Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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die Grenzen des Faktischen zu sprengen und die Welt heilvoll zu verändern. Die Wundertexte inspirieren dazu, die Erwartungen an das Leben maximal nach oben hin zu korrigieren. In alledem liegt ihre dauerhafte Relevanz (→ 3.6.1).

      1.5 Was sind eigentlich Wunder?

      Der Abschnitt liefert eine erste Annäherung an den Wunderbegriff. Die Wunderdefinition dieses Buches wird unter → 3.6.6 vorgestellt.

      Wunder erregen Staunen, denn sie zeigen, was alles möglich ist, und sie wirken heilvoll. Wunder sind wissenschaftlich-rational nicht beweisbare, unverfügbare weiche Fakten. Die Feststellung von Wundern ist Sache subjektiver Deutung. Zu unterscheiden sind ein profan-ästhetischer, ein kontingent-liberativer und ein biblisch-konfessorischer Wunderbegriff. Die semantisch orientierte Definition des Religionswissenschaftlers Ulrich Nanko fängt die Bandbreite des Begriffs ein:

      „Das dt. Wort ‚Wunder‘ bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von einem ‚Unerwarteten‘ bis zu der ‚Norm-Überschreitung‘. Die Reaktion auf dieses Ereignis kann einerseits zu Staunen und Bewunderung, andererseits zu Schrecken, Furcht und Angst führen.“1

      1.5.1 Biblische Wunderterminologie

      Die gr. Sprache kennt unterschiedliche Termini für wunderhafte Vorgänge:

      a) Thauma: Der Terminus bezeichnet eine staunenswerte Sehenswürdigkeit oder eine spektakuläre Wundertat. Der Begriff findet im NT keine Verwendung.

      b) Areté meint ursprünglich Tugend, kann aber auch besondere Tüchtigkeit oder eine Heldentat umschreiben. Auch dieser Begriff fehlt im NT.

      c) Thaumásion beschreibt etwas Staunenswertes oder Wunderbares. Der Terminus ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Mt 21,15).

      d) Parádoxon: Etymologisch zielt der Begriff auf etwas, das gegen die Erfahrung steht, und benennt ein unerwartetes, unglaublich scheinendes Ereignis. Auch dieses Nomen ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Lk 5,26).

      e) Dýnamis: Das Nomen dýnamis bezeichnet eine besondere Kraft- oder Machttat, genauer die göttliche Kraft, die ein Wunder bewirkt (vgl. Mk 6,2; Mt 11,20f.).

      f) Semeíon: Der Terminus kennzeichnet vorzugsweise im JohEv Wundertaten als Zeichen, die auf Gottes Handeln hinweisen (vgl. Mk 8,12; Joh 2,11; 20,30).

      g) Téras: Das Nomen umschreibt eine außergewöhnliche Erscheinung bzw. ein göttliches (Vor-)Zeichen. Es umschreibt besonders in der Apg in Kombination mit semeíon die Vielfalt wunderhafter Taten und Ereignisse.1

      h) Érgon: Das Nomen gehört mit téras und semeíon zu den ntl. Hauptbegriffen der Wundertaten und deutet diese als göttliche Werke (vgl. Mt 11,2; Joh 9,3).

      Fazit: Es gibt keine einheitliche ntl. Wunderterminologie; Wunder sind nicht Gegenstand eines theoretischen Diskurses, sondern von Erzählungen.2 Eine Durchbrechung von Naturgesetzen ist mit keinem Begriff impliziert. Das Wort adýnaton ist kein ntl. Wunderterminus; für Gott gibt es aus biblischer Sicht nichts Unmögliches.3

      1.5.2 ‚Weiche Fakten‘

      Die rationalistische Wunderdeutung deutete im 18. und 19. Jh. die Wunder Jesu als erklärbare harte Fakten und nahm ihnen damit das Wunderhafte; der wissenschaftlich-rationale Wahrheitsbegriff wird ihnen jedoch nicht gerecht. Als weiche Fakten folgen die Wunder einer eigenen, rational beschreibbaren Logik. Sie erschließen sich am ehesten einer religiös-mystischen Weltsicht (→ 1.7.9; 3.2.2; 3.6.2f.).

      a) Wissenschaftlich unerklärbare Vorgänge

      Für die wissenschaftliche Vernunft sind Wunder eine unmögliche Möglichkeit und daher als Falschbehauptung, Märchen, Mythos, Sinnestäuschung oder Unwahrheit zu werten. Die rationale Erklärung macht die Wundertexte zwar glaubwürdig, nimmt ihnen aber das Wunderhafte bzw. führt zu ihrer Ent-Wunderung.

