Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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Kult- und sozialkritischer Sprengstoff

      Die Heilung nicht kultfähiger, ‚unreiner‘ Menschen, die Zuwendung zu Sündern und Zöllnern und erst recht die Reintegration jener Personen in Kult und Gemeinschaft rührte an die sozialen und religiösen Grundlagen der Zeit und provozierte energischen Widerstand seitens der jüdischen Führungsschicht.1

      Beispiele: Dem geheilten Aussätzigen befiehlt Jesus zu schweigen und schickt ihn zu den Priestern, um seine Kultfähigkeit zu zeigen (Mk 1,40–44; vgl. Lk 17,14). Die Durchbrechung des Schweigegebots zwingt Jesus zum Rückzug an einsame Orte (Mk 1,45). – Die Sabbatheilung des Blindgeborenen provoziert eine heftige Debatte, die mit dem Rauswurf des Geheilten aus der Synagoge endet (Joh 9,34; vgl. Mk 3,1–6). – Jesu Zuspruch der Sündenvergebung gilt als gotteslästerliche Kompetenzüberschreitung (Mk 2,5f.).2

      Jesus transportiert mit seinem Wirken auch ein provokantes Bild von Gott, der sich den ‚Verlorenen‘ in Israel und Nichtjuden zuwendet. Ansagen Johannes des Täufers und Jesu, wonach am Ende möglicherweise andere in den Genuss der Verheißungen kommen als die angestammten Verheißungsträger, sind ein Affront.3 Auch passt das (un-)politische Verhalten Jesu nicht zur Erwartung eines politischen Messias.4 Die Ablehnung Jesu entzündet sich demnach am Konflikt um politische, religiöse und gesellschaftliche Macht und Deutungshoheit.

      2.5.5 Fazit: Eschatologisch-kritische Funktion

      Die Evangelien arbeiten die polarisierende Wirkung der Wunder Jesu heraus. Die Wunder an sich stehen demnach außer Frage; Streitpunkt ist die Wundervollmacht. Die Wunder sind, was ihre Wirkursache angeht, uneindeutig und verwechselbar. Wer Jesus Glauben schenkt, sieht in den Wundern Gott am Werk, wer ihn ablehnt, stuft sie als satanisch gewirkte Magie ein. Wunder zielen auf glaubende Zustimmung und auf Lobpreis des Schöpfergottes. Die Geheilten und Augenzeugen, die zum Glauben finden, fungieren in den Wundertexten als Vorbilder.

      Die Wunder Jesu befördern den Trennungsprozess zwischen glaubenden Insidern und nicht-glaubenden Outsidern. Schweigegebote sollen diese Trennlinie zementieren. Zeichenforderungen lehnt Jesus ab; das unterstreicht die Funktion der Wunder. Die polarisierende Wirkung erklärt, weshalb Jesus trotz seines göttlichen Charismas abgelehnt und hingerichtet wurde; niedrige Beweggründe wie kultisch-politischer Machterhalt und religiöse Deutungshoheit spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Wundertexte appellieren mit dieser Darstellung an die Leserschaft, zu Insidern zu werden bzw. in die Nachfolge zu treten.

      2.6 Ergebnis: Die historische Plausibilität der Wunder Jesu

      Jesus von Nazareth war eine schillernde Figur. Seine Außenwahrnehmung oszillierte, er ließ sich nicht eindeutig einer bestimmten Gruppe zuordnen. Einige Wunder hatten magische Züge. Teilweise erinnerte Jesus an atl. und frühjüdische Wunderpropheten, teilweise war er als Halbgott oder menschlicher Wundertäer hell. Couleur wahrzunehmen. Sein Eigenprofil besteht in der Verbindung von Wundertaten und Reich-Gottes-Botschaft. In den Wundertaten wird punktuell und anfanghaft sichtbar und spürbar, was von Gottes Herrschaft zu erwarten ist: das Ende von Unrecht, Ausgrenzung, Krankheit, Leid, existenzieller Not und Tod. Die Wundertaten und -texte machen Gott in seiner Schöpfermacht, aber auch in seiner umfassenden Gerechtigkeit und Güte publik.

      Diese Botschaft provoziert und polarisiert. Gesellschaftlich Etablierte in Machtpositionen fühlen sich angegriffen und reagieren mit Widerstand, die Marginalisierten begegnen Jesus mit Hoffnung und Glauben. Mit ihrer polarisierenden Wirkung befördern die Wunder die eschatologische Scheidung (gr. krísis) zwischen Glaubenden und Unglaubenden. Der esoterische Zug im Wirken Jesu (vgl. die mk. Schweigegebote und die ‚Parabeltheorie‘ Mk 4,10–13parr.) unterstreicht das apokalytisch gefärbte Geschichtsbild, in welches das Wirken des erinnerten Jesus eingezeichnet wird. In diesem Rahmen appellieren die Wundertexte an die Leserschaft, Jesu Vollmacht anzuerkennen und zu Insidern zu werden.

