Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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Ursprungs bewusst ist (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z.B. Gott, Allah, JHWH, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u.a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die durchaus auch nicht-konfessionell sein kann. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen.“3

      Spiritualität gibt es in jeder Religion. Spirituelle Praktiken sind Meditation, Kontemplation, Askese, mystische Versenkung, Exerzitien, Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kirchenmusik und Glaubenskurse. Ein profaner Begriff von Spiritualität hebt dagegen auf allgemeine Sinn- und Wertfragen ab.4

      a) Religionssoziologischer Aspekt: Das frühe Christentum kennt eine individuelle Spiritualität. Von der spirituell-mystischen Gottesreich-Vorstellung aus (Lk 17,20f.; EvThom Log 113) entwickelte sie sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Gegenwart. Spiritualität ist tendenziell überkonfessionell. Im Gefolge der Postmoderne hat unkirchliche Spiritualität Hochkonjunktur (Meditation, Mystik, Pilgerfahrten). Das weist auf eine neue Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und auf eine sich etablierende religiöse Alternativkultur hin.5 Diese ist von der Grundtendenz her monistisch-synkretistisch ausgerichtet.6

      b) Religionspsychologischer Aspekt: Spirituelle Wirklichkeitserfahrung folgt nicht den Regeln wissenschaftlich-rationalen Denkens, sondern einer eigenen Logik. Ähnlich wie bei mythischen Erfahrungen ist die Konzentration bzw. Verdichtung von Wirklichkeit, Macht und Zeit charakteristisch.7

      c) Religionsgeschichtlicher Aspekt: Im antiken und modern-esoterischen Gnostizismus zielt Spiritualität auf die innere Harmonie des göttlichen Wesenskerns im Menschen mit der das All durchwaltenden Weltseele sowie auf innere Erleuchtung und erlösendes Wissen (gr. gnósis). Letzteres bezieht Elemente verschiedener Kulte und Religionen mit ein (esoterischer Synkretismus). Typisch ist der Rekurs auf keltische und germanische Kulte, auf Schamanismus und Magie sowie auf fernöstliche Religionen (z.B. Zen, Yoga → 1.7.3f.).

      1.7.8 Mystik

      Mystik ist ein Begriff mit unklaren Konturen.1 Laut DUDEN ist Mystik eine

      „besondere Form der Religiosität, bei der der Mensch durch Hingabe u. Versenkung zu persönlicher Vereinigung mit Gott zu gelangen sucht; vgl. Unio mystica.“2

      Mystisch sind Erfahrungen unmittelbarer Gottesbegegnung und klarster Erkenntnis. Mystik ist, so betrachtet, eine intensive Form der Spiritualität. Mystische Erfahrungen sind wie Wunder unverfügbar, nicht reproduzierbar und setzen eine religiös-mystische Optik auf die Wirklichkeit voraus. Auch Wunder haben eine mystische Dimension: das Einswerden zwischen menschlichem Gebet, Glauben und Hoffnung mit der erbarmenden, liebenden Zuwendung des göttlichen Wundertäters. Das Einswerden mit Gott setzt die Aufhebung der Grenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt voraus. (Traum-)Vision und Audition, Ekstase, Glossolalie, Prophetie, Inspiration, Gebete und Askese sind Wege dorthin.

      Okkulte Kontaktaufnahme mit jenseitigen Mächten wie Engeln, Dämonen oder den Geistern Verstorbener gehört nicht zur Mystik. Der mystische Kontakt beschränkt sich im NT auf Gott oder den erhöhten Christus, der als Einziger autorisierte Auskünfte über Gott machen kann (Joh 1,18).3 – Mystik ist auch eine Facette apokalyptischen Denkens. Entrückungen und Himmelsreisen sorgen für mystische Erfahrungen (Paulus: 2 Kor 12,1–4; Johannes: Apk 4ff.). Entrückt in die göttliche Sphäre, bekommen die Visionäre Einsicht in jenseitige oder zukünftige Vorgänge. Das Gesehene muss zum Teil von Deuteengeln entschlüsselt werden und unterliegt der Geheimhaltung; nur zu bestimmten Zeiten und an ausgewählte Adressaten darf es veröffentlicht werden.

      1.7.9 Weiche Fakten

      Weiche Fakten sind solche, die sich, wie etwa Wunder, naturwissenschaftlich-empirisch weder erklären noch beweisen lassen. Ihre Wahrheit erschließt sich Wahrnehmungsarten jenseits der nüchtern-analytischen Optik auf die Wirklichkeit.

