Ahrenshooper Spinnenweg. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Spinnenweg - Tilman Thiemig


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aus der engen Liegebox. Man nahm Fahrt auf. »Ist schon schön.« Zimmermann blinzelte übers glitzernde Wasser. »Allerdings ist Genuss nicht mein vorrangiges Anliegen. Ich möchte ja eigentlich …«

      »Ich weiß, ich weiß. Und muss Sie gleich enttäuschen. Von einem Olaf Hegerdorp habe ich noch nie etwas gehört. Konnte den Namen auch nicht in meinem Archivregister entdecken. Doch das will nichts heißen. Gerade dieses Kapitel unserer Geschichte weist noch viele weiße Seiten und offene Fragen auf. In dieser Hinsicht macht unsere Gegend keine Ausnahme. Zudem ist »faschistische Vergangenheit« nicht unbedingt etwas, was sich touristisch erfolgreich vermarkten lässt. Da ziehen Kraniche und Künstler, Weststrand und Windflüchter schon besser. Und Forstmeister Mueller-Darß sieht man lieber als gemütlichen Rauschebartförster mit Pfeife und Jägerhut als denn in der Uniform und Denkungsart eines SS-Brigadeführers. Doch, warum in den Darß abschweifen, wenn …« Der Heimatkundige drosselte den Motor, steuerte in eine kleine Bucht und wies zum Ufer; sie waren gerade einmal wenige hunderte Meter in östlicher Richtung gefahren. »Dort vorne, Müggenberg Ecke Kielstraße, stand einst der Alte Krug, der schon in Segebarths maritimer Räuberpistole ›De Darßer Smuggler‹ eine wichtige Rolle als Gerichtsgebäude spielt. Und der über viele Jahrzehnte geselliger Mittelpunkt des Dorfes gewesen ist. Hochzeiten und Maskenbälle, Vereinssitzungen und Chorauftritte, im Krug war immer was los. Um 1930 warb der damalige Wirt in seinem Prospekt explizit mit dem ›schönen großen Saal‹. Der dann nur elf Jahre später zum Außenlager des KZ-Neuengamme werden sollte. Etwa Anfang Januar 1941 wurden hier rund 50 Häftlinge einquartiert. Überwiegend Zeugen Jehovas. Die dann zum Schilfschneiden ins Röhricht geschickt wurden. Wo sie in dünnen Drillichanzügen und schadhaftem Schuhwerk den ganzen Tag im eiskalten Wasser standen. Nach der »Ernte«, Rohr lässt sich am besten bei Frost bearbeiten, wurden die Männer Ende Februar wieder nach Neuengamme zurückgebracht. Viele von ihnen krank und mit Erfrierungen. Und …« »Entschuldigung …« unterbrach ihn Zimmermann, »aber ist bekannt, wer zur Wachmannschaft gehörte?«

      »Ja, weitgehend. Da die Lagerleitung davon ausging, dass die sogenannten »Bibelforscher«, die SS übernahm die ursprüngliche Selbstbezeichnung dieser Glaubensgemeinschaft ironisierend gemeint in ihren KZ-Jargon, aus Gründen ihrer Religion nicht fliehen würden, kam man mit relativ wenig Bewachung aus. Eine Handvoll Männer reichten. Geführt vom SS-Kommandoführer Ewald Jauch. Als sein Stellvertreter wird ein Wiehagen angeführt. Und als Postenführer ein SS-Hauptscharführer Braun. Der von Überlebenden als jähzornig und sadistisch geschildert wird. Ebenso wie der Funktionshäftling Kreft, der als Kapo fungierte. Doch ein Olaf Hegerdorp wird weder in den offiziellen Akten noch in den später aufgezeichneten Zeugenberichten erwähnt. Das gilt leider auch für das Folgelager, das im Dezember 1941 auf dem Zingst errichtet wurde. Mutmaßlich in einem Kuhstall eines verlassenen Gehöfts im Bereich der Sundischen Wiesen. Das Gebiet wurde seinerzeit von der Luftwaffe unter anderem als Bombenabwurfgelände benutzt, sodass die Bevölkerung bereits 1937 umgesiedelt worden war. Wieder war die Mehrzahl der abermals zum Schilfrohrschneiden eingesetzten Gefangenen Zeugen Jehovas. Die allerdings länger blieben. Bis April 1942. Im Stammlager war eine Fleckfieberepidemie ausgebrochen. Merkwürdigerweise wurde bei dieser Aktion die Stärke der Wachmannschaft deutlich erhöht. Ein Augenzeuge berichtete von etwa 50 Posten. Warum auch immer. Einen Hegerdorp habe ich aber in den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht finden können. Doch …«

      Trommelschlag ertönte. Fanfarenklänge. Und undeutliche Stimmen. Schnarrend. Dumpf. Ein bisschen übersteuert. Undeutlich:

      »Ahndungsgrau …, … mutig. … icht der … oße Morgen an. … die Sonne, … alt und blutig, leuchtet … blut’gen … nächsten Stunde … … liegt das … einer Welt. … zittern schon … … Würfel … … legt noch die … feig’ … Schoß? … legt noch die … feig’ … Schoß? … Volk steht … Sturm bricht …«

