Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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dass da etwas auf der Grabstelle steht. Irgendetwas Großes, Weißes, nicht der normale Müll, der da doch mal so landet wie alte Papiertaschentücher, Getränkedosen und so. Als sie dann nähergekommen war, dachte sie zunächst an einen Scherz von Kindern oder Jugendlichen. Wissen Sie, wie bei diesem Halloween-Unfug, da werden ja manchmal Gartenpforten, Laternen, sogar Autos mit Klopapier eingewickelt. Dann jedoch, ein paar Schritte weiter, hätte sie beinahe der Schlag getroffen. Doch, sehen Sie selbst. Denn Martha hat wirklich Courage bewiesen. Und Fotos gemacht. Mit ihrem Smartphone. Hat erst vor Kurzem so einen Kurs gemacht. Im Max Hünten Haus. Wurde ihr von ihrem Enkel spendiert.«

      Herr Arlt nestelte nun sein eigenes Gerät hervor. Wischelte mit Zitterfingern über die Oberfläche. Die gewünschten Aufnahmen erschienen. Die verwünschten.

      »Schauen Sie! Ist das nicht entsetzlich? Hat sie mir gleich geschickt. Noch bevor sie die Polizei angerufen hat.« Müller-Paul und Kempowski schauten wie gebannt auf das Display. Folgten dem Weg der Bilder. Was sie preisgaben, war wirklich entsetzlich. Entsetzlich wie grotesk. Mitten auf dem Grab, inmitten eines kleinen Rondells von platt getrampelten Stiefmütterchen in Blassblau und Schwarzgelb saß eine Person auf einem Rollator. Eigentlich und abgesehen vom Standort kein unüblicher Anblick. Gerade auf Friedhöfen.

      Eigentlich, denn dieser Ruhende ruhte sich für alle Ewigkeiten aus. Und war zudem nahezu vollkommen eingehüllt. In Verbandsstoff. Es mussten etliche Meter Mullbinde sein, mit dem der Tote eingewickelt worden war. Kopf, Körper, alle Gliedmaßen eingeschlossen. Mumiengleich. Arme und Beine am Rollator fixiert. Im Bereich der Augen zeichneten sich zwei Flecken ab. Rote. Dunkelrote. Und um den Hals eine Schlinge aus gleichem Material, deren anderes Ende um das schöne Kreuz im Hintergrund geknotet war. Kurz unter den Zeilen Hier ist mine Heimat, hier bün ick tu Hus. Ein paar Bänder hatten sich gelöst. In einem Ginsterstrauch verfangen. Marthas geliebter gäler Ginster.

      »Makaber. Auch noch eine?« Kempowski fand nur langsam die Sprache wieder. Zumal ihm schon beim Anblick der ersten Fotos ein Gedanke gekommen war. Den er aber fortwischen wollte. Wegpusten. Mit dem Rauch einer weiteren Zigarette.

      Auch die ansonsten so redselige und wortreiche Literaturfreundin fand nur langsam aus der Sprachlosigkeit zurück. »Unglaublich, einfach unglaublich. Weiß man schon, wer der Unglückliche ist? Dürfte ja ein Mann sein, auch wenn man das Gesicht nicht sieht.«

      »Ja, das ist, das war der Dr. Eibesfeld. Dr. Hanno Eibesfeld. Ein ehemaliger Arzt. Aber schon lange im Ruhestand. Hat hier um die Ecke gewohnt. Rosenberg. Rosenberg 1. Sehr schönes Haus. Ein unglaublich sympathischer Herr. Älter schon, so Mitte achtzig. Aber noch sehr rüstig. Ist, war auch ein großer Freund von unsrem »lütten Sparling«. Tragisch ist das. Unfassbar. Kann ich noch eine haben?« Arlt schien das Defizit aus dreißig Jahren Nichtrauchersein an einem Nachmittag kompensieren zu wollen. Gewann zunehmend Routine. Zog kräftig.

      »War fast immer bei unseren Lesungen und Vorträgen dabei, hier im Museumshof wie bei uns in Barth. Außerdem hat er unsere Arbeit unterstützt. Finanziell. War immer sehr großzügig. Ein herber Verlust. Als Mensch wie als Mäzen …« Ein tiefer Seufzer begleitete einen weiteren Rauchkringel.

      »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer das gemacht hat?« Ein Raucherwölkchen von Kempowski gesellte sich zu dem des Müller-Grählert-Enthusiasten.

      »Das haben mich die Beamten von der Kripo auch gefragt. Haben mich stundenlang gepiesackt. Bloß weil ich natürlich nach Marthas Anruf rübergekommen bin. Schließlich fühle ich mich ja auch verantwortlich für das hier, in gewisser Weise. Aber, ich habe keine Ahnung. Familie hatte der Hanno nicht mehr. Zumindest hat er darüber nie gesprochen. Gekümmert hat sich um ihn seine Zugehfrau. Eine sehr nette junge Dame aus Polen. Doch da war nichts anderes im Spiel, also über Einkaufen, Saubermachen, Wäsche waschen, Bügeln und so hinaus. Obwohl das die Polizisten natürlich bezweifeln. Aber die haben sogar allen Ernstes die Überlegung in den Raum gestellt, dass sich dieser Leichenfund möglicherweise »positiv« auf das Interesse an unserer Martha auswirken wird. Was ja durchaus in meinem Interesse als Verleger ihres Werkes sein könnte. Eine Unverschämtheit, solch eine infame Unterstellung. Ich behalte mir vor, das nicht auf sich beruhen zu lassen.«