      Beispiele: Wer atl. Weisheit zustimmt, für den sind Sprichwörter wie ‚Lügen haben kurze Beine‘ wahr. Für Esoteriker steht der Einfluss des Mondes auf Alltagsphänomene außer Zweifel. Musikliebhaber sehen in manchen Kompositionen regelrechte Offenbarungen. Kunstbeflissenen Menschen ergeht es mit Exponaten moderner Kunst ähnlich. Begegnungen mit dem Göttlichen sind für religiös-mystisch gestimmte Menschen real erlebbar. Liebende sehen in ihrem Gegenüber einen ganz besonders liebenswerten Menschen. – Nichts von alledem ist beweisbar, steht aber für Menschen mit entsprechendem Sensus außer Frage.

      Bestimmte weiche Fakten sind nur für Einzelne wahrnehmbar (Visionen, Träume), andere für Gruppen von Menschen, die dieselbe Wahrnehmung teilen (z.B. Therapien, Speisungen). Voraussetzung ist die Offenheit für die religiös-mystische Dimension der Wirklichkeit und die intensive Beziehung zu einem gleichgestimmten Gegenüber. Wunder sind das Ergebnis eines Einswerdens von Gott und Mensch oder gleichgestimmter Menschen untereinander (→ 3.6.3). Dieses Einswerden führt zu intensiven, mitunter umstürzenden und befreienden Erfahrungen, die für die Betroffenen und Augenzeugen durchaus real sind. Weiche Fakten haben für sie eine Wertigkeit, die harten Fakten vergleichbar ist, selbst wenn sie rational nicht beweisbar sind. Die Wahrheit weicher Fakten ist zum Teil intersubjektiv vermittelbar, ‚objektiv‘ überprüfbar und an ihrer Wirkung erkennbar, aber nicht im Sinne rationaler Kausalität beweisbar.1

      1.7.10 Faktualität/Fiktionalität

      Diese literaturwissenschaftlichen bzw. erzähltheoretischen Kategorien umschreiben den Wahrheitsanspruch eines Textes.1 Vor dem Hintergrund des wissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs bilden Faktualität und Fiktionalität ein Gegensatzpaar – tertium non datur. Faktual sind demnach Texte, die sich auf ein konkretes historisches Geschehen beziehen. Faktualität ist semantisch, textpragmatisch oder durch Kontextbezug ausweisbar und ist nicht gleichbedeutend mit Faktizität. Faktizität meint die minutiös korrekte Wiedergabe des historischen Ereignisses (Zeitungsmeldung, Nachrichtensendung), Faktualität lediglich den grundsätzlichen Verweis auf eine historische Grundlage. Geschichtsschreibung, Reportagen, Zeugenberichten und Ähnlichem kommt insofern keine Faktizität zu, als sie das real Geschehene subjektiv deuten und darstellen.

      Fiktional sind dagegen Texte, die sich als Phantasieprodukt zu erkennen geben (Märchen, Gleichnis, Fabel, Mythos, Roman, Lyrik, Traumvision). Fiktionalität ergibt sich aus der Semantik (z.B. die Märchen-Einleitung ‚es war einmal‘, die Überschrift ‚Gleichnis‘ u.ä.) oder aus dem unrealistisch-fiktiven Sujet (Fiktivität: Tiere als Handlungsträger, sprechende Pflanzen, Superhelden u.a.). Die ‚Wahrheit‘ fiktionaler Texte ist jenseits der wörtlichen Sinnebene zu suchen.

      Ein fiktionaler Text kann durchaus reale Erzählelemente enthalten, ein faktualer Text kann auch fiktive Erzählzüge tragen. Gleichnisse erzeugen den Eindruck von Pseudo-Realistik; die alltäglich, realistisch anmutende Erzählwelt wird durch extravagante, die Realistik sprengende, Erzählzüge durchbrochen. Solche Extravaganzen fungieren als Hinweis (Transfersignal) auf eine weitere Sinnebene. Da faktuale Erzählungen immer auch fiktive, der subjektiven Deutung geschuldete, Elemente und fiktionale Texte durchaus realistische Züge beinhalten, verlaufen die Grenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität fließend. – Aus dem Gesagten ergeben sich vier grundsätzliche Erzählmodi:

      Faktuale und fiktionale Erzählungen

      Anhand dieser Kategorien wird über das Verhältnis zwischen Erzähltem und Erzählung in Wundertexten nachgedacht. Konzediert wird ihnen ein faktualer Anspruch: Sie weisen auf historisches Geschehen hin (vgl. Mt 11,5; Lk 1,1–4; 4,18–21 u.a.). Dieses Geschehen (Wundertaten Jesu) wird indes kontrovers beurteilt. Seine Faktizität (genau so ist es geschehen!) wird gemeinhin bestritten. Das historische Geschehen sei allenfalls in Grundzügen real (Jesus hat erstaunliche, aber rational erklärbare Dinge getan) und hermeneutisch sei es irrelevant. Damit wird die historische Wunderfrage relativiert. Das führt zu Aussagen


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