Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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Lobpreis, Bekenntnis, Glaube, Nachfolge, Hoffnung, Widerstand

      Differenzierung der Wunderbegriffe

      Abstufungen des Begriffs ‚Wunder‘

      1.5.7 Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik

      Die bahnbrechenden Entdeckungen Albert Einsteins (1900), Max Plancks (1905), Werner Heisenbergs (1925/27) und anderer Quantenphysiker waren eine grundsätzliche Anfrage an das bis dato herrschende Verständnis der Naturgesetze als unveränderliche Elemente eines deterministischen Weltbildes.1 Die veränderte Einschätzung erweckt den Eindruck, als seien naturwissenschaftliche ratio und Wunderglaube doch vereinbar.2 Wunderhermeneutisch ändern die Erkenntnisse allerdings nichts, da die Texte den unmöglichen Charakter des wunderhaften Geschehens ausdrücklich betonen und die ratio gezielt provozieren. Eine wissenschaftlich-rationale Wunderdeutung wird auch unter verändertem Vorzeichen dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 3.4.4; 3.5.7).

      1.6 Antike Wundergattungen

      Auf Grundlage der von Gerd Theißen formkritisch entwickelten Wundertypen zeigt der Abschnitt das Spektrum antiker und biblischer Wundertexte auf.1 Eine Einteilung in textpragmatisch begründete Textgruppen erfolgt unter → 3.6.5.

      1.6.1 Heilungswunder/Therapien

      Die verbreitetste Form antiker und biblischer Wunderberichte sind Heilungswunder (Therapien). Sie beschreiben die Heilung eines physischen Gebrechens, einer Behinderung oder psychogenen Störung. Regelmäßige Bestandteile solcher Wundertexte sind die Beschreibung der Not (ohne medizinische Präzisierung), die Begegnung des Kranken mit dem Wundertäter, der Wundervollzug und Reaktionen darauf. Die Krankheitsursache spielt nur eine marginale Rolle. – Der Babylonische Talmud bietet als Beispiel für eine Therapie ein Wunder Chanina ben Dosas:

      „Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels, und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Hanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Da sprachen sie zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: weder bin ich ein Prophet noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen, wenn nicht, so weiß ich, daß es gewirrt wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Beim Kult, weder habt ihr vermindert noch vermehrt; genau dann geschah es, in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken.“1

      Das Krankheitsspektrum reicht von Lähmungen (Mk 2,1–12 u.a.) über Leiden der Sinnesorgane (Blindheit, Taubheit, Taubstummheit) bis hin zu psychogenen Erkrankungen wie Blutfluss und Besessenheit. Die Wunderinitiative geht meistens vom Patienten aus (anders Joh 5,1–9; 9,1–7). Die einzelnen Erzählteile können unterschiedlich lang und pluriform ausfallen. Manche Heilungen dienen als Anlass für einen Normenkonflikt (z.B. Sabbatheilungen; ‚Normenwunder‘), bei Fernheilungen kommt es zu einer kontaktlosen Heilung über Distanz.

      1.6.2 Exorzismen

      Dämonenaustreibungen gelten in den Evangelien und im religionsgeschichtlichen Umfeld als eigenständige Wunderform.1 Das gr. Wort exhorkízein bezeichnet den Vorgang der Beschwörung.2 Magische Papyri bieten Exorzismus-Formulare (2.–6. Jh. n. Chr.), was die Nähe zwischen Exorzismus und Magie belegt.3 Ntl. Exorzismen sind Teil eines kosmischen Kampfes gegen satanische Mächte und der Etablierung der basileía Gottes auf Erden (expressis verbis in Mt 12,28). Typisch sind die dramatische Schilderung der Not und der eigentlichen Austreibung. Heftige Dialoge zwischen Dämon(en) und Wundertäter unterstreichen den kosmischen Charakter: Die Dämonen wehren sich, schreien Jesu Identität heraus, weisen auf den unpassenden Zeitpunkt hin. Jesus spricht eine Bannformel (Mk 1,25; 9,25 u.a.) und vertreibt den Dämon, der ein neues Zuhause sucht (Mt 12,43–45; Mk 5,1–20). Auch die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.) trägt exorzistische Züge. – Ein Beispiel exorzistischer Technik eines hell. Magiers bietet PGM IV,1239ff.:

