Wunder. Kurt Erlemann
zieht sich Pamphile fasernackt aus. Nachher schließt sie eine Lade auf, woraus sie verschiedene Büchschen nimmt. Eines von diesen Büchschen öffnet sie und holt daraus eine Salbe, die sie so lange zwischen beiden Händen reibt, bis sie völlig zergangen ist, alsdann beschmiert sie sich damit von der Ferse bis zum Scheitel. […] In einem Augenblick sind auch starke Schwungfedern gewachsen, hornicht und krumm ist die Nase; die Füße sind in Krallen zusammengezogen. Da steht Pamphile als Uhu! Sie erhebt ein gräßliches Gekrächze und hüpft zum Versuche am Boden hin. Endlich hebt sie sich auf ihren Flügeln in die Höhe und in vollem Fluge hinaus zum Erker! Also ward Pamphile vorsätzlicherweise durch ihre magische Wissenschaft verwandelt […].“1
b) Führungswunder
Führungswunder versetzen Menschen urplötzlich an von der Gottheit vorbestimmte Orte und auf Wege. Klassisches Beispiel ist Odysseus, der über lange, göttlich gesteuerte Irrfahrten an sein vorbestimmtes Ziel gelangt. Auch der Exodus Israels aus Ägypten, die anschließende Wüstenwanderung und die Landnahme-Erzählung lesen sich als fortgesetzes Führungswunder.1 Der Heilige Geist erweist sich durch überraschende ‚Umleitungen‘ der Apostel als Lenker der Weltmission (Apg 8,26–29.39f.; 10; 16,6–10 u.a.).
c) Entrückungen
Entrückungen an ferne oder himmlische Orte sind eine Möglichkeit göttlicher, wunderhafter Führung. Jesu Himmelfahrt ist eine Entrückung in der Tradition Elias (Lk 24,50–53par. Apg 1,9–11; vgl. 2 Kön 2); Henoch wird in den Himmel entrückt (Gen 5,24), ähnlich, wie Herakles im gr. Mythos unter die Götter versetzt wird. Der Heilige Geist entrückt Philippus zum nächsten Einsatzort (Apg 8,39f.). Entrückungen in den Himmel dienen in apkl. Texten der Kundgabe göttlichen Wissens.1 Dieses ist nach der Rückkehr des Visionärs den Menschen kundzutun. – Über die Entrückung des Herakles schreibt Diodorus Siculus (1. Jh. v. Chr.):
(Herakles ist dem Sterben nahe) „Der Gott aber gab das Orakel, Herakles solle mit der Kriegsrüstung auf den Öta gebracht werden und man solle in seiner Nähe einen großen Scheiterhaufen errichten; um die übrigen Dinge aber, sagte er, werde sich Zeus kümmern. Als die Leute um Jolaos das Angeordnete getan hatten und als sie aus einer Entfernung das, was geschehen würde, erwartungsvoll beobachteten, gab Herakles die Hoffnung für sich auf, bestieg den Scheiterhaufen und ermahnte jeden, der hinzukam, den Scheiterhaufen anzuzünden. Da aber keiner zu folgen wagte, ließ sich allein Philoktet überreden. Er empfing als Dank für den Dienst die Pfeile als Geschenk und zündete den Scheiterhaufen an. Sogleich fielen Blitze vom Himmel herab, und der ganze Scheiterhaufen loderte auf. Danach kamen aber die Leute um Jolaos zur Sammlung der Gebeine. Und sie fanden überhaupt keinen einzigen Knochen und nahmen daher an, daß Herakles den Orakeln gemäß aus den Menschen zu den Göttern versetzt worden sei.“2
d) Kosmisch-apokalyptische Zeichen
Kosmisch-apkl. Zeichen kündigen endzeitliche Großereignisse, wie die allgemeine Totenauferstehung und die Parusie Christi, an.1 – Jesus selbst verweigert kosmische Zeichen als Beweis seiner Vollmacht (Mk 8,11; Mt 12,38–40). – Der jüdische Targum Pseudo-Jonathan (1.–3. Jh. n. Chr.) zu Num 11,26 schildert kosmische Zeichen im Kontext des apkl. Endzeitdramas:
„Siehe, ein König wird ausgehen vom Land Magog am Ende der Tage. Er wird versammeln Könige, die Kronen tragen, und Befehlshaber, die Rüstung tragen, und alle Völker werden ihm gehorchen. Sie werden eine Schlacht anzetteln im Lande Israel gegen die Kinder der Zerstreuung, aber der Herr wird bereit sein, für sie auszubrennen den Atem des Lebens aus ihnen mit der Feuerflamme, die hervorkommt neben dem Thron der Herrlichkeit. Ihre toten Leiber fallen auf die Berge des Landes Israel, und die wilden Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels werden kommen und sie vertilgen. Danach werden alle Toten Israels auferweckt werden und werden genießen die guten Dinge, die geheim für sie bereitgehalten worden sind seit Anbeginn, und sie werden empfangen die Vergeltung ihrer Arbeit/Mühe.“2
