Wunder. Kurt Erlemann
die Wundertexte wirken bis heute als Hoffnungs-, Ermutigungs- und Befreiungstexte. Sie zeigen, dass natürliche, soziale und religiös-moralische Grenzen durch Gottes heilvolle Schöpfermacht aufgebrochen werden können. Sie weiten damit den Horizont dessen, was möglich erscheint, und setzen Handlungsimpulse frei, um die Welt schon jetzt heilvoll zu verändern.
1.2.5 Welche Themen sind mitzudenken?
Tangiert ist mit der Wunderthematik die Frage des Verhältnisses von Theologie und Glauben einerseits und Naturwissenschaft und Vernunft andererseits. Mithin geht es um die Frage des ntl. Weltbilds im Vergleich zum heutigen. Zu betrachten sind weiterhin das antike Medizinwesen, die Außenwahrnehmung Jesu, sein Verhältnis zu anderen Wundertätern sowie die Wunderforschung mit ihren Leitfragen und Ansätzen. Die Frage der Vermittlung von Wundertexten, sprich: Wunderhermeneutik und Wunderdidaktik, runden das Fragetableau ab.
1.3 Vorgehensweise
Das Buch startet mit einführenden Thesen, einer ersten Annäherung an das Phänomen Wunder, einem Überblick über Wundergattungen und der Klärung wichtiger Begriffe (Kapitel 1). Kapitel 2 behandelt historische Fragestellungen (Welt- und Menschenbild, antike Heilkunst, Außenwahrnehmung Jesu, Genese des Wunderglaubens, Wirkung der Wunder Jesu). Kapitel 3 führt in die Wunderforschung von den Anfängen bis heute ein, stellt weiterführende Überlegungen an und bietet eine daraus resultierende Wunderdefinition. Kapitel 4 entfaltet den Inhalt der Wundertexte (Sinnebenen, theologische Aspekte) und entwickelt einzelne Wunderprofile. Kapitel 5 konkretisiert die wundertheoretischen Überlegungen dieses Buches anhand von acht Musterexegesen. Kapitel 6 enthält Überlegungen zur Wunderhermeneutik und -didaktik sowie acht zu den Musterexegesen passende Unterrichtsentwürfe. – Der Serviceteil bietet ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar, ein Schlagwort- und Textstellenregister, eine Übersicht über die ntl. Wundertexte sowie Literaturangaben.
1.4 Einführende Thesen
Kurze Thesen bündeln vorab die wichtigsten Erkenntnisse des Buches; das eigentliche Wunderkonzept wird in → 3.6 und → Kapitel 4 entfaltet.
These 1: Wundererzählungen bieten authentische Jesuserinnerung
Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch reine Mythen oder Märchen. Sie erheben den Anspruch, historisches Geschehen wiederzugeben und Jesu Bedeutung zutreffend zu umschreiben. Sie sind authentische Wiedergabe historischer Begegnungen und Erfahrungen mit Jesus von Nazareth (→ 2.4; 3.5.6).
These 2: Jesu Wunder begründen plausibel den Christusglauben
Historisch plausible Ursache für den ntl. Christusglauben sind wunderhafte Erfahrungen von Bewahrung und Befreiung aus aussichtslosen Situationen. Vor- und nachösterliche Begegnungen erzeugten bei vielen Menschen die Gewissheit, Jesus sei der Messias Israels, der in göttlicher Vollmacht die alten prophetischen Verheißungen erfüllt. Ihm waren alle denkbaren Wundertaten zuzutrauen! Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht sagen (→ 2.4).
These 3: Wunder sind nicht Relikte eines überholten Weltbildes
Im mythisch geprägten Weltbild der ntl. Zeit hatten göttliche Eingriffe ins Weltgeschehen einen festen Platz. Im modernen Weltbild gelten sie als rational nicht erklärbar und damit als unglaubwürdig. Doch gab es rationale Wunderkritik von Anfang an, mythisches Denken gibt es auch heute noch. Damals wie heute gibt es unterschiedliche, einander ergänzende Optiken auf dieselbe Wirklichkeit, die einen Wunderglauben entweder zulassen oder nicht (→ 3.6.2d).
These 4: Wunder folgen einer eigenen, rationalen Wunderlogik
Wunder sind rational nicht erklärbar, sie sind aber nicht irrational1. Sie folgen vielmehr eigenen, rational beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten. Die Wunderlogik lautet: Wunder sind das Ergebnis intensiven Einswerdens von Glauben, Hoffnung und Gebet einerseits und barmherzig-liebevoller Zuwendung des Wundertäters andererseits. Wo dies zustande kommt, werden Wunder möglich (→ 3.6.3).
