Tödliche Tour. Greg Moody
fuhr zur Startlinie, wo ein anderer Junge auf einem Rad vor Mr. Kenally auf und ab fuhr. Stewart stellte ihn als Raymond, einen anderen Rennfahrer, vor. Ich, ein Rennfahrer? dachte Will. Cool. Aber Raymond sagte kein Wort. Er blickte Will nur an, ein Blick, der ihn erschauern und sich wünschen ließ, anderswo zu sein, wenn es sein musste in der Ford-Werkstatt. Hauptsache irgendwo anders.
»Raymond wird ein wenig mit dir fahren«, sagte Stewart. »Roll schon mal los.«
Will pedalierte langsam davon, ohne zu wissen, was er zu erwarten hatte oder wie er sich darauf einstellen sollte. Das erste Zeichen, das erste, was ihn ärgerte, war, dass Raymond an seinem Hinterrad fuhr, als würde er dort kleben. Will gefiel das Gefühl nicht, dass dieser Typ ihm im Nacken saß, also fuhr er schneller, aber Raymond blieb dran, verlor nicht für einen Augenblick seine Konzentration, klebte fest an Wills Hinterrad. Zwei Runden um die Bahn waren vorbei und Will konnte sich Raymonds Griff nicht entziehen. Also fuhr er in der nächsten Kurve bis ganz nach oben und stürzte sich wieder herab. Jetzt war Raymond etwa zwei Meter vor ihm. Raymond legte ein paar Kohlen nach und Will, der zwischen Wut und Euphorie schwankte, legte auch zu und saugte sich an Raymonds Hinterrad. Was der kann, kann ich auch, dachte Will und blieb etwa zehn Zentimeter hinter Raymond, genau wie dieser es vorher getan hatte. Will merkte, dass es plötzlich leichter ging. Er fuhr schneller, als er je gefahren war, strengte sich jedoch nur halb so sehr an wie vorher.
Als sie die Linie passierten, rief Stewart: »Schneller jetzt!« und Will spürte einen Schub bei Raymond. Ohne Vorwarnung war der Sog, der ihn hinter Raymond gehalten hatte, weg und Will hing mit einem Mal ein, zwei Meter hinterher. Er mochte diesen Kerl nicht und er würde ihn nicht abhauen lassen. Will bäumte sich noch einmal auf und fuhr an Raymonds Hinterrad heran, aber viel zu schnell; er versuchte auszuweichen, versuchte zu bremsen, gegen die Pedale zu halten, aber er hatte zu schnell beschleunigt und fuhr gegen das Hinterrad.
Das reichte aus. Will wurde nach vorne gedrückt, sein Vorderrad flatterte unkontrollierbar hin und her. Und dann hob es ihn Hals über Kopf über den Lenker und er konnte nichts tun, während die harte, schwarze Oberfläche seine Schulter, seinen Kopf, sein Gesicht, sein Knie und alles andere, was sie von ihm und dem Fahrrad erwischen konnte, streifte. Seine Schulter schlug zuerst auf und er fühlte eine Explosion in seinem Genick und es war mehr als nur ein Gefühl, es war ein Geräusch wie die Nadel eines Plattenspielers, die über eine alte Schallplatte kratzte. Und dann stand er wieder.
Er hatte den Sturz abgerollt, hielt noch immer den Lenker seines Rades und stierte leer die Gerade hinab in Richtung der zweiten Kurve. Er sah, wie Raymond in die dritte Kurve bog.
Harold Ross war gerade an dem Holzgeländer angelangt, als er seinen Sohn stürzen sah. Er war aufgesprungen und fast über das Geländer gehüpft, als er sah, wie Will sich wieder aufrappelte. Er sah nach links, wo Raymond mit einem triumphierenden Lächeln um die dritte Kurve fuhr.
Als Vater hatte alles in ihm danach geschrien, über das Geländer zu springen und zu seinem Sohn zu laufen, aber er verharrte, halb auf dem Geländer hängend. Er schaute Will an und flüsterte: »Steh auf... steh auf... steh auf... «
Stewart Kenally hatte sich nicht gerührt. Er hatte den Unfall gesehen, die Rolle, hatte gesehen, wie Will mit Blut im Haar und dem Rad in der Hand aufgestanden war. Dies war nicht der Augenblick, um irgendetwas zu sagen. Dies war der Augenblick, um zu beobachten.
Will war schon wieder dabei, sein Rad anzuschieben und nebenher zu laufen. Er sprang, schwang sein Bein über den Sattel und wackelte in die Kurve, während er versuchte, seine Schuhe in die Körbchen zu zwängen. Durch Glück oder durch ein Wunder fiel sein rechter Fuß genau hinein und er spürte, wie sein Schuh in der Führung einrastete. Der linke Fuß schien nicht passen zu wollen, also ignorierte er ihn einfach. Er hatte keine Zeit zu verlieren, er verlor nur noch mehr an Boden.
