Wunder. Kurt Erlemann
in über vierhundert Asklepios- und Apollonheiligtümern organisiert1; Epidauros, Athen, Pergamon und Kos waren begehrte Zielorte vieler chronisch Kranker. Asklepiospriester bewirkten mit einem Mix aus medizinischen Therapien, Diätplänen, Reinigungsritualen, religiösen Opferriten, Inkubationsschlaf und Weihegeschenken Heilung.2 Auch die Epiphanie der Gottheit konnte Heilung bewirken. Die Grenzen zwischen Tempelmedizin und Wunderheilung waren fließend. – Aelios Aristides (2. Jh. n. Chr.) berichtet:
(Über die heilende Kraft der Asklepiosquelle): „Aber auch sonst gebraucht der Gott (sc. Asklepios) den Brunnen wie einen anderen Helfer, und vielen Menschen hat schon oft dieser Brunnen geholfen, um das zu erlangen, was sie von dem Gott erbeten hatten. Denn wie die Angestellten (wörtl.: Sklaven) der Ärzte und Wundertäter geübt sind zu den Dienstbarkeiten und durch ihre Mithilfe die in Erstaunen versetzen, die zuschauen und (die Hilfe) in Anspruch nehmen, so ist (der Brunnen) Erfindung und Besitz des großen Wundertäters (und) dessen, der alles zum Heil der Menschen tut. Er wirkt zusammen für alles mit ihm und wird für viele zum Heilmittel. Denn viele haben sich darin gebadet und (ihre) Augen (gesund) empfangen, viele aber haben ihn getrunken und wurden an der Brust geheilt und erhielten die notwendige Luft, anderen hat er die Füße gerichtet, anderen anderes. Es hat sogar einer getrunken und aus (vorangehender) Stimmlosigkeit heraus ließ er seine Stimme ertönen, so wie die, die aus den geheimen (verbotenen) Wassern trinken, seherisch werden. Anderen aber hat er an Stelle anderer (sc. Dinge das als) Rettung gewährt, daß sie eben das Wasser selbst ziehen konnten. Und so ist er für die, die krank sind, auf diese Weise Gegenmittel und heilsam, und denen, die gesund dahinleben, macht er den Gebrauch jedes anderen Wassers zu einer Sache minderen Werts.“3
2.2.2 Hippokrates: ‚Schulmedizin‘
Die Schule des Hippokrates von Kos (ca. 460–375 v. Chr.) baute auf Erfahrung, Naturheilkunde, Diagnostik und ‚Viersäftelehre‘. Von Diät bis zu chirurgischen Operationen reichte das Spektrum an Therapiemöglichkeiten. Religiöse oder magische Krankheitsvorstellungen lehnte Hippokrates ab; Epilepsie, die ‚heilige Krankheit‘, deutete er nicht dämonologisch, sondern wissenschaftlich:
„Hinsichtlich der so genannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: Kein bisschen scheint sie mir göttlicher zu sein als die anderen Krankheiten, noch heiliger, sondern die anderen Krankheiten haben eine Natur, woher sie entstehen, eine Natur und Ursache hat auch diese. Dass sie ein göttliches Werk sei, glauben die Menschen infolge ihrer Ratlosigkeit und weil es sehr verwunderlich ist, dass sie den anderen Krankheiten überhaupt nicht gleicht.“1
Lucius Columella (1. Jh. n. Chr.) berichtet von Valetudinarien (Kliniken), in denen die Arbeitskraft kranker Sklaven wiederhergestellt werden sollte. – Die hippokratische Schule fächerte sich mit der Zeit in Einzeldisziplinen wie Anatomie, Physiologie und Pathologie auf. Das gesammelte medizinische Wissen findet sich im Corpus Hippocraticum (ediert durch den Arzt Galen von Pergamon, 2. Jh. n. Chr.).
2.2.3 Wunderheiler u.a.: Volksmedizin
Neben der ‚Schulmedizin‘ sind ab dem 8. Jh. v. Chr. unabhängige Wanderärzte, Hebammen, Organspezialisten, Pharmahändler, Einreiber, Zauberer und Wunderheiler bezeugt.1 Besonders Letztere waren (wie heute) massiver Polemik seitens etablierter Ärzte ausgesetzt. Die Grenzen zwischen ‚Schulmedizin‘ und Wunderheilung waren fließend. Zur Zeit Jesu war schulmedizinische Versorgung der sozialen Oberschicht vorbehalten; das Gros der Bevölkerung war auf Volksmedizin und Wunderheiler angewiesen, die ihre Dienste zu Wucherpreisen anboten.2
2.2.4 Krankheit und Sünde
Krankheit galt im frühen Judentum als Folge von Sünde; der Umgang mit Krankheit und Behinderung war kultisch geregelt. Als einzig wirkkräftiger Arzt galt Gott selbst (Ex 15,26; Philo, sacr. 70); Hoffnungen auf einen messianischen Heiler waren groß (Mt 11,5; Lk 4,21). Etablierte Ärzte genossen keinen guten Ruf. Im NT wird die Arzt-Metapher auf Jesus übertragen (Lk 4,23; vgl. IgnEph 7,2).