      Zimmermann erkannte das Lied dennoch. Den Text. Den Kontext. Da ertönte eindeutig jener Theodor Körner-Mix aus der Innentasche von Baums Lederjacke, der einst dem Lieblingsfilm Joseph Goebbels Sound und Seele verliehen hatte: ›Kolberg‹. Jener patriotische Streifen mit dem der Propagandaminister dem deutschen Volke im Frühjahr 1945 die Zuversicht des nahen Endsieges ins Blut treiben wollte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«

      Ein solcher Klingelton bei einem Menschen, der ihm gerade von KZ-Außenlagern berichtet hatte, irritierte Zimmermann. Mehr als nur ein wenig. Zumal das Lied nun bereits zum dritten Mal übers Boot schmetterte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«

      »Entschuldigen Sie bitte, aber das Scheißding ist mal wieder ins Innenfutter geflutscht und hat sich irgendwie verheddert.« Holger Baum kämpfte immer noch mit seiner Jacke und den Tücken des Objekts. »Und, sorry, aber ich habe nun mal einen etwas speziellen Humor. Das ist nur meine Wetter-App, die mich warnt, wenn ich auf dem Bodden bin und es ungemütlich wird. Fand ich passend …«

      Auch Zimmermann hatte einen etwas eigenen Humor. Dennoch ließ ihn der Vorfall ein wenig misstrauisch werden. Vorsichtig. Wenn nun Baum womöglich Hegerdorp kannte? Vielleicht ja sogar ein Gesinnungsgenosse war? Und Olaf seinen jungen Freund im Geiste auf ihn angesetzt hatte? Er schüttelte sich kurz. Seinen Argwohn ab. Bemühte sich, die angenehme Atmosphäre von zuvor wieder aufleben zu lassen. »Und was sagt der Wetterfrosch in Ihrem Telefon nun?«

      »Gar nichts Gutes.« Endlich war es Baum gelungen, sein Smartphone zu befreien. Es kommt tatsächlich ein kleiner Sturm auf uns zu. Acht Beaufort und Regenböen. Wir sollten zusehen, dass wir wieder in den Hafen kommen. Leider …«

      Wie zur Bestätigung seiner Prognose dröppelten bereits die ersten Regentropfen aufs Deck.

      »Ich schlage vor, dass wir unsere Exkursion abbrechen und in den nächsten Tagen fortsetzen. An Land. Und zwar in Born.«

      »Gerne, aber warten Sie bitte einen Moment.«

      Nun hatte Zimmermann sein Smartphone gezückt. Wählte Sonntags Nummer und bat den Freund, ihn aus Wieck abzuholen. Wenn es denn möglich wäre. Es war. Für Zimmermann machte Richard Sonntag alles möglich. Fast alles. Das kleine Gerät verschwand wieder.

      »Danke. Und was erwartet mich dort?«

      »Zunächst ein weiterer Gasthof. Der ebenfalls von der SS beschlagnahmt wurde. Der Borner Hof. Im Frühjahr 1944. »Umgenutzt«. Wiederum als Außenlager des KZ-Neuengamme. Wobei die Häftlinge hier für die Holzkohleherstellung eingesetzt wurden. Ausgenutzt.«

      »Holzkohle?« Zimmermann schaute etwas irritiert.

      »Ja, als Treibstoff. Vor allem für die Lkw. Räder müssen rollen für den Sieg. Das war damals ein großes Problem, besonders in den letzten Kriegsjahren. Die Treibstofffrage hat die Oberste Heeresleitung ebenso beschäftigt wie den inneren Zirkel um Hitler. Holzkohle war da ein echter Hoffnungsträger.«

       9. Gnaphosa taurica

      Kempowski blickte in die glühende Holzkohle. Gedankenvoll. Es ging ihm so manches durch den Kopf. Da kam ihm eine Runde meditatives Grillen auf der Terrasse durchaus zupass. Auch wenn er eigentlich alles andere als ein Barbecue-King war und sich nicht mit Hakala-Holappa messen konnte, der ein wahrer Meister mit Zange am Rost war. Und so ein Monstergrill wie dessen Bredow würde ihm auch nicht ins Haus kommen. Wobei die hübsche Villa am Ahrenshooper Weg zum Hohen Ufer zugegebenermaßen eigentlich Elisabeth gehörte. Was ihm auch recht war, obwohl sie ja nun bereits seit gut fünf Monaten verheiratet waren.

      Doch diese uralte Konstruktion aus Ziegelsteinen und Metallgestängen, die noch aus den Tagen ihrer Großtante Elfriede Paul stammte, hatte er wieder fit gemacht. Eigenhändig.

      Es zischte. Fett spritzte auf. Und holte Kempowski in die Gegenwart zurück. Die Schweinemedaillons wollten gewendet werden. Außerdem musste er sich um den ausgelösten Rehrücken kümmern. Sowie um die Spieße mit Garnelen und Lachs. Es würde köstlich werden und seiner Ansicht nach perfekt zum Spargel passen, um den sich Elisabeth in der Küche kümmerte. Zimmermann und Sonntag würde es munden. Da konnte Lore Bradhering sagen, was sie wollte. Die wiederum seine Einladung kopfschüttelnd abgelehnt hatte. »Komm mir nicht mit so einem Schnickschnack.


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