      Beispiele: Die unerklärliche Gesundung von eigentlich unheilbarer Krankheit gilt als ‚Spontanheilung‘.1 Die Etikettierung macht deutlich, dass der Vorgang medizinisch nicht erklärbar ist. – Krankheitsbilder, für die es (bislang noch) keine erklärbare Ursache gibt, gelten als ‚idiopathisch‘ (wörtlich: ohne erkennbare Ursache, selbstständig), was ebenfalls Rätselhaftigkeit andeutet.

      b) Ereignisse mit eigener Kausalität

      Wunder sprengen mit ihrer unverfügbaren Kontingenz die Logik naturwissenschaftlich-rationaler Kausalität. Die religiös-mystische Logik und Kausalität der Wunder besagt, dass nachhaltiger Glaube, intensives Gebet und konzentrierte Hoffnung im Zusammenspiel mit göttlicher, liebend-barmherziger Zuwendung Wunder bewirken können. Mystisch daran ist, dass menschliche Verfasstheit und Gestimmtheit mit göttlicher Verfasstheit und Gestimmtheit eins werden.

      Beispiele: Blutflüssige Frau (Mk 5,25–34parr.), blinder Bartimäus (Mk 10,46–52parr.) und Lazarus (Joh 11) sind Beispiele für die beschriebene Wunderlogik. Laut Mk 2,5; 5,34; 10,52 u.a. ist der Glaube die wunderwirkende Kraft. – Mt 17,20 spricht selbst unscheinbarem Glauben Wunderkraft zu. – Ein modernes Beispiel ist das ‚Wunder von Lengede‘ 1963: Die Rettung von elf Kumpels aus einem überfluteten Stollen lässt sich als Zusammenwirken intensiver Gebete, nachhaltiger Rettungsbemühungen und einem göttlichen Wunder werten.

      Wunder können aber auch spontan geschehen. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Wundern ist die Offenheit für eine religiös-mystische Weltsicht; dem nüchtern-analytischen Blick bleiben Wunder verborgen (→ 3.6.2d).

      c) Wunder oder doch eher Zufall?

      „Wenn alle Lose einer Lotterie verkauft sind, wird ein Hauptgewinner dabei sein. Für denjenigen, den es trifft, wird es ein Leben lang ein Wunder bleiben […]. Aber die Tatsache, dass es einen Gewinner gibt, ist bei einer fairen Lotterie kein Wunder.“1

      Die Feststellung eines Wunders hängt von der persönlichen Wahrnehmung ab. Was in nüchtern-analytischer Optik eine Verkettung glücklicher Umstände, ein Zufall, ist, ist in religiös-mystischer Optik eine heilvolle, wunderhafte Fügung.

      Beispiel: Das zitierte ‚Wunder von Lengede‘ ist als Wunder und als glücklicher Zufall zugleich bewertbar. Ob man ein göttliches, rettendes Eingreifen annimmt oder einen Riesenzufall: In beiden Fällen kommt die Unverfügbarkeit des Geschehens zum Ausdruck. Wie es letztlich zu deuten ist, ist objektiv nicht zu entscheiden; für die Betroffenen ist es jedoch ein Fakt – so oder so.

      1.5.3 Profan-ästhetischer Wunderbegriff

      Dieser weite Wunderbegriff bezieht sich auf staunenswerte Phänomene im nicht-religiösen, allgemein kulturellen Kontext. Ungewöhnlich beeindruckende Naturphänomene, Kunstwerke und technische Errungenschaften, aber auch ‚Wunderkinder‘, die ‚sieben Weltwunder‘ oder die Mondlandung erregen Staunen. Auch rational erklärbare, wiederkehrende Ereignisse, wie z.B. die Geburt eines Kindes, die ‚große Liebe‘, das neu aufblühende Leben im Frühjahr oder eine reiche Ernte, lassen sich als ‚Wunder‘ deuten. Der gr. Terminus thaumásion (Staunenswertes) trifft diesen Wunderbegriff. Die Wirkung profan-ästhetischer Wunder besteht in Staunen, Verwunderung und in der Bereicherung des Weltbildes. Eine religiöse Deutung kann, muss aber nicht erfolgen.1

      1.5.4 Kontingent-liberativer Wunderbegriff

      Dieser Wunderbegriff betrifft einmalige, überraschende, unverfügbare Ereignisse, die das Leben heilvoll und nachhaltig verändern (Befreiung, Erlösung, lat. liberatio). Wunder im kontingent-liberativen Sinne sind nicht gegen Naturgesetze gerichtet, sondern sprengen den Rahmen des Normalen, Gewöhnlichen, allgemeiner Lebenserfahrung oder statistischer Wahrscheinlichkeit.1 Auf sie passt der gr. Terminus parádoxon. Solche Ereignisse


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