Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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ist dann Martha Müller-Grählert gestorben. Ist das nicht sonderbar? Wie so alles zusammenhängt … Doch …«

      Die drei Männer wurden langsam ungeduldig. Konnten den einladenden Aromen kaum noch widerstehen. So erlöste sie die Gastgeberin. Endlich.

      »Laat jo nich lang nödigen!«

      Das ließen sich die drei Hungerherren wahrlich nicht. Sie legten los. Füllten Teller. Leerten sie. Genossen Wein, Grillgut und die subterranen Leckerstangen. Still. Schweigend. Dezent schmatzend.

      Derweilen Elisabeth Müller-Paul weiter plapperte. Natürlich von ihrem Lieblingsthema. Der Bücherwelt. Lobpreiste so wortreich die neue Entdeckung für das Literaturprogramm des Partikel-Hofes: Hans Jürgen von der Wense, eine schillernde wie originelle Universalgelehrtenpersönlichkeit, der zum Freundeskreis der Wustrower Künstlerin Hedwig Woermann gehört hatte. In den Zwanzigerjahren war er oftmals auf dem Fischland, durchwanderte die Halbinsel, bevorzugt in den Wintermonaten, und arbeitete eine Zeitlang vor Ort, wo ihm Woermann und ihr Künstlergatte Johann Jaenichen in der alten Fischräucherei in Barnstorf Arbeitszimmer und Unterschlupf eingerichtet hatten.

      Müller-Paul war vollkommen fasziniert von diesem Paradiesvogel, der zeitlebens keinem offiziellen Beruf nachgegangen war, dafür aber als Komponist, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Übersetzer höchst exotischer Sprachen einen ganz eigenen Kosmos geschaffen hatte. Sie bezeichnete ihn als »Mystagogen«, als Priester geheimnisvoller Mysterienkulte. Gerhard Schiffers würde von der Wense zum Eröffnungsspektakel des neuen Museums einen Vortrag widmen und ihn in den folgenden Wochen in mehreren Lesungen vorstellen.

      Kempowski kam nicht umhin, Elisabeths Begeisterung mit etwas gemischten Gefühlen zu registrieren. Schließlich waren sie und der Buchhändler lange Jahre ein Paar gewesen. Er zog es dennoch vor, auf bissige Kommentare zu verzichten, die ihm auf der Zunge lagen. Schiffers doch etwas unstetes Liebesleben lieferte dafür ja genug Stoff.

      Stattdessen ließ er sich das letzte Spargelköpfchen auf der Zunge zergehen und hüllte sich in Schweigen wie freudige Erwartung des Desserts. Ein leichtes Erdbeer-Sorbet.

      Elisabeth holte es gerade aus der Küche, als das Telefon klingelte. Festanschluss. Dennoch mit Marthas Lied von den Ostseewellen als Fanfare. Sie balancierte das Tablett mit den vorgekühlten Schälchen in der einen Hand. Nahm mit der anderen den Hörer ab. Meldete sich flötend. »Elisabeth Müller-Paul. Einen wunderschönen Maientag.« Wenige Momente später nur knallte der Nachtisch aufs Korridorparkett. Scherben klirrten. Erdbeereiskristalle kullerten über den Boden. Und Elisabeths Erschrecken bahnte sich den Weg zur Tafelrunde. Lauthals. »Was? Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein! Eine Leiche? In Zingst? Auf dem Friedhof? Mitten auf dem Grab von Martha Müller-Grählert?«

       10. Araneus stella

      Eine gute halbe Stunde später näherten sich Kempowski und Elisabeth Müller-Paul dem Friedhof der Peter-Pauls-Kirche. Zimmermann hatte darauf verzichtet, sie nach Zingst zu begleiten. Mit neuen Leichen wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Ihm reichte die Leiche im Keller seiner Erinnerung. Stattdessen hatte er angeboten, dass Sonntag und er in Ahrenshoop aufräumen würden, die Spuren des Sorbets entsorgen und auch Klarschiff auf der Terrasse machen.

      So waren die Bibliothekarin und ihr Mann unverzüglich aufgebrochen, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Der Anruf von Herrn Arlt hatte Elisabeth zutiefst erschüttert. Nicht nur, dass es sie empörte, die Grabstelle der von ihr so geschätzten Heimatdichterin dergestalt entweiht zu wissen. Ihr lagen auch die Arlts am Herzen, die sich als geistige Nachlassverwalter mit Leidenschaft und Liebe um das Werk Müller-Grählerts kümmerten.

      »Mist. Pass doch auf, du Hornochse!« Kempowski fluchte. Hupte. Sehnte sich nach einer Zigarette. Wandte sich dann an sein geliebtes Elseken. »Nur Idioten unterwegs. Und kein Parkplatz in Sicht. Ein Auftrieb hier wie beim Hafenfest.« Er hatte recht. Die ohnehin engen Straßen des Seebades waren mit Autos verstopft, die sich alle im Schritttempo scheinbar nur einem Ziel zu nähern schienen – dem Friedhof. Hinzu kamen die obligaten Schwärme von Radfahrern sowie jede Menge Fußgänger. Die Nachricht vom Leichenfund auf dem Grab der Poetin hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und Touristen wie Eingeborene mobilisiert. Allerdings hatte die Polizei das Areal der Begierde weiträumig abgesperrt und etliche Uniformierte eingesetzt, um den Massen der Schaulustigen Einhalt zu gebieten.

