Wunder. Kurt Erlemann

Wunder - Kurt Erlemann


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Dankbarkeit, Freude, Erleichterung und Hoffnung.

      Beispiele: Wer aus schwerer Krankheit glücklich heraus und wieder ins Leben findet, kann das als Wunder ansehen. Wer unbeschadet an einem Verkehrsunfall vorbeikommt, vielleicht wegen einer ungewollten Verzögerung bei der Abfahrt, kann das Geschehen ebenfalls als glückliche Fügung deuten. Dass ein verloren geglaubter Sohn nach Jahren wieder auftaucht und Kontakt sucht, ist für jemanden, der nicht mehr damit gerechnet hat, erstaunlich und erfreulich zugleich; die glücklichen Eltern deuten es möglicherweise als Wunder.

      Kontingent-liberative Wunder sind unverfügbare Heilsereignisse.3 Sie sind weder planbar noch machbar. Sie haben Geschenkcharakter, sind in der Regel einmalig und lassen sich nicht im Reagenzglas reproduzieren. Damit sind sie im wissenschaftlich-technischen Sinne nicht beweisbar.

      1.5.5 Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff

      Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff setzt eine religiös-mystische Weltwahrnehmung voraus. Sie erkennt in allem, was geschieht, einen höheren Sinn, ein Ziel und eine glückliche, gottgewirkte Fügung. Wer so denkt, glaubt nicht an Zufälle und hat prinzipiell Hoffnung, dass selbst aussichtslose Situationen eine wunderbare Wendung zum Guten nehmen könnten. Selbst Naturgesetze erscheinen überwindbar. – Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff hat fünf Merkmale: Erstens, er weist auf ein göttliches Eingreifen ins Weltgeschehen hin; zweitens, er impliziert die Durchbrechung vielfältiger Ordnungen; drittens, er führt zu religiös-mystischer Erkenntnis; viertens, er setzt nachhaltige Hoffnung frei; fünftens, er kollidiert mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild.

      ad 1) Hinweis auf ein göttliches Eingreifen: Biblische Wunder sind Zeichen der heilvollen Zuwendung des Schöpfergottes zur Welt. Als solche sind sie gleichsam die Spitze des biblischen Gottesglaubens und damit theologisch unverzichtbar.

      Beispiel: Das JohEv nennt die Wunder Jesu wiederholt Zeichen (gr. semeía). Was Jesus tut, hat Hinweischarakter. Seine Wundertaten offenbaren die ‚Werke Gottes‘ und seine Schöpfermacht. Für den glaubenden Menschen gibt es allenfalls einen graduellen Unterschied zwischen subtilen Fügungen und spektakulären Wundern. Entscheidend ist, dass überhaupt mit göttlichen, wunderhaften Wendungen zum Guten gerechnet werden kann.

      ad 2) Durchbrechung vielfältiger Ordnungen: Der biblische Wunderbegriff impliziert die Sprengung festgefügter Grenzen.1 Die Durchbrechung von Naturgesetzen ist dabei nur ein Aspekt; gleichgewichtig ist die Durchbrechung sozialer und religiös-moralischer Regeln. In deren heilvoller Durchbrechung zeigen sich Gottes Schöpferkraft und seine kompromisslose, liebende Zuwendung zum Menschen. In ihrer Gesamtheit weisen die Regelverstöße auf einen ganzheitlichen, den Menschen in all seinen Bezügen einbeziehenden, Wundervorgang hin.

      Beispiele: ‚Normenwunder‘ durchbrechen soziale Regeln und religiös-moralische Werthaltungen. Naturwunder, Geschenkwunder und Totenerweckungen sprengen Naturgesetze: Ein Sturm lässt sich nicht durch Bedrohung stillen, fünftausend Menschen werden nicht von fünf Broten und zwei Fischen satt, ein Toter kommt nicht zurück ins Leben. An solchen Wundertexten macht sich die wissenschaftliche Grundsatzkritik am biblischen Weltbild fest (→ 3.2.1).