These 5: Wunder sind spirituell erfahrbare, weiche Fakten
Wunder sind weiche Fakten, die sich wissenschaftlich-rationaler Beweisbarkeit entziehen. Im Bereich spiritueller Erfahrung haben Wunder eine eigene Evidenz. Die Bewertung von Ereignissen als Wunder ist dementsprechend eine Frage subjektiver Deutung und Überzeugung (→ 1.7.9; 3.6.2c).
These 6: Wundertexte provozieren bewusst menschliche ratio
Die Wundererzählungen provozieren den Konflikt mit menschlicher ratio. Sie konfrontieren mit dem (angeblich) Unmöglichen, weiten das Spektrum des Möglichen aus und zeigen, wie das Unmögliche möglich werden kann. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen nehmen den Wundern das Wunderhafte. Nur der Verzicht darauf lässt das Faszinierende des Wunders bestehen (→ 1.5.4; 3.6.2).
These 7: Wundertexte führen ins Zentrum des biblischen Gottesglaubens
Die Konfrontation mit dem Unmöglichen ist zugleich die Konfrontation mit dem biblischen Gottesglauben. Dieser manifestiert sich quer durch die Bibel in göttlichen Wundertaten. Gott sprengt weltliche Grenzen, um seinen heilvollen Plan durchzusetzen. Der Glaube an Gottes Allmacht zieht den Wunderglauben nach sich. Biblische Theologie ist ohne Wunder und Wundertexte unvollständig. – Jesus ist Träger der göttlichen Schöpfermacht; die Wundertexte setzen diese christologische Überzeugung narrativ in Szene. Ohne die Wundertexte verlöre die Botschaft Jesu ihre leiblich-physische Dimension (→ 3.6.1).
These 8: Wundererzählungen enthalten mehrere Sinnebenen
Wundertexte enthalten mehrere Sinnebenen, welche die umfassende Zuwendung Gottes zu den Notleidenden markieren. Zu ihnen zählen die physisch-leibliche, spirituelle, (tiefen-)psychische, sozialkritische, mythisch-kosmische, diakonisch-missionarische, kommunikative und die theologische Ebene. Die Sinnebenen ergänzen einander zu einem umfassenden Textverständnis. Eine Reduktion auf einzelne Sinnebenen wird den Texten nicht gerecht (→ 4.1).
These 9: Wundererzählungen sind theologisch vielschichtig
Wundertexte sind auch theologisch vielschichtig. Sie berühren Themenfelder wie Theo-logie, Christologie, Pneumatologie, Kosmologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Ethik, Soteriologie, Eschatologie sowie Einzelthemen wie Glaube, Nachfolge, Vergebung, Reich Gottes und die Theodizeefrage (→ 4.2; 4.3).
These 10: Wundertexte lassen sich textpragmatisch gruppieren
Die Wundertexte lassen vier Reaktionstypen und Grundeinsichten erkennen: Staunen (Der Wundertäter hilft!), Erkenntnis (Der Wundertäter hat göttliche Vollmacht!), Glaube und Nachfolge (Der Wundertäter verändert das Leben!) sowie Widerstand und Ablehnung (Der Wundertäter darf das!). Diesen Reaktionen und Grundeinsichten lassen sich vier Grundfunktionen zuordnen: Inszenierung göttlicher Fürsorge, Klärung göttlicher Identität, Konstitution von Gemeinschaft und Polarisierung im Sinne endzeitlicher krísis. Dies lässt eine heuristische Einteilung in Fürsorge-, Erkenntnis-, Missions- und Konfliktwundertexte zu (→ 3.6.5).
These 11: Wundererzählungen führen zu den basics gelingenden Lebens
Wunder befreien von dem, was das Leben einengt, und stellen die Grundlagen des Lebens wieder her. Die Texte zeigen, was menschliche Not beendet: spontanes, beherztes Eingreifen, gegebenenfalls unter Durchbrechung etablierter Ordnungen, kurz: engagiertes, tatkräftiges Erbarmen. Wo Gleichgültigkeit, Trägheit und Eigensinn überwunden werden, wird neues Leben möglich (→ 3.6.3).
These 12: Wundererzählungen sind wirkkräftige Befreiungsgeschichten
Die Durchbrechung natürlicher, sozialer und religiös-moralischer Ordnungen befreit von den Grenzen des Alltags. Die Wundertexte weisen auf Gott hin, der das Weltgeschehen heilvoll unterbrechen und aufsprengen kann. Die Wundertaten