Wunder. Kurt Erlemann
aufgrund undurchsichtiger Praktiken und fragwürdiger Wirkungen als dämonische Zauberei;3 mágos (Magier) und goétes (Gaukler, Zauberer, Scharlatan) werden mitunter synonym verwendet.4 Das röm. Zwölftafelgesetz (5. Jh. v. Chr.) stellt Schadenzauber unter Strafe.5 Apollonius von Tyana und andere Wundertäter stehen unter Magieverdacht (VitApoll 8,7.2f.; Josephus Bell 2,262f.; Ant 20,92.167f.).
Die Unterscheidung zwischen Magie und religiös anerkannten Wunderpraktiken fällt schwer. Merkmale der Magie sind das Gottesbild (Gott ist manipulierbar; synkretistisches Denken) und die Erfüllung fragwürdiger Wünsche wie Schadenzauber6 auf Bestellung (weiter → 2.3.4). – Dtn 18,9–12 verbietet Zauberei, Wahrsagerei, Totenbeschwörung und Ähnliches mehr. Die Apg bietet intensive Magierpolemik. Die Apostel überwinden die Magier mithilfe des Heiligen Geistes und demonstrieren damit ihren Wahrheitsanspruch.7
Schriftliche, meist fragmentarisch erhaltene Zeugen antiker Magie sind Zauberbücher, Zauberpapyri, Zaubersprüche, Amulette, ‚Voodoo‘-Püppchen und Fluchtäfelchen (lat. defixiones) aus dem 1. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr.8 Ägyptische Priester verfassten im Rahmen des ägyptischen Tempelkults (‚Haus des Lebens‘) Rezepturen für magische Anwendungen.9 Sie arbeiteten in hell.-röm. Zeit im gesamten Römischen Reich als Magie-Dienstleister. Das methodische Spektrum umfasst Schaden- und Beziehungszauber, Nekromantie, das Herbeirufen jenseitiger Mächte (Invokation), Dämonenbeschwörung, medizinische Maßnahmen (etwa gegen Fieber), die Herstellung von Amuletten, Kleinwunder (Unsichtbarmachen, verriegelte Türen öffnen, Spielglück u.ä.) und (Traum-)Visionen. Apg 19,19 berichtet von der demonstrativen Verbrennung wertvoller Zauberbücher.
1.7.4 Schamanismus
Ein Schamane ist ein „Zauberpriester, bes. bei asiat. u. indones. Völkern, der mit Geistern u. den Seelen Verstorbener Verbindung aufnimmt.“1 Religionsgeschichtlich betrachtet, sind Schamanen bzw. Medizinmänner Mittler zwischen Menschen und Gottheiten in ‚primitiven‘ Stammesgesellschaften.2 Sie stellen Kontakt mit jenseitigen Mächten her, um deren Kräfte für menschliche Belange zu nutzen. Die Kontaktaufnahme erfolgt mittels (Opfer-)Riten, Musiktherapie, Jenseitsreisen in Trance und Totengeleit. Ziel ist es, von Dämonen geraubte Seelen zurück in die zugehörigen Körper zu holen, um eine innere Harmonie im Menschen zu erreichen und dadurch Heilung zu bewirken.
1 Sam 28 verurteilt Jenseitskontakte als Verstoß gegen das Erste Gebot. Die schamanische Praxis der ‚Hexe‘ von Endor hat zwar Erfolg – der Geist des verstorbenen Propheten Samuel kommt zurück –, König Saul als Auftraggeber wird jedoch bestraft.3 Antike Heiler und Visionäre wie Epimenides (7. Jh. v. Chr.), Pythagoras (6. Jh. v. Chr.), Empedokles (5. Jh. v. Chr.), Apollonius von Tyana (1. Jh. n. Chr.) und Alexander von Abonuteichos (2. Jh. n. Chr.) gelten in der Forschung als Schamanen. – Zur schamanischen Deutung Jesu → 3.3.3.
1.7.5 Mythos
a) Klassische Definition
Der Duden definiert Mythos als „Sage und Dichtung von Göttern, Helden und Geistern [der Urzeit] eines Volkes“ bzw. als „legendär gewordene Gestalt od. Begebenheit, der man große Verehrung entgegenbringt.“1 Im Fokus stehen hier die gr. Götter- und Heldensagen. Ihre Merkmale sind die Personifizierung abstrakter, unbegreiflicher oder bedrohlicher Naturmächte, die Durchlässigkeit zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre und die posthume Deifizierung wichtiger Gestalten der geschichtlichen Frühzeit. Mythen sind historisch nicht verifizierbar, transportieren aber das Selbstverständnis antiker Kulturen. – Auch biblische Wundertexte werden zum Teil als supranaturale Mythen gewertet; ihr Wahrheitsgehalt wird daher auf einer übertragenen Sinnebene gesucht (→ 3.2.3).