      Die Historizität der Wunder ist nicht beweisbar. Wunder als Facette des Charismas Jesu gehören jedoch zu den plausiblen Wirkursachen für den sich entwickelnden Christusglauben. Reale Erfahrungen und Begegnungen der Menschen mit dem Charisma Jesu und mit der Präsenz des Auferstandenen erklären, wie sich der Christusglaube trotz des Traumas von Karfreitag fortsetzen und durchsetzen konnte. Nicht verbürgt die historische Wahrheit der Wunder die Glaubwürdigkeit des Evangeliums, sondern umgekehrt verbürgen historisch plausible Begegnungen und Erfahrungen die Wahrheit des Christusglaubens und der Wunder. Nicht verbürgt die historische Wahrheit des leeren Grabes die Glaubwürdigkeit der Auferstehung Jesu, sondern umgekehrt verbürgen historisch plausible Erfahrungen des Jüngerkreises die Wahrheit des Osterglaubens.

      Zur Genese des christlichen Wunderglaubens

      3 Grundlinien der Wunderforschung

      Die Abschnitte 3.1–3.4 skizzieren den Verlauf der Wunderdeutung bzw. -forschung von den Anfängen bis heute. Abschnitt 3.5 bündelt kritisch die Forschungsergebnisse anhand leitender Forschungsalternativen. Weiterführende Überlegungen zur Wundertheorie und -definition (Abschnitt 3.6) schließen das Kapitel ab.

      3.1 Wunderdeutung bis zur Neuzeit

      Das antike Deutungsspektrum zu Wundern und Wundertexten reicht von naiver Volksfrömmigkeit über rationale, mythische, allegorische Deutung, bis hin zu grundsätzlicher Skepsis, Spott, Unterscheidung zwischen adýnata und parádoxa sowie intellektueller Polemik. Die intellektuelle Wunderkritik spricht gegen die Annahme einer allgemeinen Wundergläubigkeit. Bernd Kollmann resümiert:

      „Jenseits gezielter Reflexion über eine bestimmte naturgesetzliche Ordnung und deren Durchbrechung stellt ein Wunder im antiken Denken ein Aufsehen erregendes Geschehen dar, das außerhalb des Gewohnten liegt und Hinweischarakter auf eine höhere Macht hat.“1

      3.1.1 Biblische und altkirchliche Deutung

      Das biblische Wunderzeugnis setzt Gottes Allmacht und die seines Sohnes glaubend voraus; grundsätzliche Wunderkritik findet sich nicht. Die Reaktion der Betroffenen reicht von Erstaunen und Entsetzen bis hin zu ekstatischer Begeisterung und Lobpreis. Selbst Jesu Gegner stellen seine Wunderkraft nicht in Zweifel (Mk 3,22–27; vgl. Apg 4,7); stattdessen fragen sie nach der (göttlichen oder satanischen?) Herkunft seiner Wundervollmacht (Mt 12,22–30parr.).

      Biblischer Wunderglaube und antike Wunderkritik hinterlassen ihre Spuren in der christlichen Wunderdeutung bis zur europäischen Aufklärung. Zur Verteidigung der christlichen Wahrheit und der biblischen Wundertexte verweist Justin der Märtyrer (ca. 100–165 n. Chr.) auf religionsgeschichtliche Analogien zwischen den Wundern Jesu und denen des Asklepios (Justin, Apologia I 22):

      „Sagen wir endlich, er habe Lahme, Gichtbrüchige und von Geburt an Sieche gesund gemacht und Tote erweckt, so wird das dem gleich gehalten werden können, was von Asklepios erzählt wird.“

      Johannes Chrysostomos (ca. 349–407 n. Chr.) äußert sich zu angeblichen Wundern seiner Epoche skeptisch; Wunder seien ausschließlich eine Erscheinung der christlichen Anfangszeit.1 Gregor von Nyssa (ca. 338–nach 394 n. Chr.) ist noch skeptischer: Wunderglaube sei ein Produkt mangelnder Kenntnis der Naturgesetze. Augustin von Hippo (354–430) sieht in den Wundern nicht notwendige Zeichen der Botschaft Gottes.2 Im Mittelalter gelten Wunder weithin als Beweise für Gottes Wirken in der Welt.3 Thomas von Aquin (1225–1275) argumentiert: Da Gott alleinige Wirkursache der Naturgesetze sei, könne er allein auch Wunder tun.4 Diese dienten der Bekräftigung der Wahrheit der Botschaft Christi; Gott als Wirkursache habe die Wunder an der Naturordnung vorbei gewirkt.5

      Im Hochmittelalter lösen zahllose Wunderberichte im Kontext von Heiligen- und Reliquienverehrung Massenhysterien aus, die sich zu Wallfahrten verstetigen.6 Angesichts dieses Wildwuchses verstärkt sich die Wunderkritik. Johannes Gerson (1363–1429) plädiert für ein spirituelles Wunderverständnis; die biblischen Wunder seien in den kirchlichen Sakramenten bleibend aufgehoben. Gegenwärtigen Wunderphänomenen sei prinzipiell zu misstrauen; sie könnten auch satanischer Herkunft


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