama aus der Schweiz liebte sein Delifon, schleppte es seit Jahrzehnten von Wohnung zu Wohnung, Land zu Land, Stadt zu Stadt. Wobei sein gegenwärtiger Wohnsitz Born am Darß eher als Ortschaft zu bezeichnen war. Zu später oder früher Stunde durchaus auch als Dorf. Wilhelm lauschte durch die Schemen der Bäume und Büsche des Gartens in die Nacht. Kein Mensch war zu hören. Kein menschlicher Laut. Keine Musik. Kein Auto. Lediglich ein paar schlaflose Rinder vom nahen Gut zählten muhend Schäfchen. Und Wotan, der hochsensible Rauhaardackel der gegenwärtigen Feriengäste in der benachbarten Alten Gärtnerei, ließ sich knurrbellend von Lisbeth ärgern, dem fuchsroten Kater, der inzwischen zum Hausstand von Hakala-Holappa und seinem Mann Matti gehörte.

      In erinnerndem Erwachen hob er den Telefonhörer, schaute in die kleinen Öffnungen der Ohrmuschel wie in einen Spiegel und nahm den Verwunderungsfaden wieder auf, der ihn nach dem Gespräch mit Zimmermann wohl in den Schlaf gesponnen hatte. Warum nur war der Freund so kurz angebunden gewesen? Warum hatte der ansonsten zumeist freundliche, konziliante, höfliche alte Mann so unwirsch auf die Nachricht vom Tod Hans von Wustrows reagiert?

      Sicherlich, das Verhältnis zwischen Zimmermann und von Wustrow war ein besonderes. Vor allem fühlte sich der Anwalt aus Halifax bis heute verantwortlich für dessen Taten. Außerdem war er von ihm persönlich angegriffen und lebensbedrohlich verletzt worden. Und Hakala-Holappas nicht nur berufsbedingtes Interesse für das »Mini-Monster vom Darß«, wie jenen einst die BILD-Zeitung beschlagzeilt hatte, teilte er auch nur sehr bedingt.

      Trotzdem hatte er insgeheim etwas mehr Interesse erwartet. Neugierige Fragen, das ein oder andere Nachfassen, Nachhaken. Gut, der Tod Hans von Wustrows war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Geheimnis. Er war einfach an den Folgen seiner starken Unterkühlung und der anschließenden Lungenentzündung gestorben, die er sich im vergangenen November bei seiner Flucht in die Ostsee zugezogen hatte. Seiner Flucht, die für Hakala-Holappa schon damals deutliche Anzeichen eines Selbstmordversuches aufgewiesen hatte. Eines Versuchs, dessen Vollendung ihm nun jetzt schlussendlich geglückt war.

      Was von Wustrow in den ersten Tagen nach seiner Errettung energisch geleugnet hatte und stattdessen von Meerjungfrauen fantasierte, die ihn zum Tanze in den Wellen baten und zu sonstigen Verheißungen einluden. Doch die Phase seiner Redseligkeit war von kurzer Dauer gewesen. Bedauerlicherweise. Wenige Tage und Gespräche später zog er sich wieder in seine bekannte Sprachlosigkeit, sein Schneckenhaus des Schweigens zurück. Allerdings war er nicht gänzlich sprachlos geblieben, sondern hatte in den folgenden Monaten zwischen Klinik, JVA und geschlossener Abteilung, zwischen Prozessunfähigkeit, Prozessbeginn und wiederholter Prozessunterbrechung neue, eigene Formen des Ausdrucks entwickelt, weiterentwickelt.

      Denn als ob er nun das Erbe seines Vaters Antoni Libuda angetreten habe, widmete sich Hans von Wustrow in seinem letzten Lebensabschnitt der Kunst. Geradezu besessen. Anfänglich mit den Fingern und alltäglich verfügbaren Flüssigkeiten wie Kaffee, Kirschsaft oder Ketchup begann er auf den unterschiedlichen Untergründen wie Servietten, Zeitungen, Handtüchern oder Bettlaken seine wundersamen Bilderwelten zu zaubern. Wobei es überwiegend Vögel waren, denen er so neues Leben schenkte. Später, nachdem von verschiedenen Gutachtern versichert wurde, dass inzwischen keine Gefahr mehr von ihm ausgehen würde – weder für andere, noch für sich – setzte er seine Arbeiten mit regulären Materialien fort. Dabei wurde er insbesondere von Dr. Johanna Riese unterstützt und gefördert, die von Wustrows Werke überaus schätzte und ihnen beachtliches künstlerisches Niveau bescheinigte.

      Die ansonsten eher reservierte und rational handelnde Kunstwissenschaftlerin ließ sich in ihrer Begeisterung sogar soweit hinreißen, Hans von Wustrow als ersten Stipendiaten für den Partikel-Hof vorzuschlagen. Was jedoch von den anderen Mitgliedern des Stiftungsvorstands abgelehnt wurde. Kategorisch. Allein schon aus Gründen der Pietät. Aber auch, weil ein anderer Kandidat, ebenfalls ein Künstler des Art brut, mehr Zustimmung fand. Dieser Bastian, den wiederum die Keramikerin Ann-Kathrin Seegers unter ihre Fittiche genommen hatte, beeindruckte zusätzlich durch sein freundliches Wesen und seine liebenswürdige Ausstrahlung; ungeachtet dass er ebenfalls offenkundig psychisch verstört war und auf eine traurige Lebensgeschichte zurückblicken musste. Ein Tor auch er, allerdings ein reiner.

      Diese ablehnende Haltung des restlichen Vorstands gegen Rieses Vorschlag beeinträchtigte das zuvor über Monate hinweg nahezu harmonische Betriebsklima im Team des neuen Museums negativ wie nachhaltig. Daran konnte auch der doch eigentlich glückliche Umstand nichts ändern, dass Hans von Wustrow kurze Zeit vor seinem Tod tatsächlich eine Art Testament verfasst hatte, in dem er dem Partikel-Hof das Œuvre seines Vaters vermachte. Hakala-Holappa war darüber nicht nur hoch erfreut, sondern der kleine, zerknitterte und bekleckste Zettel, den ihm von Wustrow vor gut zwei Wochen bei einem seiner Besuche in die Hand gedrückt hatte, erfüllte ihn auch mit ein wenig Stolz. War doch das zwar kryptisch anmutende, in der Aussage dennoch unzweifelhafte Textlein an ihn adressiert:

      Für Wilhelm. Den Till.

      Der verlorene Sohn. Trug durch die Wüste.

      Seinen Schatz. Das Bild des Vaters. Seine Bildnisse. Die er nun reicht. Aus der Finsternis.

      Den


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