Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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Gesprächsthema Nummer eins auf der Halbinsel. Auch in der Pension Kuhfuß. Lore Bradhering ließ keine Gelegenheit ungenutzt, davon zu sprechen und nornenhaft darüber zu räsonieren, dass es nun wieder losginge und sie alle in Gefahr seien. In großer. Sie verließ seitdem das Haus nicht mehr alleine und hatte sich daher für den heutigen Tag Richard Sonntag als Begleiter für diverse Arztbesuche und Besorgungswege reserviert. Zimmermann war es recht gewesen; beschäftigte sich doch auch der treue Gefährte für seinen Geschmack zu intensiv mit dem Mordgeschehen. Gestern Abend hatte er ihm ernsthaft vorgeschlagen, dass das Borner Team auf eigene Faust Ermittlungen anstellen solle, um möglicherweise Ärgerem vorzubeugen. Wo sie doch im vergangenen Herbst maßgeblichen Anteil an der Lösung jener mysteriösen Mordserie gehabt hatten, insbesondere er, Robert Aaron Zimmermann, wertvolle Hinweise liefern konnte.

      Er hatte abgelehnt. Kategorisch. Auf seine eigene, persönliche Mission verwiesen, der er sich ganz und gar mit voller Energie widmen wollte. Der Suche nach Olaf Hegerdorp.

      Ebenso energisch hatte er Holger Baum gebeten, den »Mumienmörder« ruhen zu lassen und zu ihrem eigentlichen Ansinnen zu wechseln: dem KZ-Außenlager Born.

      Ausgangspunkt ihrer kleinen Zeitreise war der Borner Hof am Ende der Schulstraße gewesen. Um 1872 hatte der Kapitän Reinhold Witt an dieser Stelle zunächst einen Kolonialwarenladen eröffnet, den er 1885 zur Gastwirtschaft mit Saal und Fremdenzimmern ausbauen ließ. Unter dem Namen Witt’s Hotel entwickelte sich der Betrieb in wenigen Jahren zum ersten Haus am Platz. Unter anderem ließ sich Prinz Eitel Friedrich, der zweite Sohn des Kaisers, von hier aus mit erlesenen Getränken und Tabakwaren beliefern, wenn er und seine Entourage zur Jagd auf dem Darß weilten.

      In den Dreißigerjahren wechselte der Besitzer und fortan führte Max Albitius die Wirtschaft als Borner Hof. Dem übrigens, wie der Heimatkundige augenzwinkernd anmerkte, Martha Müller-Grählert ein Gedicht gewidmet hatte.

      Im Frühjahr 1944 dann die Beschlagnahmung durch die SS. Die Fenster wurden vergittert und im ehemals von Lachen und Juchzen erfüllten Festsaal zog das Schweigen der ersten Häftlinge ein. Wobei, wie Baum einfügte, bereits vorher in der Alten Oberförsterei vier Häftlingsfrauen untergebracht worden waren. Alle Zeuginnen Jehovas, abkommandiert aus dem KZ-Ravensbrück. Das Forsthaus, das heute das Forst- und Jagdmuseum Ferdinand von Raesfeld beherbergt, sollte später auch noch von ihnen angesteuert werden.

      Zunächst hatten sich Baum und Zimmermann aber auf den Weg zum einstigen Standort der Borner SS-Meilerei begeben. Mitten durch den Ort. Mitten durch den damaligen Alltag der Bevölkerung. So wie mutmaßlich jene Männer damals; anfangs eine relativ kleine Gruppe von 15 Mann, die im September 1944 um gut 100 russische Kriegsgefangene aufgestockt wurde.

      Für den Heimatfreund war es wichtig, den Weg der Häftlinge nachzuschreiten. Jeden Meter. Er hatte das mit Verve begründet. »Sicherlich, die Geschehnisse und Verhältnisse hier vor Ort sind nicht mit jenen in den großen Lagern zu vergleichen. Nicht einmal mit denen in Barth. Doch gerade diese Verankerung mitten im Dorf hat für mich etwas Besonderes. Hier gehörten Faschismus und Unmenschlichkeit zum ganz normalen Leben. Wohnten sozusagen Tür an Tür. Lauerten hinter Gartenzaun, Sonnenblumen und Eibenhecken. Die täglich präsente »Banalität des Bösen«. Wie es auch etliche Aussagen von Zeitzeugen belegen. Hier konnte man nicht wegschauen, von nichts wissen wollen. Das Gedenken daran ist, gerade weil nichts Spektakuläres zu sehen ist, für mich auch ein Bestandteil der Erinnerungskultur. Insbesondere in der gegenwärtigen Zeit.«

      So waren sie vom Borner Hof über Schulstraße und Kurze Straße zum Straßenzug Im Moor marschiert. Dann ein längeres Stück geradeaus. Am Friedhof vorbei. Und dann rechts abgebogen und Am Wald entlang. »Hier müssen Sie sich die Meilerei vorstellen.« Holger Baum hatte auf ein Waldstück vor ihnen gewiesen, das zwischen den beiden Männern und der L21 im Hintergrund lag. »Wobei dies ja die zweite war. Die erste war anfangs bei Bliesenrade. Können wir nachher auch noch hin. Mittelfristig war der Betrieb zu uneffektiv, sodass man direkt an den Darßrand wechselte. Direkt zum begehrten Rohstoff, dem wertvollen Holz. Für dessen Einschlag der überwiegende Teil der Gefangenen zu sorgen hatte. Es ging ja eben auch um wirtschaftliche Interessen.«

      Zimmermann hatte aufmerksam zugehört. In das schöne Stückchen Natur vor sich geschaut. Und versucht, sich Szenen aus jener fernen Zeit vorzustellen, die ihm gegenwärtig sehr nah war. Zu nah. Denn außer hochinteressanten Informationen hatte der Chronist leider auch eine negative Nachricht in seinem kleinen Wanderrucksack. In den erhaltenen Dokumenten zu den SS-Wachmannschaften war kein Olaf Hegerdorp zu finden. Die meisten der eingesetzten Männer kamen zudem nicht aus der Gegend.

