Tödliche Tour. Greg Moody
er sie nicht nur beleidigt, sondern begann außerdem, wie Beavis and Butthead zu klingen.
»Da haben wir ihn. Jetzt fängt er an, sich zu lockern.«
Er spürte, wie das Blut wieder in den Muskel strömte und wie der Schmerz, den der Griff verursacht hatte, aus der kleinen verhärteten Stelle wich.
Sie mochte ja sauer auf ihn sein, aber sie verstand auf jeden Fall ihr Handwerk. Mit diesen Händen konnte sie wahrscheinlich sein Genick brechen wie einen Zweig. Er musste lachen. Er sollte sich lieber gut mit ihr stellen.
»Tut mir Leid. Ich hatte kein Recht dazu, das zu sagen.«
»Angenommen. Tut mir Leid, dass ich es dir so heimgezahlt habe. Aber verdammt noch mal, ich hab’ mir zehn Jahre lang im Sattel den Arsch aufgerissen. Von 13 bis 23. Und alles, was ich von euch, äh ... Elitefahrern... zu hören bekomme, sind herablassende Bemerkungen. Ja. Ihr macht alles runter, was ich tue. Und das ist Scheiße. Ich könnte mit den meisten von euch im Training mithalten. Und weißt du was? Einige in der Mannschaft könnte ich schlagen. Ja, ich. Und du bist einer von ihnen.«
Sie drehte sich um und verließ den Massageraum. Will schaute ihr hinterher. Die Situation faszinierte ihn immer mehr. Da ist eine Frau, dachte er, eine Frau, die genau wusste, wer sie war und wo sie herkam und wo sie hinwollte.
Er beneidete sie.
Sie schaute ihn an, kein Lächeln, streng geschäftsmäßig. Will wachte aus seinen Gedanken auf und fand sich auf einer kalten Massagebank in einem heruntergekommen Trainingszentrum im Norden von Paris an einem frostigen Januartag wieder. Er bedeckte sich rasch mit seinem zerlumpten Trainingshandtuch.
»Wie ich schon gesagt habe, konzentriere dich. Du hast die Beine, benutze sie.«
In dieser Nacht träumte Ross von Stewart Kenally und dem Fahrradladen Two Wheels in Detroit, Michigan.
Stewart hatte seinen Vater bei dem ersten Besuch nicht dazu überreden können, ein Fahrrad zu kaufen. Er hatte fast so getan, als wolle er gar kein Rad verkaufen, aber er hatte Wills Vater davon überzeugt, in der nächsten Woche früher wiederzukommen, damit sie Zeit hatten, sich zu unterhalten und herauszubekommen, ob Will wirklich fahren wollte oder ob er nur ein glitzernd buntes Fahrrad haben wollte. Um die Verabredung zu besiegeln, hatte Stewart ihnen französische und italienische Fahrradmagazine mitgegeben.
Will hatte keine Ahnung, was in den Zeitschriften stand, aber er liebte die Bilder. Später klaute er das Englisch-Französisch-Wörterbuch seiner Schwester, um wenigstens ein paar Worte aufzuschnappen und ungefähr zu verstehen, worum es ging, aber er konnte einfach nicht herausbekommen, was dieses Paris–Roubaix sein sollte.
»Papa, schau dir das an: Sie fahren 200 Meilen im Regen und im Schlamm über Kopfsteinpflaster.«
Harold Ross schaute nicht einmal von der Kalamazoo Gazette, der lokalen Tageszeitung auf. »Kilometer. In Frankreich rechnet man in Kilometern. Ein Kilometer ist ungefähr eine dreiviertel Meile. Und sie tun so etwas einfach nur, weil die Franzosen halt so sind.«
Will wusste nicht, was sein Vater mit dieser letzten Bemerkung meinte, aber er war im Krieg dort gewesen, im großen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, also mußte er es wissen.
Die Fahrt zurück in Detroits Vorstadt, zweieinhalb Stunden an einem späten Samstagvormittag, gab Stewart die Antwort, die er brauchte. Wills Vater war die Woche über nach und nach weichgekocht worden, den Ausflug zu unternehmen und sein Scheckbuch einzustecken. Aber er hatte das vage Gefühl, dass er keine Ahnung hatte, was er da tat und was es ihn kosten würde. Als sie im Laden ankamen, nahm Kenally Wills Vater beiseite und schickte den Jungen los, um sich die Räder und die Ausrüstung anzuschauen. Die beiden Männer verschwanden für eine lange Zeit, um, wie Will glaubte, über Räder und Rennen zu sprechen und über die Preisschilder, die an alldem hingen.