      Das erkannte auch Kempowski, der zudem Sorge um seinen Wagen hatte – einen wunderschönen Wartburg in Cabrioausführung und Zweifarbenlack. »Weißt du was? Bevor mir hier noch einer eine Schramme oder Beule verpasst, schlage ich vor, du rufst deinen Herrn Arlt an, wir holen ihn an seinem Standort ab und suchen uns ein etwas friedlicheres Plätzchen, wo er uns alles in aller Ruhe erzählen kann. Am besten, du zwängelst dich schon mal nach hinten auf die Rückbank.«

      »Ich muss mich nicht zwängeln, mein lieber Kemp.« Elisabeth klang beleidigt. Betonte das »Ich« mit Nachdruck. Nutzte dann jedoch einen weiteren Augenblick des Stoppens, um flink die Sitzposition zu wechseln. »Aber dein Vorschlag ist gut. Halt, da vorne steht er ja schon. Huhu, hallo, Herr Arlt, hier sind wir!«

      Der so angerufene ältere Herr wirkte zunächst etwas verwirrt. Schaute sich suchend um und erkannte dann doch Elisabeth Müller-Paul. Zögerlichen Schrittes näherte er sich dem noch immer stehenden Wartburg und kletterte ins Wageninnere.

      »Vielen lieben Dank, Frau Müller-Paul, dass Sie gleich gekommen sind. Auch an Sie, Herr Kempowski. Das ist ja alles so fürchterlich schrecklich, wissen Sie …«

      »Entschuldigen Sie bitte, aber wenn Sie sich noch ein bisschen gedulden möchten. Ich muss mich hier höllisch konzentrieren, damit es keine weiteren Toten gibt.« Kempowski hatte zu einem waghalsigen Wendemanöver angesetzt. Steuerte unter abermaligem Fluchen und Hupen sein Gefährt in entgegengesetzte Richtung. Fort von Friedhof und Unruheherd.

      Nach einigen weiteren Kehren und Haken lichtete sich das Gewusel. Und vorm hübschen Café Rosengarten in der Strandstraße warteten dann tatsächlich ein freier Parkplatz sowie ein ebensolcher Tisch mit drei Stühlen auf sie. Was außergewöhnlich war. Doch der Brennpunkt des allgemeinen Interesses lag nun aktuell anderenorts. Wenige Minuten später saßen sie. Bereits mit der ersten Bestellung versorgt. Drei stillen Wassern. Das Beste bei so viel Tumult.

      »So, nun lieber Herr Arlt, erzählen Sie doch bitte ganz in Ruhe, was genau passiert ist. Möchten Sie nicht doch einen Espresso, vielleicht einen Irish Coffee, ein Stückchen Kuchen? Sie sehen blass aus. Brauchen Sie etwas Süßes? Wegen der Unterzuckerung?« Elisabeth reichte ihm die Karte. Schaute ihn besorgt an.

      »Nein danke, mir ist jeder Appetit vergangen.« Arlt nippte an seinem Wasser. »Aber, das werden Sie gleich verstehen. Also, die Martha, nicht unsere, nein, die Martha Ahlfänger, eine Schulfreundin von meiner Gattin, hat schon allein aufgrund des Vornamens eine besonders innige Beziehung zum »lütten Sparling«, wie wir die Dichterin gerne unter uns nennen. Lütten Sparling, so hat sie sich ja auch selbst bezeichnet, bescheiden wir sie war, die Gute. Aber, zurück. Die Martha kümmert sich daher seit Jahren, Jahrzehnten liebevoll um die Grabstätte, pflanzt, gießt, schneidet alte Blüten ab, harkt die Wege. Ist auch wirklich immer tadellos in Schuss.« Er nahm einen weiteren Schluck.

      »Das macht sie meistens immer schon in aller Frühe. Aller Herrgottsfrühe, der Friedhof wird ja nicht abgeschlossen und die Martha kann nicht mehr so gut und lange schlafen. Und gerade so zu dieser Jahreszeit ist das ein herrlicher Ort. Oft nimmt sie auch noch ein Büchlein mit, liest dem »lütten Sparling« etwas vor …«

      »Sicherlich sehr idyllisch, doch … Stört es Sie, wenn ich rauche?« Kempowski hatte sich eigentlich zurückhalten wollen. Aus Rücksicht auf den arg angeschlagenen Herren. Doch dessen Weitschweifigkeit ließ ihm keine andere Wahl. Er griff zu Etui und Feuerzeug.

      »So, nur zu, nur zu. Haben Sie vielleicht auch eine für mich? Habe zwar vor über dreißig Jahren aufgehört, aber …« Mit etwas zittrigen Fingern nahm er die angebotene Zigarette, benötigte drei Versuche, bis sie brannte, inhalierte ungeübt, musste hüsteln.

      »Danke sehr. Wo war ich stehengeblieben? Genau, bei Martha.


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