Krankheit und Behinderung führten zu erheblichen sozialen und kultischen Konsequenzen. Das hatte mit einem abschreckenden Äußeren, mit Ansteckungsgefahr und religiösen Konzepten (Tun-Ergehen-Zusammenhang, kultische Reinheit) zu tun.1 Kultische Unreinheit bedeutete soziale Stigmatisierung bis hin zum Bettlertum.2 Das alles galt trotz des biblisch angemahnten Schutzes Behinderter.3 Auch jenseits des Judentums galt Krankheit als Folge von Sünde:
„Niemals ferner erschien er (sc. Demonax) schreiend oder in Zorn geratend oder unwillig, selbst dann nicht, wenn er jemenden tadeln mußte. Doch die Fehler (Sünden) griff er an, den Fehlenden (Sündern) aber verzieh er. Und er hielt es für richtig, das Vorbild von den Ärzten zu nehmen, die die Krankheiten heilen, gegenüber den Kranken aber keinen Zorn anwenden. Denn er dachte, daß das Fehlen (Sündigen) Merkmal des Menschen sei, Merkmal eines Gottes aber oder eines gottgleichen Menschen, Verstöße wieder in Ordnung zu bringen.“4 Und: „Wer von den Bürgern Lepra oder Aussatz hat, dieser geht nicht in die Stadt hinein, auch mischt er sich nicht unter die anderen Priester. Denn man sagt, daß gegen die Sonne gesündigt hat, der dieses hätte.“5
2.2.5 Exkurs: Krankheitsbilder im Neuen Testament
Das NT zeigt wenig Interesse an medizinischer Diagnostik; moderne Zuordnungen sind spekulativ.1 Fieber und Epilepsie gelten als Dämonenbefall.2 ‚Aussatz‘ (gr. lépra; Mk 1,40–45; Lk 17,11–19) könnte auf die Hansen-Krankheit, aber auch auf Schuppenflechte hindeuten.3 Eine ‚verdorrte Hand‘ (Mk 3,1, gr. exerraméne cheír) deutet auf Auszehrung, ‚Verkrümmung‘ (Lk 13,11, gr. gyné synkýptousa) auf einen Wirbelsäulendefekt. ‚Blutfluss‘ (Mk 5,25, gr. rhýsis haímatos) weist in Richtung chronischen Blutverlustes oder übermäßiger Menstruation.4 Die Symptomatik des ‚Mondsüchtigen‘ (Mt 17,15, gr. seleniázesthai) spricht für Epilepsie.
Jesus ist den Texten zufolge in der Wahl der Heilmethoden nicht wählerisch. Dämonisch erklärbare Krankheiten werden exorziert, psychogene Krankheiten mit vollmächtigem Wort kuriert, Augen- und Ohrenkrankheiten mit volksmedizinischen und magischen Mitteln wie Berührung und Speichel therapiert.5
2.3 Jesus und andere Wundertäter
Im Fokus steht hier nicht Jesu Einzigartigkeit oder seine religionsgeschichtliche Ableitbarkeit, sondern seine vermutliche historische Außenwirkung.
2.3.1 Alttestamentliche Wunderpropheten
Die Wunderberichte über Elia, Elisa und andere Propheten gehören zu den prominenten Prätexten der ntl. Wundererzählungen.1
a) Samuel und Nathan
Die Geburt Samuels zeigt Analogien zur Geburt Jesu: Sie ist unerwartet und göttlich bedingt (1 Sam 1f.). Samuel prophezeit verlässlich (1 Sam 3,21; 10,2–9) und wirkt ein Strafwunder (1 Sam 12). – Wunderhaft ist auch die Gabe des Propheten Nathan, der die geheimen Gedanken und Taten Davids erkennt (2 Sam 12).
b) Elia und Elisa
Der Elia-Elisa-Zyklus (1 Kön 17–2 Kön 13) zeigt ein breites Wunderspektrum: Elia bewahrt die Witwe von Sarepta vor großer Not, ihren Sohn erweckt er vom Tod (1 Kön 17,9–24). Er selbst wird wunderbar von Gott am Leben erhalten (1 Kön 17,1–8; Theophanie 1 Kön 19). – Das Gottesurteil auf dem Karmel und das anschließende Regenwunder (1 Kön 18) erweisen Gottes Allmacht. Ein Strafwunder (2 Kön 1,1–12) und die Himmelfahrt runden die Wundervita Elias ab (2 Kön 2,1–18).1 – Bei Elisa dominieren Hilfe- und Rettungswunder.2 Selbst postmortal wirkt er noch Wunder (2 Kön 13,20f.). Elisa ist der Prototyp des biblischen Wundertäters, der Menschen aus vielerlei Not hilft. – Ausschlaggebend ist das Vertrauen der Notleidenden in die Wunderkraft der Propheten. Wundermittel sind unter anderem das prophetische Wort, magisch anmutende Riten und Fernheilungen.
c) Schriftpropheten
Ez 37,1–14 bietet die Vision der wunderhaften Auferstehung Israels. Populär