      ad 3) Provokation religiös-mystischer Erkenntnis: Biblisch-konfessorische Wunder provozieren eine göttliche Erkenntnis bzw. ein Bekenntnis (lat. confessio). Typische Reaktionen sind, neben Staunen und Verwunderung, Bewunderung, Dank und Bekenntnis oder Furcht und Entsetzen angesichts der beklemmenden Präsenz Gottes. Darüber hinaus provozieren diese Wunder oftmals eine Kontroverse über die Vollmacht des Wundertäters (eschatologisch-kritische Funktion → 3.6.5g).

      ad 4) Wirkung nachhaltiger Hoffnung: Die heilvolle, wunderbare Durchbrechung des ‚Normalen‘ führt zu einer nachhaltig veränderten Weltsicht: Der Blick weitet sich; was zuvor unmöglich schien, scheint auf einmal möglich. Wunder begründen die Hoffnung auf Erlösung von Leid, Vergänglichkeit und Tod. Wunder „sind der letzte Ankerpunkt der Hoffnung da, wo es, nüchtern-rational betrachtet, nichts mehr zu hoffen gibt“2 (‚da hilft nur noch ein Wunder!‘).

      Wer an Wunder glaubt, für den gibt es keine Grenzen des Möglichen. Gottes Fürsorglichkeit, die sich oft in subtiler Führung im Alltag zeigt (kontingent-liberativer Wunderbegriff), und Gottes Schöpferkraft, die in biblischen Erzählungen aufscheint, sind nicht voneinander zu trennen. Derselbe Gott, der mich durch den Alltag führt, kann mich auch in aussichtslosen Situationen bewahren und zu neuem Leben führen – selbst dann, wenn andere mich auf Grundlage empirischer Statistik oder Lebenserfahrung schon aufgegeben haben.

      ad 5) Konflikt mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild: Die biblischen Wunder durchkreuzen die Lebenserfahrung und sprengen festgefügte Grenzen. Während soziale und religiös-moralische Grenzüberschreitungen rational ‚unverdächtig‘ sind, stellt die Durchbrechung natürlicher Ordnungen, wissenschaftlich-rational betrachtet, eine unmögliche Möglichkeit (gr. adýnaton) dar. Doch die Wundertexte lassen keinen Zweifel daran, dass auch Naturgesetze durchbrochen werden; sie konfrontieren die menschliche ratio mit der Wirklichkeit des naturhaft Unmöglichen, mit der Befreiung aus festgefügten sozialen Strukturen und mit der Durchbrechung religiös-moralischer Werthaltungen.3

      1.5.6 Fazit: Provokation der menschlichen ratio

      Biblisch-konfessorische Wunder provozieren Staunen, Entsetzen, Lobpreis und göttliche Erkenntnis, denn sie überschreiten die Grenzen des mit menschlicher ratio Erwartbaren und Erklärbaren. Sie legen gleichsam den Finger in die Wunde eines sich selbst absolut setzenden, naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs. Der Wunderglaube impliziert eine unsichtbare Wirklichkeit jenseits empirisch beschreibbarer, naturwissenschaftlich erforschbarer und mathematisch berechenbarer Wirklichkeit. Wunder verweisen auf Geschehnisse zwischen Himmel und Erde, die mit nüchtern-analytischem Blick nicht zu erfassen sind.

      „Die neutestamentlichen Wundergeschichten sind nicht irrational, paranormal oder schamanisch, sondern friktional zu verstehen. Sie sind Ausdruck einer alternativen Wirklichkeitserschließung, die sich ihren Blick nicht durch die Sachzwänge von Normierungen und Normalisierungen verstellen lässt.“1

      Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die Wundertaten und Wundertexte von der Messlatte aufgeklärter Vernunft zu befreien und ihnen den Stellenwert in Wirklichkeit und Theologie zurückzugeben, der ihnen angemessen ist.

      Wunderbegriffe

profan-ästhet. Wunderbegriff kontingent-liberativer W.-begriff bibl.-konfessorischer W.-Begriff
gr. Terminus thaumásion parádoxon adýnaton
Messlatte das Gewöhnliche das Wahrscheinliche das Mögliche/feste Ordnungen
Gegenstand ästhetische Objekte (Natur, Kultur, Technik) heilvolle, kontingente Ereignisse heilvolles, Normen sprengendes Eingreifen Gottes
Ursache/Wertung rational erklärbar; ‚kein Wunder‘ göttliche Fügung oder Zufall? göttliche Wundertäter, rational nicht erklärbar
Reaktionen Staunen,
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