      Ungeachtet dieser Enttäuschung fühlte Zimmermann, dass ihn dieser Gang seinem Ziel nähergebracht hatte, bringen würde. Er war ein Stück weiter in die Atmosphäre jener Epoche eingedrungen, spürte den Zeitgeist jener Jahre.

      So hatte er weiter versonnen auf die grünbraune Wand vor ihm geblickt. Impressionen imaginiert. Hatte die Köhleröfen, die sogenannten »Retorten« gesehen. Die arbeitenden Männer in verschlissener Sträflingskleidung und derben Holzschuhen. Russische Wortfetzen gehört. Deutsche Befehle. Bellende Schäferhunde. Und das Lied der schlagenden Äxte und fallenden Bäume.

      Sowie ein sich näherndes Fahrrad, dessen Rumpeln von Singsang begleitet gewesen war. »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …« Und sich genähert hatte. Der Gegenwart entgegen. Zimmermann hatte Ross und Reiter, Gespann und Radler sogleich erkannt: Bastian, den eigenwilligen Künstler und Stipendiaten des Partikel-Hofes. Auf seinem vollgeladenen Anhänger Dung. Von den Rindern des Gutes. Den er wahrscheinlich für eine seiner Arbeiten benötigte.

      »Kennen Sie den?« Holger Baum hatte Bastian kurz, aber freundlich zugenickt. »Komischer Vogel. Doch eine Seele von Mensch. Kümmert sich ganz rührend um das »Russengrab« auf unserem Friedhof. Ganz in der Ecke. Im Armesünderwinkel. Wo im Oktober 1944 fünf Männer verscharrt wurden, die von der SS auf der Flucht erschossen worden waren. Dieser Bursche hat tatsächlich den Gedenkstein gesäubert, die Inschrift erneuert, das Gesträuch beschnitten. Und eine Art Gesteck gebastelt. Aus Stacheldraht, den er um einen alten Löffel gewunden hat. Einen uralten Löffel. Verbogen. Patiniert. Den er hier im Wäldchen ausgegraben haben will. Oh, Entschuldigung …« Baums Smartphone hatte sich bemerkbar gemacht. Diesmal mit der dezenten Melodie der Müller-Grählertschen Ostseewellen. »Meine Mutter …«

      Nach zwei, drei Minuten Wortgewechsel hatte er das Gespräch beendet. Und leider auch die gemeinsame Exkursion. »So ein Mist, tut mir leid, aufrichtig leid. Aber wir haben einen Wasserschaden. Die alte Waschmaschine in der Küche. Da ist irgendein Schlauch losgegangen. Während meine Frau Mama einkaufen war. Jetzt ist Sturmflut in unserer Hütte angesagt. Sorry, aber den Rest des Programms können wir ja die Tage nachholen. Wollen Sie mit zurück zum Borner Hof? Habe dort meinen Wagen geparkt.«

      Zimmermann hatte sich entschieden, noch zu bleiben. Beziehungsweise seinen Fantasien zu folgen. Das Bild vom Löffel hatte ihn angeregt. Zutiefst bewegt. So hatte er sich von Holger Baum dankend verabschiedet, ihm viel Glück im Kampf mit den Wassermassen gewünscht. Und sich in seinen eigenen gestürzt. Ins Unterholz des Waldes.

      Mit stetem Blick auf den Boden war er so durch den Forst gestromert. In der vagen Hoffnung, womöglich auch ein Artefakt zu entdecken. Dem Waldboden zu entreißen. Dem Vergessen. Was ihm jedoch nicht beschieden war. Zudem hatte er sich verfranzt. Die Orientierung verloren. Obgleich er sogar sein Smartphone am Mann hatte. Was ihm jedoch ohne Empfang auch nichts nützte.

      Gut eine Stunde war er so durchs Dickicht gestolpert. Von Mücken zerstochen. Von Farnwedeln gepeitscht. Bestimmt hatte er sich auch noch Zecken eingefangen.

      Endlich hatte sich der Urwald gelichtet und er war an eine Weide gelangt. An dessen Elektrozaun er vorsichtig Richtung Straße weitergegangen war. Die erste Abzweigung von der Bäderstraße nach Born. Höhe Ibenhorst.

      Nun schwitzte er. Kratzte seine Insektenstiche. Fluchte leise. Vor ihm lagen noch mindestens drei Kilometer. Und das bei nunmehr prallem Sonnenschein.

      So besann sich Zimmermann aufs gute alte Hitchhiking. Jene günstigste Form des Reisens, die ihn als Studenten oft durch die Weiten Kanadas geführt hatte.

      Er drehte sich um. Hielt keck den Daumen in die Höhe.


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