Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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(Mk 10,46–52) sinnbildlich für das mit Blindheit geschlagene, unerlöste, heidnische Menschengeschlecht, das von Jesus zur Erkenntnis geführt wird (vgl. Mt 20,29–34).8 Grundlage allegorischer Deutung ist das metaphorische Verständnis von ‚Blindheit‘ im Sinne innerer Blindheit bzw. des Unglaubens. Die Blindenheilung steht für die Erleuchtung, die zum ‚Sehen‘, das heißt zum Glauben, führt.9

      3.1.2 Wunder in der Reformationszeit

      Martin Luther (1483–1546) wertet die Wunder als Wirkursache des Glaubens ab.1 Das größte Wunder sei Jesu rettendes Wort (WA 14,312). Wunder seien, in Weiterführung von Johannes Chrysostomos, ein frühchristliches Phänomen. Wunderhafte Heiligenlegenden stellt Luther nicht in Abrede, macht ihre Relevanz jedoch davon abhängig, ob sie den rechtfertigenden Glauben fördern oder nicht (WA 10/3,81; 14,379). Wunder, die gute Werke provozieren wollen, lehnt Luther als Blendwerke des Antichristen ab (WA 34/2,441; 45,262). – In nachreformatorischer Zeit ist die Wunderfrage ein kontroverstheologisches Thema.2

      3.1.3 Fazit: Allegorisch-spirituelle Deutung

      1600 Jahre Wunderauslegung zeigen ein ambivalentes Bild: Eine teils ausufernde Wunderfrömmigkeit steht einer großen Skepsis führender Theologen, was die historische Wahrheit der Wundertexte anbelangt, gegenüber. Die Skepsis zeigt sich an der allegorischen und spirituellen Auslegungstendenz1; die supranaturale Wunderdeutung erfuhr demnach reichlich skeptisch-rationalen Widerspruch.

      3.2 Wunderdeutung in der Neuzeit

      Die im 17. Jahrhundert aufkommende, europäische Aufklärung erhebt den naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriff zur erkenntnistheoretischen Norm und stellt den (Wunder-)glauben grundsätzlich infrage.

      3.2.1 Ausgangspunkt/Grundlagen

      Mit der menschlichen ratio als Messlatte dessen, was wahr sein kann, wird die Kongruenz mit den deterministisch gedachten Naturgesetzen das entscheidende Beurteilungskriterium auch für biblische Wundertexte. An diesem Kriterium müssen sie scheitern; Wunder gelten fortan als Märchen oder Mythen bzw. als Ereignisse, die mangels Kenntnis der Naturgesetze lediglich für Wunder gehalten wurden. Mit der Wunderfrage steht die Wahrheit der Bibel und des Glaubens insgesamt auf dem Prüfstand. Baruch de Spinoza (1632–1677) argumentiert,

      „daß alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen“1 haben müssten.

      Da Gott nicht die von ihm selbst geschaffenen Naturgesetze habe durchbrechen können (Selbstwiderspruch Gottes!), seien Wundertexte bildhaft-metaphorisch, als wissentliche Irreführung oder als Berichte über rational erklärbare Vorgänge zu interpretieren.2 In der Folge wird Wunderglaube als ungebildeter Aberglaube oder als Phantasieprodukt zur Stillung menschlicher Sehnsüchte angesehen.

      Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) sieht in der Inszenierung von Wundern eine vorsätzliche Irreführung leichtgläubiger, wundersüchtiger und unwissender Menschen durch Jesus und die Apostel.3 Die Grabraubthese (die Jünger hätten Jesu Leichnam entwendet, um seine Auferstehung behaupten zu können) wird zum Ausgangspunkt der weiteren Wunderdiskussion. – Auch David Hume (1711–1776) äußert sich wunderkritisch: Dem subjektiven Zeugnis angeblicher Augenzeugen sei weniger zu trauen als der Evidenz einer vernunftgemäßen Erklärung des Geschehens.4 Wunder gehörten zum Aberglauben von Ungebildeten:

      „Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.“5

      Für Ludwig Feuerbach (1804–1872) sind Wundertexte Projektionen kindlich-menschlicher Sehnsüchte. Der rational denkende Erwachsene sei auf solche Projektionen nicht mehr angewiesen.

