Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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der Aussage über die Person.“2 Oder: „Die Wahrheit solcher Geschichten liegt nicht in historischen Tatsachen vor 2000 Jahren, sie liegt darin, dass, wer sie liest, selber sie wahrmacht in der eigenen Person, durch Taten im eigenen Leben.“3 Oder: „Die Wundergeschichten erzeugen mit ihren faktualen Anteilen ein Porträt des Wundertäters Jesus, das in der damaligen Alltagswelt eine plausible Realität besaß. Alle faktual berichteten Heilungen und Naturwunder waren real möglich, mussten aber nicht auf historisch verifizierenden Fakten beruhen.“4

      Kritik: Wundertexte verweisen auf weiche Fakten, das heißt: Der faktuale Anspruch der Wundertexte bezieht sich auf ein historisches Geschehen, das nur subjektiv von einem Menschen (Vision, Traum, Epiphanie) oder intersubjektiv von einer Gruppe von Menschen als reales Geschehen wahrgenommen werden kann (z.B. Therapie, Rettung, Sättigung). Was für diese Menschen Realität ist, ist für andere Menschen phantastische Fiktion. Die Entscheidung über Faktualität und Fiktionalität fällt nicht in der Semantik des Wundertextes, sondern in der Optik auf die Wirklichkeit. Die historische Wunderfrage ist nicht nüchtern-analytisch, sondern religiös-mystisch zu klären und hängt von der Bereitschaft ab, die Phantastik des Erzählten als reale Erfahrung zu verstehen bzw. das ‚Unmögliche‘ des Wunderhaften für real erfahrene und real erfahrbare Wirklichkeit zu halten.

      Harte Fakten, weiche Fakten und Fiktion

      Die Grafik verdeutlicht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsarten bzw. Optiken auf die Wirklichkeit (→ 3.6.2d) und der Wahrnehmbarkeit von harten Fakten (HF), weichen Fakten (WF) und Fiktion (Fi). Die Grafik zeigt, dass die kindlich-vorrationale Optik das weiteste und die nüchtern-analytische Optik das engste Wahrheits- bzw. Wahrnehmungsspektrum aufweist. Die religiös-mystische Optik bewegt sich dazwischen und erfasst auch religiöse oder mythische Dimensionen harter Fakten, was der nüchtern-analytischen Optik nicht möglich ist. Was für diese Optik irrational und fiktiv erscheint (WF, Fi), ist aus religiös-mystischer bzw. kindlich-vorrationaler Optik durchaus wahrnehmbar real. Die Entscheidung, was faktual, faktisch und fiktiv ist, wird je nach Wahrnehmungsart unterschiedlich bewertet. Dazu kommt, dass auch die nüchtern-analytische Optik nie frei von Deutung der Wirklichkeit ist. Eine Fiktion ist daher die Rede von Objektivität im Sinne unverfälschter, von subjektiven Einflüssen freier Beschreibung eines Vorgangs.

      2 Historische Fragestellungen

      Das Kapitel beleuchtet das Welt- und Menschenbild der Wundertexte (2.1), ihr medizin- und religionsgeschichtliches Umfeld (2.2) sowie Jesu historische Außenwahrnehmung (2.3). Überlegungen zur Genese des ntl. Wunderglaubens (2.4) und zur polarisierenden Wirkung der Wunder Jesu (2.5) runden das Kapitel ab.

      2.1 Welt- und Menschenbild

      Eine Kontrastierung von antik-biblischem und neuzeitlich-modernem Welt- und Menschenbild ist nicht möglich, da beides in sich uneinheitlich ist.

      2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit

      Das ntl. Weltbild lässt sich modellhaft als Haus mit drei Etagen (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) beschreiben. Die Grenzen zwischen den Etagen sind durchlässig. Natürliche Kausalitäten können von göttlichen Kräften unterbrochen werden. Spürbare Wirkungen göttlichen Eingreifens sind z.B. Krankheiten, Wunder und Segen. Spirituell-mystische Erfahrungen mit der göttlichen Sphäre durchziehen die Bibel (z.B. Gebete, Epiphanien, Wunder, heilige Orte und Zeiten).1

      2.1.2 Monotomisches Menschenbild

      Die gr.-hell. Anthropologie ist dichotomisch (Körper/Seele) oder trichotomisch (Körper/Seele/Geist). Der Körper (gr. sóma) ist sterblich, Seele und Geist (gr. psyché bzw. nous) sind unsterblich.1 Laut AT und frühem Judentum ist der Mensch eine monotomische Einheit aus Körper und Seele.2 Körperliche Leiden weisen auf seelische Probleme (Sünde, Schuld) hin. An Leib und Gliedern (gr. méle) als Kontaktorganen zur Wirklichkeit vollzieht sich der kosmische Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten. Körperliche Heilung hat eine kosmische Dimension: Sie ordnet das Verhältnis des Menschen zu seiner Außenwelt heilvoll neu.3 Platonisch beeinflusst ist die paulinische Abwertung von vergänglichem Körper und Seele (äußerer Mensch) gegenüber dem unvergänglichen Geist (gr. pneúma, innerer Mensch).4 – Wunderhafte Heilungen wirken umfassend (Mk 2,1–12; Joh 5,14). Jesus ersteht auch körperlich auf (1 Kor 15,12–19).