Will spürte, wie sein Blut kochte und eine tiefsitzende Wut in ihm aufstieg, die er noch nie gefühlt hatte. Er warf sein ganzes Gewicht in die Pedale und schlug das Rad hin und her, um Geschwindigkeit aufzunehmen, während Raymond auf der anderen Seite geschmeidig über die Bahn pedalierte. Will trat noch fester und konzentrierte sich darauf, wie fest und wie schnell er die Pedale runterdrücken und hochziehen konnte, ohne mit dem Rad allzu sehr hin und her zu wackeln. Er bog um die dritte Kurve und sauste hindurch, ohne dabei seinen Rhythmus zu verlieren.
Raymond fuhr locker weiter. Der Abstand war groß genug und außerdem war dies ohnehin kein Rennen. Stewart hatte ihn nur gebeten, herzukommen und es wieder einmal einem Möchtegern zu zeigen. Er hatte seinen Job erledigt. Raymond richtete sich auf seinem Rad auf und nahm die Hände vom Lenker, um sich zu strecken. Er schaute nach vorne durch die Kurven zwei, drei und vier, um zu sehen, wo der Sturzpilot war, aber er konnte ihn nirgendwo entdecken. Hmm. Sein Vater musste ihn von der Bahn geholt haben. Dann schaute Raymond über die Schulter. Der Möchtegern war direkt hinter ihm, mit blutverschmiertem Gesicht und mit einem wilden Blick in den Augen.
Will raste von hinten an Raymond heran. Er hat nicht aufgepasst, dachte Will, nicht nachgedacht. Nun, hier bin ich, mein Freund, hier bin ich. Unterhalb von Raymond war kein Platz und Will wusste, dass er nach oben fahren musste, um sich neben Raymond zu schieben, und an ihm vorbeizufahren.
Aber ein Überraschungsangriff stand außer Frage, Raymond hatte ihn gesehen und er zog mit panikhafter Wucht sein Rad hin und her, um wieder das Tempo aufzunehmen, das er seit dem Sturz hatte schleifen lassen. Will beschleunigte ebenfalls und zog mit Raymond gleich. Beide Jungen rasten in wilder Hatz auf die Ziellinie zu. Diesmal nicht, dachte Will, diesmal nicht und er fing an zu schreien, fast zu heulen, während sich alles, was sich in ihm angestaut hatte, entlud – die Wut und die Enttäuschung und die Angst der ersten Runden, der Schmerz in der Schulter, die Peinlichkeit, mit einem Fahrrad – mit einem Fahrrad! – auf die Nase gefallen zu sein – und in einer tobenden Sturzflut aus ihm herausbrach, als er über die Ziellinie schoss.
Und mit einem Mal fiel alles von ihm ab.
Die Linie zu überqueren war wie das Öffnen eines Sicherheitsventils: Will spürte, wie die Kraft und die Geschwindigkeit und die pure Emotion ruhig und schnell abglitten. Er versuchte, es aufzuhalten und diesen Kraftschub festzuhalten, aber es hatte keinen Sinn. Mit jedem seiner schmerzhaften Atemzüge, mit jedem Anheben seiner Brust, mit jeder Pedalumdrehung fiel es von ihm ab und er wurde wieder zu dem Jungen, der erst vor 30 Minuten zum ersten Mal die Bahn betreten hatte. Erst vor 30 Minuten?
Als er in die nächste Kurve fuhr, war das, was ihm eben noch wie ein Rennen um Leben und Tod vorgekommen war, nur noch ein gemütlicher Landausflug mit Raymond. Die beiden fuhren still nebeneinander her, zwischen ihnen war nur das Keuchen ihrer Lungen zu hören. Schließlich schaute Raymond zu ihm herüber und sprach die ersten Worte, die Will ihn je sagen hörte: »Nicht schlecht.«
Die beiden drehten noch zwei Runden, um auszufahren und kamen dann vor Stewart zum Stehen.
»Was hältst du von ihm, Raymond?«
Raymond lächelte nur.
Stewart lächelte zurück. »Du hast Recht. Der ist in Ordnung.«
Stewart strich durch Wills Haar und betrachtete die Schnittwunde an seinem Kopf. »Das muss genäht werden und du wirst ein Haarnetz brauchen«, sagte er. »Wir müssen das Gehirn, das übrig ist, in deinem Kopf behalten – du wirst es brauchen.« Dann schaute er über den Rand der Bahn. Will folgte seinem Blick und sah seinen Vater, der mit rotem Kopf auf dem Geländer saß.
Stewart lächelte noch einmal und sprach, diesmal zu Wills Vater. »Es tut mir Leid ihnen das sagen zu müssen, aber ich denke, sie sollten sich darauf vorbereiten, so etwas öfter zu erleben – ich glaube, wir haben hier einen guten Fahrer gefunden.«
Wills Augen sprangen auf. Er hasste es, so aufzuwachen, plötzlich und ohne die geringste Chance, wieder einzuschlafen. Normalerweise passierte das nur, wenn er unter Druck stand, etwa in der Nacht vor einem Rennen. Aber jetzt wusste er nicht, warum, vielleicht einfach nur so. Morgen würden die Aufstellungen für die ersten Trainingsrennen der Saison bekanntgegeben, den Étoile de Besssèges, die Ruta del Sol und die Mittelmeer-Rundfahrt. Insgesamt