Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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Garten sang‹ erwarteten das Publikum dort Arbeiten des Landschaftsmalers zu seinen drei Kindern Barbara, Adrian und Cornelia sowie dem Motivkreis Familie. Begleitet und kongenial akzentuiert von Zeichnungen, Skizzen, auch plastischen Arbeiten von Gerhard Marcks zu diesem Thema, der ein enger Freund Partikels gewesen war. Eine schöne Präsentation, in diesem Punkt war sich nicht nur Kempowski sicher. Harmonie mit einer Spur, einem Schatten Melancholie. Auf jeden Fall ein Besuchermagnet. Und garantiert konfliktfrei.

      Für das ambitionierte Experiment Ann-Kathrin Seegers befürchtete er das Gegenteil. Sicherlich. Ihm gefielen die krausen Gedankengänge Bastians. Sein verschrobenes wie verschobenes Spiel mit Schein und Sein, Aura und Karma, Wesen und Wirklichkeit, Täuschung und Enttäuschung. Gerade, weil Bastian die Definitionen spiegelte und bekannte Denkmuster durcheinander pustete. Doch es mangelte Kempowski dann schon an Fantasie und Vorstellungskraft, um sich das wahre Wesen von Gebilden wie zum Beispiel dieser ausgedienten Betonmischmaschine zu visualisieren, die der Künstler gerade in eines seiner Zauberzelte schob. Da waren ihm die frühen Arbeiten näher, diese eingewickelten, verschnürten, verwebten und in anderen Techniken verpackten Dinge des Alltags, von denen er bislang nur Fotos gesehen hatte.

      Auch der dahinterstehende Gedanke, dass Bastian diese Objekte durch seinen Eingriff vor den Blicken anderer Menschen schützen, beziehungsweise sie vor einer Nutzung gemäß ihrer eigentlichen Funktion bewahren wollte, gefiel ihm. Das war schön verquer. Unnütz. Irrational.

      Wie ihm die Seegers erzählt hatte, fand Bastian wohl als Jugendlicher zu dieser Ausdrucksform. Etwa im Alter von 16, 17 Jahren. Damals befand er sich in Stralsund, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seine Eltern und seine jüngere Schwester Irmela waren einige Monate zuvor bei einem Fluchtversuch mit einem Fischerboot in der Ostsee ertrunken. Bastian hatte überlebt und war nach einigen Wochen in der Klinik wieder zurück ins Elternhaus in Pruchten gekommen, wo noch die Großmutter lebte. Ann-Kathrin hatte das Drama seinerzeit mehr oder weniger miterlebt, da sie nur ein paar Häuser entfernt aufgewachsen war und die Familie kannte. Bastian war schon vor der Tragödie ein merkwürdiger Junge gewesen, der viele Probleme in der Schule und im sonstigen Leben hatte. Seine Sonderbarkeit war letztendlich der ausschlaggebende Grund für die geplante Republikflucht gewesen. Ungeachtet seiner sich nach dem Unglück immer mehr verstärkenden Verschlossenheit war er sich dieses Zusammenhanges bewusst. Hatte sich schuldig gefühlt. Und schließlich versucht, sich umzubringen. Aufzuhängen. Die vollkommen überforderte Großmutter konnte ihn zwar noch in letzter Minute retten, hatte dann jedoch schweren Herzens seiner Einweisung in eine Einrichtung zugestimmt.

      Dort hatte er dann begonnen, seine wenigen Besitztümer mit zerrissenen Bettlaken einzuwickeln. Sein erstes Werk war wohl sein Kinderbesteck gewesen, das ihm seine Oma einst zur Geburt geschenkt hatte und an dem er sehr hing. Ein Löffel, ein Messer, eine Gabel. In einfacher Ausführung. Mit kleinen Tierchen. Im Griff eingeprägt. Ein Bienchen. Ein Schmetterling. Und ein Marienkäfer. Die Schwestern hatten das zunächst unterbunden. Natürlich. Normal war ein solches Verhalten ja nicht. Und ihm das Besteck abgenommen. So folgte als nächstes sein Sandmännchen. Und die gleiche Reaktion von Seiten des Personals. Als er nach einigen Wochen keinerlei Spielzeug oder sonstiges besaß, begann er, sein Bett, den Nachtschrank und schließlich sich selbst dergestalt zu »mumifizieren«, wie es in seiner Krankenakte vermerkt worden war. Ein beschissenes Schicksal.

      »Ein Rätsel für Herrn Andreas. Was ist das?« Das nun vor ihm stand. Breitbeinig. Kraftvoll. Fröhlich. Kempowski hatte gar nicht mitbekommen, dass Bastian sein Werkstattzelt verlassen hatte. Den Garten durchschritten. Nun vor ihm stand. Angesichts dessen, was er über den Leidensweg des Jungen, jungen Mannes durchs Leben, durch Psychiatrien, Heime, Jugendwerkhof und sonstige Anstalten wusste, wunderte es ihn immer wieder, wie gesund und natürlich Bastian wirkte.