      2.1.3 Wunderglaube und Wunderkritik

      Anstelle pauschaler Wundergläubigkeit oder gar Wundersucht herrschte im ntl. Zeitalter eine Mischung aus Wunderglauben und Skepsis.1 Der Glaube an Wundertaten der olympischen Götter ist Gegenstand gr. Mythendichtung.2 Als Mythen haben sie unhistorischen Charakter. Pausanias (Desc Graec 8,8,3) deutet sie symbolisch. – Ein mythisches Seenotrettungswunder dient als Beispiel:

      „Damals, als das Meer heranbrauste und sich von allen Seiten auftürmte, und nichts mehr zu sehen war als das drohende Verhängnis, und schon fast der Untergang besiegelt schien: da hast Du Deine Hand dagegen erhoben, hast den verhüllten Himmel aufgehellt und hast uns das Land schauen lassen und Landung ermöglicht, so wider alles Erwarten, daß wir selbst es nicht glauben wollten, als wir auf festen Boden traten.“3

      Antike Geschichtsschreiber sehen die Götter am Anfang der Weltordnung und unterscheiden zwischen unmöglichen, zu bezweifelnden Wundertaten (gr. adýnata, Totenerweckungen, Naturwunder) und möglichen, wenn auch überraschenden Wundertaten (gr. parádoxa, Heilungen u.ä.). Dieser Einschätzung folgt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus: Parádoxa des AT ordnet er göttlicher Vorsehung zu, die Glaubwürdigkeit von adýnata lässt er offen.

      Die Philosophie übt am Götter- und Wunderglauben Grundsatzkritik.4 Götter seien weltabgewandte Figuren oder abstrakte Prinzipien. Die Peripatetiker und Plinius der Jüngere (ca. 61–114 n. Chr.) deuten Wunder rational, für Lukrez (ca. 99–55 v. Chr.) und Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) sind sie unglaubwürdige adýnata. Lukian von Samosata (120–vor 180 n. Chr.) deutet Wundertexte allegorisch. Rational-kritisch äußert sich Philostrat (ca. 164–244 n. Chr.): Mythische Wunderberichte seien Ammenmärchen.5 Der Mittelplatoniker Kelsos (2. Jh. n. Chr.) übt massive Polemik gegen biblische Wundertexte.6 Für ihn ist Jesus ein trickreicher Magier und die Christen sind ungebildete Naivlinge.

      „Was über Heilungen oder eine Auferstehung aufgeschrieben wurde, oder über wenige Brote, die viele ernährt haben, von denen viele Reste übrig geblieben sind, oder all dies, was die Jünger phantasierend erzählt haben: Wohlan, wir wollen glauben, dass du all dies gewirkt hast. Sie sind aber mit den Werken der Zauberer gleichzusetzen, die noch wunderbarere Dinge versprechen, und mit dem, was die Schüler der Ägypter vollbringen, wenn sie mitten auf den Märkten für wenig Geld ihr ehrwürdiges Wissen abgeben: Sie treiben die Dämonen von den Menschen aus, blasen Krankheiten weg, rufen die Seelen der Heroen auf, zeigen kostbare Mahlzeiten und Tische und Näschereien und Leckerbissen, die es gar nicht gibt; sie setzen Dinge in Bewegung, als wären sie Lebewesen, die aber wirklich keine Lebewesen sind, sondern nur in der Einbildung als solche erscheinen. Da jene Leute solche Dinge tun können, müssen wir sie dann für Söhne Gottes halten? Oder müssen wir sagen, dass dies die Betätigungen von schlechten und von einem bösen Geist besessenen Menschen sind?“7

      In der Volksfrömmigkeit bleibt Götter- und Wunderglaube fest verankert; das erklärt die teils massive Polemik gegen Wunder(-glauben). Selbst manche Gebildete glauben an Wunder; darüber macht sich der Satiriker Lukian lustig.8

      2.1.4 Nebeneinander von Mythos und ratio

      Mythisches Denken gilt heutzutage als überholt und rational denkenden Menschen unzumutbar. Doch, wie antike Texte zeigen, bestanden Mythos und ratio immer schon nebeneinander. Auch sind mythische Erklärungsmuster längst nicht passé. Das provoziert ein Nachdenken über verschiedene Weltsichten (→ 3.6.2d).

      2.2


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