e) Schadenzauber
Fluchformeln und Gebete der ‚schwarzen Magie‘ sollten die Götter dazu bewegen, bestimmten Menschen Schaden zuzufügen. Wunderhaft ist die unerwartete und unabwendbar scheinende Wirkung dieser Praktiken. 1 Sam 28 lehnt Schadenzauber strikt ab und stellt ihn unter göttliche Strafe (Totenbeschwörung der ‚Hexe‘ von Endor → 1.7.4).1 – Plinius der Ältere (1. Jh. n. Chr.), nat. 28,29, berichtet über die Wirkmacht von Schadenzauber:
Plinius behauptet, „dass es niemanden gäbe, der sich nicht fürchte, durch irgendwelche schaurigen Beschwörungen […] verflucht zu werden […]. Wo besteht die Gefahr? Überall. Es drohen gesundheitliche Schäden, mangelnde Konzentrationsfähigkeit in intellektuellen Berufen […], wirtschaftlicher Misserfolg, Liebeszwang zu einer Person hin, Frigidität gegenüber anderen […].“2
Eine Fluchtafel mit einem Rachegebet aus Groß-Gerau beinhaltet die Bitte um Verfluchung der Verräterin Priscilla:
„Größter aller Götter, Atthis, Herr, Gesamtheit der zwölf Götter (des Pantheons)! Ich überantworte den Göttinnen mein ungerechtes Schicksal, auf daß ihr mich an Priscilla, Tochter des Carantus, rächt, die den großen Fehler beging zu heiraten. Bei Eurer Großen Göttermutter, rächt die altererbten Geheimnisse (oder: die Geheimnisse des Paternus). Priscilla soll zugrunde gehen! Bei der großen Göttermutter, rächt Eure große Göttlichkeit bald, innerhalb von hundert(?) Tagen, an Priscilla, die meine Geheimnisse verrät! Priscilla erachte ich als absolut null und nichtig. Sie hat einen Nichtsnutz(?) geheiratet, weil Priscilla (ebenso) geil wie irre ist.“3
f) Prophetische Zeichenhandlungen
Staunenswerte Zeichenhandlungen sind das Markenzeichen von Hosea und Ezechiel. Sie bilden das kommende Unglück Israels ab.1 Auch Jes 20,3 und Jer 28 bieten Zeichenhandlungen. Die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20parr.) ist kein Strafwunder, sondern ein Hinweis auf die Macht des Gebets. Das Fischwunder Lk 5,1–11 läuft auf das Menschenfischer-Wort V. 10f. zu und ist damit auch als Zeichenhandlung verstehbar.
1.6.10 Wundersummarien
Wundersummarien fassen die Heilungs- und Exorzismustätigkeit Jesu oder der Apostel zusammen.1 Die Frage des Täufers nach Jesu Identität beantwortet dieser mit dem Hinweis auf zahlreiche Wundertaten als Erfüllung prophetischer Verheißung (Mt 11,5par. Lk 7,21f.; vgl. Lk 4,18–21).
1.6.11 Wunder im Neuen Testament – Textgrundlage
Grundlage der weiteren Ausführungen sind nicht nur Wundertexte im formkritischen Sinne, sondern auch Wunder an Jesus und den Aposteln, kurze Erwähnungen von Wundern, Wunder anderer Wundertäter sowie wunderhafte Geschehnisse wie Epiphanien, Metamorphosen und kosmische Zeichen.1
a) Wunder Jesu
Die Evangelien bieten ca. 35 Wundererzählungen Jesu (ohne Parallelüberlieferungen). Hinzu kommen Wundersummarien. Abgesehen von Strafwundern und Schadenzauber, sind alle Wundergattungen vertreten.
1 Heilungswunder/Therapien: Abgesehen von Exorzismen und Normenwundern, enthält das MkEv sieben Therapien: (1) Mk 1,29–31parr. Mt 8,14f.; Lk 4,38f. (Schwiegermutter des Petrus; in Lk 4,38f. als Exorzismus stilisiert); (2) Mk 1,40–45parr. Mt 8,2–4; Lk 5,12–16 (Aussätziger); (3) Mk 2,1–12parr. Mt 9,1–8; Lk 5,17–26; EvNik 6 (Gelähmter); (4) Mk 5,25–34parr. Mt 9,20–22; Lk 8,42–48 (Blutflüssige); (5) Mk 7,31–37 (Tauber); (6) Mk 8,22–26 (Blinder); (7) Mk 10,46–52parr. Mt 20,29–34; Lk 18,35–43 (Bartimäus). – Matthäus und Lukas kennen darüber hinaus folgende Therapien: Mt 8,5–13parr. Lk 7,1–10; Joh 4,46–54 (Hauptmann von Kapernaum); Mt 9,27–31 (zwei Blinde); Lk 17,11–19 (zehn Aussätzige); Lk 22,50f. (Ohr des Soldaten).
2 Exorzismen fehlen im JohEv. Markus bietet vier Texte: Mk 1,23–28par. Lk 4,33–36 (Kapernaum); Mk 5,1–20parr. Mt 8,28–34; Lk 8,26–39 (Gerasener); Mk 7,24–30par. Mt 15,21–28 (Frau aus Syrophönizien); Mk 9,14–29parr. Mt