      »Handelt es sich bei den Beamten vielleicht um ein Vater und Sohn-Team namens Meinhard? Rico und Leon Meinhard?«

      »Richtig, Herr Kempowski, genau. Die Meinhards. Unmögliche Leute. Woher wissen Sie das? Kennen Sie die beiden?«

      »Kennen ist zu viel gesagt. Aber, ich habe so meine Erfahrungen mit ihnen machen dürfen. Müssen. Die verdächtigen gern auf blauen Dunst hinaus. Machen Sie sich bloß keine Sorgen. Obwohl, ich glaube nicht, dass der arme Doktor zufällig auf dem Grab der armen Dichterin drapiert wurde. Haben die Meinhards irgendeine Bemerkung fallen lassen, ob der Fundort auch der Tatort ist? Das machen die nämlich auch gerne, sich vorschnell verplappern und interne Informationen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.«

      »Stimmt, da war was. Während ich mit dem Junior im Bus saß und der mir Löcher in den Bauch fragte; hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wer Martha Müller-Grählert war, dieser Kulturbanause, hat der Senior draußen mit einem recht dicken Mann in so einem weißen Anzug gesprochen. Bei offener Wagentür. So konnte ich aufschnappen, dass Hanno schon länger tot war, als er …« Arlt suchte nach Worten. Fand keine passenden. Fuhr mit kleiner Pause fort.

      »… und höchstwahrscheinlich am frühen Abend getötet wurde. Erdrosselt. Und dann haben sie ihm auch noch die Augen ausgestochen.«

      »Wie bei Majakowski. Und diesem Wittenborn. Damals, im Dornenhaus. Damals, vor einem guten Jahr. Kemp, mir ist unheimlich.« Elisabeth Müller-Paul fand ins Gespräch zurück. Griff nach Kempowskis Arm. Krallte sich beinahe hinein. »Geht das schon wieder los?«

      Darauf wusste er keine Antwort. Er drehte sich um. Fühlte sich auf unangenehme Weise beobachtet. Konnte aber niemanden entdecken, der ihn fixierte. Stattdessen erblickte er drei neue Gäste, die sich den Weg durch die gerade erst erblühenden Rosensträucher des Gartens bahnten. Zarte Knospen harrten ihrer Entfaltung. Ihre eigene Blüte lag hingegen schon länger zurück. Die älteste der Damen machte auf halber Strecke einen Zwischenstopp. Musste kurz verschnaufen. Setzte sich umständlich wie vorsichtig auf die kleine Sitzfläche ihres Rollators. Eine kleine Gänsehaut eroberte Kempowskis Unterarme.

       11. Olios suavis

      Zimmermann schwitzte. Humpelte. Stöhnte. Wünschte sich insgeheim so einen Rollator an seiner Seite, über den er noch in den Morgenstunden mit Holger Baum gelästert hatte. Beziehungsweise felsenfest geleugnet hatte, dass er so einer Gehhilfe bedürfe. »Wissen Sie, junger Mann, wenn ich erst einmal hinter so einem Wägelchen hertröppele, dann ist es nicht mehr lange hin bis zum Treppenlift, zum Badewannenkran, geriatrischen Hygieneartikeln und ähnlichen Utensilien des Untergangs. Wenn es soweit ist, schaffe ich mir doch lieber eine großkalibrige Handfeuerwaffe an. Auf Ratenzahlung.«

      Dem Heimatpfleger hatte Zimmermanns Haltung imponiert. »Respekt, Herr Zimmermann, aber Sie wissen schon, dass wir einen Fußmarsch durch den Ort vor uns haben?«

      Er hatte nur milde gelächelt. Lakonisch geantwortet. »Ich habe schon ganz anderes überstanden.« Das stimmte wohl: Shoa. Emigration. Die Odyssee, bis Zimmermanns endlich in Kanada eine neue Heimat gefunden hatten. Das Erlernen der neuen Sprache. Und dann das ganz normale Hamsterradrennen: Highschool, Studium, Selbstständigkeit. Mehrere berufliche Schiffbrüche. Zwei Ehen. Kinderlos. Womöglich dadurch begründet zwei Ehefrauen mit Alkoholproblemen. Zuletzt dann noch die Rückkehr nach Deutschland und das Chaos, das er durch sein Auftauchen in Ahrenshoop ausgelöst hatte. Da würde er doch einen Spaziergang durch Born mit links wegstecken. Überdies besaß Zimmermann noch genügend männliche Eitelkeit, um mehr als nur ein bisschen stolz darauf zu sein, dass er noch so gut in Schuss war. In jederlei Hinsicht. Immerhin war er im März neunzig geworden. Ohne dies jedoch in seinem Kreis großartig publik zu machen oder gar zu feiern. Derlei Saturnalien lagen ihm nicht.

      »Außerdem kann so ein Zwiebelporsche ja auch einen Risikofaktor darstellen. Denken Sie an den »Mumienmörder«, wie der Täter inzwischen in den Schlagzeilen genannt wird.« Natürlich hatte


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