      Der nun sein Fragespiel fortsetzte »Was ist das? Das kleine Ding plumpst ins Meer. Das große Tier schnappt zu. Schluckt es herunter. Was ist das?« Kempowski musste unwillkürlich an Kaspar Hauser denken. An die grandiose Verfilmung von Werner Herzog. Mit dem unvergleichlichen Bruno S. als Findling. Der ja auch irgendwo aus der Ecke von Asperger kam. Sein Verwandter im Geiste streckte ihm nun seine Hände entgegen. Kräftige Werkzeuge. Geschlossen. Auf den braun gebrannten Handrücken kräuselten sich rote Härchen. Kempowski spielte mit. Schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin nicht so gut im Raten.« Und freute sich nun an der Freude des Fragestellers. »Eine Walnuss, Herr Andreas. Der Kern des Walfisches ist die Walnuss. Denn das Kleine ist größer als das Große.« Glucksend drehte Bastian seine Hände um. Öffnete sie. In seiner linken Handfläche lag eine taube Nuss. Mit Loch. Von einem Siebenschläfer angeknabbert. Er reichte sie Kempowski. Die andere, frische Walnuss nahm er selbst. Knackte sie. Ein kräftiger Biss. Strahlend weißer Zähne.

       8. Urocoras nicomedis

      Die Möwe fixierte Zimmermann. Genauer gesagt das Gebäckstück in seiner Hand. Entschied dann aber, dass es sich hierbei weder um ein Fischbrötchen – am liebsten mochte sie Matjes – noch um ein Schälchen mit Backfisch handeln würde. Verzichtete daher auf einen Angriff. Verharrte aber weiterhin auf ihrem Posten. Dem Poller. Eine weise Entscheidung. Für beide.

      So konnte Robert Aaron Zimmermann sein Teilchen weiterhin ungestört genießen. Seinen Wiecker Wickel, Walnusswickel. Die Spezialität der Wiecker Backstube. Von deren Inhaberin Zimmermann vor einer guten halben Stunde nicht nur ein Tütchen mit vier dieser kleinklebrigen Köstlichkeiten erstanden hatte. Frau Tanja hatte ihm auch die Telefonnummer von Holger Baum zukommen lassen. Und erfreulicherweise hatte er den Wiecker Ortchronisten sogleich erreicht. Nicht nur das. Baum hatte sich auch zu einem Gespräch unter vier Augen bereit erklärt und als Treffpunkt den kleinen Hafen des Jachtclubs am Ende des Johann-Segebarth-Weges vorgeschlagen.

      Nun wartete Zimmermann gespannt. Schaute den Möwen zu, den emsig flatternden Schwalben sowie einer Handvoll Segelschiffe und kleiner Motorboote, die im sanft kräuselnden Boddenwasser vor sich hin dümpelten.

      Richtig aufgeregt war er. Endlich würde er mehr über den Darß unterm Hakenkreuz erfahren. Seine weiteren Versuche, den Herrn von Stenglin zu erreichen, waren leider erfolglos geblieben. Er weilte zur Erholung in der Karibik. Wo er weder telefonisch noch via E-Mail zu erreichen war. Beziehungsweise erreicht werden wollte. Wie Zimmermann von dessen Sohn erfahren hatte. Herr von Stenglin wollte einmal andere Wellen sehen. Ungestört.

      Gleiches galt für Hildegard Fretwurst, seinem zweiten Strohhalm der Erinnerung. Zwar hatte ihm Lore Bradhering bereitwillig Namen und Adresse der letzten noch lebenden Freundin ihrer Tante Wilhelm mitgeteilt. Nur vergnügte sich auch die »wilde Hilde«, wie sie Lore mit einem bezeichnenden Augenaufschlag nannte, fernab der heimischen Gefilde. Die muntere Dame kreuzte an Bord der AIDA auf der Hurtigruten durchs Nordmeer. Bemerkenswert, je oller, desto doller. Unter den betagteren Eingeborenen schien es einen gewissen Hang zu Fernreisen zu geben. Senile Nestflucht, sozusagen.

      Eine Fahrradklingel unterbrach seine Gedankenspielereien. Er drehte sich um. Erkannte den Heimatkundler mit der Prinz-Eisenherz-Frisur, der auf klapprigem Drahtesel über die Wiese gerumpelt kam.

      »Morgen, Herr Zimmermann, dann wollen wir mal in See stechen! Zur kleinen Zeitreise durch den braunen Sumpf.« Behände sprang Holger Baum vom Rad. Lehnte es leger an eine Laterne. Verzichtete auf irgendeine Sicherung. Wechselte dann das Gefährt. Und begann die diversen Taue eines nussschaligen Seelenverkäufers zu lösen.

      Zimmermann beschlich ein mulmiges Gefühl. Auf eine Seereise war er nicht vorbereitet. Nur gut, dass er erst einen der Wiecker Wickel verspeist hatte. Und wenigstens musste er nicht an Bord eines Seglers seinen Mann stehen. Der in einem solchen Falle mit Sicherheit ein Klabautermann werden würde. Mit zaghaften Schritten näherte er sich über den schmalen Steg dem urigen wie uralten Boot in Blaugelb. Kletterte etwas unsicher über die Reling. Ergriff Baums Hand zur Hilfe wie zum Gruße.

      »Willkommen an Bord der KUBA, einst von mir und anderen Lehrlingen der ehrwürdigen Bootswerft Kraeft in Eigenarbeit geschaffen. Hier vorne gleich. Einer der letzten Erben der einst ruhmreichen Wiecker Werftentradition. Wussten Sie in diesem Zusammenhang, dass Wieck im frühen 18. Jahrhundert mehr Schiffe als die große Stadt Barth unter Segeln hatte? Ja, hier lief so einiges. Nicht nur vom Stapel. Doch, setzen


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