b) Moderner Mythosbegriff
Den poetischen Charakter des Mythos arbeitet Kurt Hübner heraus:
„Der Mythos ist ein weitgehend kohärentes Erfahrungssystem; es beruht auf Grundvorstellungen, mit denen das Seiende und Wirkliche im allgemeinen aufgenommen, geordnet und gedeutet wird.“1
Als poetische Wirklichkeitsdeutung verweise er auf metaphysische oder tiefenpsychologische Wahrheiten und arbeite menschlichen Urängsten entgegen. Für Klaus Berger sind Mythen Reminiszenzen an göttliche Epiphanien und Hinweise auf verborgene göttliche Zeichen in der Welt.2 Mythen sind nicht irrational, sondern folgen, so Berger, einer eigenen Logik, die um die Erfahrung verdichteter Wirklichkeit und göttlicher Macht kreist. Von hier aus ergebe sich eine neue Perspektive auf die Alltagswirklichkeit.3
c) Mythos als Gattungsbegriff
Konstante Formelemente einer literarischen Gattung ‚Mythos‘ fehlen. Mythische Elemente begegnen in unterschiedlichen Literaturgattungen und darüber hinaus in nicht-literarischen Bereichen. Sie thematisieren jenseits des historisch Beweisbaren den Grenzübertritt zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Ihr Zweck ist es, soziokulturelle Gegebenheiten ätiologisch zu erklären bzw. die Bedeutung bestimmter Menschen für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur hervorzuheben. Ein historischer Wahrheitskern des Erzählten bleibt davon unberührt.
d) Fazit: Ankerpunkte des kollektiven Gedächtnisses
Mythische Texte erklären ätiologisch, unter Verweis auf vorgeschichtliches, göttliches Wirken, politische, religiöse und gesellschaftliche Gegebenheiten. Die wissenschaftlich-rationale Weltsicht sieht in Mythen Relikte eines überholten Weltbildes. Doch leben Mythen und mythische Erfahrungen bis heute weiter. Charakteristisch ist dabei der Eindruck sich verdichtender, konzentrierter Wirklichkeit; die Grenzen von Raum und Zeit scheinen durchlässig. Mythische Ereignisse haben eine eigene Qualität: Sie werden als eminent bedeutsam erfahren und werden zu Ankerpunkten des kollektiven Gedächtnisses.1
1.7.6 Rationalismus
Rationalismus (von lat. ratio: Vernunft, Verstand) bezeichnet eine wissenschaftliche Grundhaltung, eine metaphysische Theorie, ein erkenntnistheoretisches Prinzip und eine Epoche der europäischen Aufklärung, welche die ratio des Menschen zum alleinigen Ausgangspunkt philosophischer Welterklärung machte.1 René Descartes (1596–1650) erklärte die Vernunft zur Erkenntnisquelle schlechthin. Dies führte zur Loslösung der Philosophie sowie der Natur- und Humanwissenschaften von Theologie und Kirche mit ihrem bis dato normativen Welterklärungsmodell. – Als wahr gilt rationalistisch nur das, was rationale Logik, naturwissenschaftliches Experiment, empirische Untersuchung oder historische Forschung erklären bzw. beweisen können. Wissenschaftlich nicht erklärbare Phänomene wie die Wunder Jesu unterliegen einer Grundsatzkritik und werden als Relikte einer vorwissenschaftlichen Weltbetrachtung bzw. als unwahr etikettiert. – Der Rationalismus führte auf Seiten aufgeklärter Theologen zum breit angelegten Versuch, biblische Wundertexte rational zu erklären (→ 3.2.2).
1.7.7 Spiritualität
Der lat. Begriff spiritualis (gr. pneumatikós, geistlich) bezeichnet eine persönlich-religiöse, auf Gottesbeziehung und Ethik ausgerichtete Lebenshaltung jenseits des regulierten kirchlichen Lebens bzw. den emotionalen Bereich des Glaubens.1 Der Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988) definiert Spiritualität als
„praktische und existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“2
Spiritualität enthält einen religionssoziologischen (individuelle Frömmigkeit, überkonfessionelle Gemeinschaftserlebnisse, unkirchliches Interesse an einem göttlichen Mysterium), einen religionspsychologischen (Spiritualität als besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung) und einen religionsgeschichtlichen Aspekt (Gnostizismus, Esoterik). Gemeinsam ist die Abgrenzung von intellektuell-theologischer und dogmatisch-liturgisch festgelegter, religiöser Praxis. Der Begriff Spiritualität bleibt jedoch schillernd; eine übergreifende Definition versucht der Mediziner Arndt Büssing (*1962):
„Mit