      Das rationalistische Weltverständnis orientiert sich an den Naturwissenschaften: Die Welt ist aus sich selbst, nicht aus Gott heraus zu begreifen. Was noch rätselhaft ist, wird peu à peu wissenschaftlich erklärt werden.6 Wahr ist nur das, was rational erklärbar ist oder der Vernunft zumindest nicht widerspricht; hierin spiegelt sich der rationalistische Universalismus der Moderne.7 Die Auskunft von Hans Weder (*1946) bestätigt und bekräftigt das:

      „Vor dem zunehmenden Hang, die naturwissenschaftliche Verfaßtheit unseres Denkens bezweifeln zu wollen, kann nicht genug gewarnt werden.“8

      Im Gefolge gerät die Theologie in die Defensive und sieht ihre Aufgabe oftmals nur noch in der Deutung noch bestehender Welträtsel. Das moderne wird mit dem ntl. Weltbild kontrastiert.9 Leitend sei hier die Einteilung der (scheibenartig vorgestellten) Welt in drei Stockwerke (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) und der Beeinflussung der sichtbaren Welt durch die anderen Sphären; der Mensch sei Ort des kosmischen Kampfes zwischen Gott und Dämonen. Dementsprechend werde das biblische Heilsgeschehen in mythischer Sprache verkündigt.10 Dieses Weltbild sei modernen, rational denkenden Menschen nicht mehr zumutbar; wer es dennoch tut, begehe ein sacrificium intellectus.11 Von hier aus ergibt sich die Vermittlung beider Weltbilder als hermeneutische Kernaufgabe der Theologie.

      3.2.2 Rationalistische Wunderdeutung

      Die folgenden Ausführungen gründen auf Albert Schweitzers kritischer Bilanz über zwei Jahrhunderte rationalistischer Leben-Jesu-Forschung (1906).

      Die Reaktion von Theologie und Kirche auf den Rationalismus ist unterschiedlich. Johann Salomo Semler (1725–1791) vertritt die Akkomodationstheorie, wonach Jesus und die Evangelisten sich an die primitive Wahrnehmungsweise der Menschen anpassten, um ihre Botschaft zu vermitteln; der Täuschungsvorwurf von Reimarus wird damit zurückgewiesen.1 – Viele Bibelausleger des 18. und 19. Jahrhunderts wie Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792), Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), Carl Heinrich Venturini (1768–1849) und Karl August von Hase (1800–1890) arrangieren sich mit dem Rationalismus und versuchen, in Abgrenzung von supranaturalistischer Wunderdeutung2 die Wahrheit der Wundertexte (und damit der Bibel überhaupt) durch rationale Erklärung zu retten.3 Wunder werden als naturwissenschaftlich erklärbare, ‚vernünftige‘ Naturphänomene und damit als historische Fakten dargestellt.

      Die aus heutiger Sicht naiven Deutungen verweisen auf damals unerklärliche Praktiken Jesu (Jesus als wandernder Heilpraktiker und Homöopath, der den Placebo-Effekt ausnutzte), die Scheintodhypothese (Tote waren nicht wirklich tot), besondere Ortskenntnis (Vorratshöhlen in der Wüste, Mk 6,30–44), bekannte Naturphänomene (plötzlich abbrechende Fallwinde am See Genezareth, Mk 4,35–41) oder auf Halluzinationen der Jünger (Seewandel, Mk 6,45–52). In alledem sei Jesus mit seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen seinen Zeitgenossen voraus gewesen, woraus sich die Wahrnehmung von ‚Wundern‘ ergab. Offen bleibt das Urteil darüber, ob Jesus vorsätzliche Täuschung betrieb oder lediglich seine Botschaft im Rahmen des damaligen Weltverständnisses zu etablieren versuchte.

      Der Charme rationalistischer Wunderdeutung liegt in ihrer Kongruenz zu naturwissenschaftlichen Prämissen. Die Wunder können auf historische Begebenheiten zurückgeführt werden, ihr Wahrheitsgehalt scheint gerettet. Das Problem ist, dass rational erklärte Wunder keine Wunder mehr sind. Das nüchterne Fazit der rationalistischen Wunderexegese lautet: Jesus hat zwar Menschen geheilt und vielleicht auch andere wunderhafte Dinge getan, aber eben keine Wunder!

      3.2.3 Mythische Wunderdeutung

      Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnet die Wiederentdeckung des Mythos eine neue Möglichkeit der Wunderdeutung, ohne die ratio zu verleugnen. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist David Friedrich Strauß (1808–1874). Sein Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/1836) erklärt die biblischen Berichte als Mythen, die nicht den Anspruch von Faktizität erheben, sondern die Welt religiös-mythisch erklären und ihre Ordnung göttlich legitimieren wollen. Das Motiv, Wundertaten Jesu zu erzählen, sieht Strauß im Wunsch, Jesus von atl. Wundertätern abzuheben. Von der zeitbedingten, mythischen Form des


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