»George – passt du für einen Moment auf den Laden auf?«, rief Stewart aus dem Büro heraus. »Ich muss eine Runde drehen.«
Kenally kam mit bestimmtem Schritt aus seinem Büro und gab Will ein Zeichen, ihm zu folgen, an der offenen Bürotür vorbei, wo Wills Vater mit blassem Gesicht saß und sich durch einen dicken Ordner mit Ausschnitten und Programmheften durcharbeitete, durch die Werkstatt mit ihren unzähligen Kisten und Schubladen, die alle Fahrradteile der Welt zu enthalten schienen, in ein Hinterzimmer, wo Stewart ein Maßband hervorholte und Will vermaß, als verkaufe er einen Anzug.
Er ging in ein anderes Zimmer und kam mit einem heruntergerittenen schwarzen Fahrrad und einem paar schwarzer Radhosen aus Wolle wieder.
»Hier – zieh die an.« Stewart hatte einen harten schottischen Akzent.
Will tat, was ihm gesagt wurde. »Welche Schuhgröße hast du?« »Sechs, Sir.«
»Von so kleinen Füßen habe ich noch nie etwas gehört«, murmelte er. Trotzdem fing er an, die Kisten mit unsortierten Fahrradartikeln zu durchwühlen, die sich im Laufe der Jahre im Hinterzimmer des Geschäfts angesammelt hatten.
»Hier, das sind die kleinsten, die ich habe. Sie sind Größe 8. Wir werden einfach die Spitzen mit Zeitung ausstopfen.«
»Fahren wir jetzt Fahrrad?«, fragte Will mit einer Mischung aus Vorfreude und Angst.
»Nicht wir. Du. Und nicht hier, sondern dort.« Er zeigte auf ein Bild an der Wand. Will schaute auf ein Beton-Oval, das an beiden Enden erhöht war. Unter dem Bild stand groß »Winterbahn«.
Innerhalb von einer Viertelstunde waren sie an der Winterbahn, die auf einem unbenutzten Acker hinter einer Lagerhalle im Norden der Stadt versteckt lag. Ein paar junge Männer von der Universität Michigan kamen gerade heraus, sodass die Bahn leer war. Das half Will, der in ungewohnten Situationen nervös war. So konnte er seine Fehler ohne Zuschauer machen. Stewart setzte ihn auf das Rad und schob ihn auf den Beton. Die Schuhe passten nicht, aber das Rad war perfekt, abgesehen davon, dass er nicht aufhören konnte zu treten. Jedesmal wenn er es versuchte, schoben ihm die Pedale die Knie wieder an die Brust.
»Es hat eine starre Nabe«, rief Stewart, als Will an ihm vorbeifuhr, der offensichtlich mit der Kurbel zu kämpfen hatte. »Sie dreht sich immer weiter – du kannst es nicht rollen lassen. Versuche nicht dagegenzuhalten um zu bremsen.«
Will hatte es schon versucht und festgestellt, dass die Pedale es einfach nicht zuließen. Moment mal, wo waren hier die Bremsen? Es gab keine Handbremsen, keine Rücktrittbremsen, keine Möglichkeit, dieses Ding anzuhalten, wenn es erst einmal in Bewegung war. Man konnte nur treten, langsamer oder schneller oder einfach den Druck wegnehmen, um langsam zum Stehen zu kommen. Oder hinzufallen. Diese Möglichkeit gab es immer.
Will fuhr ein paar Mal an der roten Linie entlang um die schüsselförmige Bahn herum und begriff, dass er nur eines tun konnte: weiterfahren, je schneller, desto besser. Dann rief Stewart: »Fahr die Kurve rauf.«
Es war unmöglich, die Kurve hinaufzufahren. Das Gesetz der Schwerkraft sagte, dass es einfach unmöglich war. Trotzdem fuhr Will bei jeder Runde ein Stückchen weiter in die 33 Grad steile Wand. Als er oben angelangt war, rauschte er aus der Kurve heraus, zurück zur Bahn und trat dabei wie ein Wilder, wie ein Mann, wie ein besessener Junge. Es gab kein Halten, kein Abbremsen, die einzige Möglichkeit, Kontrolle über sich und das Rad zu behalten, war, einfach nach vorne zu schauen und sich in die Kurve zu legen, die die Bahn ihm vorgab und die ihn sanft, aber in einem Rausch der Geschwindigkeit in die Gegenrichtung trug.
Der Fahrtwind rauschte in seinen Ohren und trieb ihm Tränen in die Augen. Er rang nach Luft. Er wollte seine Beine anhalten, aber es ging nicht, des Rades wegen aber auch seiner selbst wegen.
Das ... das ... das war das reinste Vergnügen.
Er versuchte immer wieder, das Rad rollen zu lassen, aber es erinnerte ihn sofort daran, dass es das nicht zulassen würde, indem es ihm die Knie fast ins Gesicht schlug und das Hinterrad von der Bahn abhob. Er kurbelte langsamer und spürte, wie das Rad auch langsamer wurde, langsam genug, daß er ausgangs der vierten Kurve auf der Geraden an das Geländer fahren