      „‚Ich beschwöre dich, Dämon, wer du auch immer seist, bei diesem Gott (Zauberworte): komm heraus, Dämon, wer du auch immer seist, und verlasse den N.N. jetzt, jetzt, sofort, sofort. Komm heraus, Dämon, da ich dich fessele mit stählernen, unlöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos der Hölle.‘ Handlung: Nimm 7 Ölzweige und binde 6 an Ende und Spitze [des Besessenen], jeden für sich, mit dem einen übrigen aber schlage unter Beschwörung. Halt es geheim; es ist schon erprobt. Nach dem Austreiben hänge dem N.N. als Amulett, das der Leidende also nach dem Austreiben des Dämons umzieht, auf einem Zinnblättchen mit folgenden Worten um: ‚(Zauberworte), schütze den N.N.‘“4

      1.6.3 Totenerweckungen

      Totenerweckungen sind gesteigerte Therapien; der Patient wird vom Wundertäter ins Leben zurückgeholt. Totenerweckungen finden sich im AT (1 Kön 17,9–24; 2 Kön 4,8–37), in den Evangelien und in der Apg.1 Die Erzählungen sind seit jeher ein Stein des Anstoßes (vgl. 1 Kor 15,12–19!). – Philostrat, VitApoll 4,45, äußert Skepsis gegenüber einer angeblichen Totenerweckung des Apollonius:

      „Auch jenes war ein Wunder des Apollonius: Ein Mädchen schien in der Stunde der Hochzeit gestorben zu sein, und der Bräutigam folgte der Bahre und rief aus, was man bei einer unerfüllten Hochzeit erwartet. Und mit ihm trauerte auch Rom, denn das Mädchen gehörte zu einer konsularischen Familie. Apollonius begegnete ihrer Trauer (sc. dem Trauerzug) und sagte: ‚Setzt die Bahre nieder! Denn ich werde eure Tränen über das Mädchen aufhören lassen.‘ Und zugleich fragte er, welches ihr Name sei. Die meisten glaubten nun, daß er eine Rede halten werde nach der Art, wie sie zu den Trostreden gehören und die Trauer aufrichten. Er aber tat nichts, als sie zu berühren und heimlich etwas zu ihr zu sagen, und er weckte das Mädchen von ihrem scheinbaren Tod auf. Und das Kind äußerte ein Wort und ging in das Haus des Vaters wie Alkestis, als sie von Herakles ins Leben zurückgebracht wurde. Und die Verwandten des Mädchens gaben ihm 150000 Sesterzen, er aber sagte, sie sollen diese dem Mädchen als Mitgift mitgeben. – Und ob er in ihr einen Funken der Seele gefunden, der denen, die sie pflegten, verborgen geblieben war – denn man sagt, daß, obwohl es regnete, ein Dampf von ihrem Gesicht gegangen sei – oder ob das Leben erloschen war und er es durch die Wärme seiner Berührung wiederherstellte, das ist ein geheimnisvolles Problem, das weder ich noch die, die dabei waren, entscheiden konnten.“2

      Typisch sind die Darstellung der Trauer – zum Teil auch als Klage gegen den vermeintlich zu spät agierenden Wundertäter (Joh 11,21.32) –, die Deutung des Geschehens durch den Wundertäter (Mk 5,39; Joh 11,11) und die Schilderung des Erweckungsvorgangs. Zum Teil wird die Möglichkeit physischer Totenerweckungen diskutiert (Mk 5,40; Joh 11,23f.37; 1 Kor 15,12–19; VitApoll 4,45).

      1.6.4 Geschenkwunder

      Geschenkwunder stellen die lebensspendende Gabe in den Mittelpunkt. Das AT kennt einige Geschenkwunder.1 Populär sind die Speisung der Fünf- bzw. Viertausend (Mk 6,30–44parr.; Mk 8,1–9par.) und das Weinwunder von Kana (Joh 2,1–11). Die Beschreibung der Notlage, die Bitte um die Beseitigung der Not, die Anweisungen für den Wundervollzug und die Bestätigung des wunderhaften Vorgangs sind feste Motive. – Textbeispiel ist ein Geschenkwunder Chanina ben Dosas:

      „Es pflegte seine (Hanina b. Dosas) Frau, den Ofen zu heizen an jedem Vorabend des Sabbats und pflegte Rauchwerk hinein zu werfen wegen der Beschämung (d.h., weil sie sich vor den Leuten schämte). Sie hatte jene böse Nachbarin. Sie (diese Nachbarin) sagte: dies ist doch merkwürdig, da ich doch weiß, daß sie nichts haben, und zwar gar nichts. Was soll all dies? Sie (die Nachbarin) ging hin und klopfte an die Tür (des Hauses des Hanina). Da schämte sie (die Frau des Hanina) sich und ging hinein in das Zimmer. Da geschah ihr (der Frau des Hanina) ein Wunder; denn sie sah den Ofen voll von Brot


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