Tödliche Tour. Greg Moody

Tödliche Tour - Greg Moody


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Landstraßen Frankreichs, Italiens und Belgiens, durch Regen und Kälte und Schnee und tobende Fans und einem Ziel entgegen, das sie meist schon abbauten, bis er dort ankam.

      Er hörte in seinen Körper hinein, befragte ihn nach den Gefühlen und der Zukunft. Er genoss die Tatsache, dass, zumindest zu diesem Zeitpunkt der Saison, ihm noch nicht die Knie wehtaten, die Hände taub waren und die Lungen stachen. Vielleicht, dachte er. Nur noch einmal. Nur um es ihnen zu zeigen und vielleicht auch sich selbst. Es war sein Ego, das sprach. Aber sein Ego hatte ihn hierher gebracht. Und vielleicht würde er noch einmal darauf hören.

      Nur noch eine Saison.

      Er schaute Deeds direkt ins Gesicht.

      »Ich bin dabei«, war alles, was er herausbrachte, bevor er aufstand, sich umdrehte und ohne zurückzuschauen aus dem Zimmer verschwand. Deeds konnte lange Zeit mit niemandem mehr reden.

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      Jetzt half ihm derselbe Assistent, der schon vorher für die Dick-und-Doof-Nummer mit dem Ein- und Ausladen verantwortlich gewesen war, seine Sachen zusammenzusuchen und sie in einem Mannschaftswagen in eine der Wohnungen in der Gegend zwischen Senlis und Paris zu verfrachten, die das Team angemietet hatte. Tomas schob das Colnago auf die Straße und schraubte es auf das Dach des weißen Peugeot. Er wandte sich Will zu, der gerade die Radkleidung vom Vormittag in den Kofferraum warf.

      »Wir sind jetzt seit langem Freunde, nicht wahr?« Tomas wirkte etwas unsicher.

      »Natürlich«, erwiderte Will. »Und was kommt jetzt?«

      »Denk immer eines, versprichst du mir das? Ich bin nur ein Bote.« Tomas griff in seine Tasche und holte ein Stück Papier hervor. Er schob es Will zu, als wäre es ein Messer.

      Jetzt machte Will sich Sorgen. Er nahm den Zettel und öffnete ihn vorsichtig. Tomas’ Unsicherheit begann sich auf ihn zu übertragen. Er las die Notiz.

      »Ich warte auf dich. Morgen. In Deeds’ Büro. – Kim.« Erstaunlich. Es war wie ein Messerstich gewesen. Und er hatte ihn ins Herz getroffen.

      4

      Der Ritt an der Wand

      Die Wohnung war nicht die schlechteste, in der Will je gelebt hatte. Ein Loch in Milwaukee war schlimmer gewesen. Aber diese hier war nahe dran. Sie lag in einer vergessenen Straße in einem alten Industriebezirk nördlich von Paris, westlich des Flughafens Charles de Gaulle, 20 Kilometer südlich von Senlis, ein Zimmer im ersten Stock mit einem Bett, einer Badwanne, einer Toilette, einer Kochplatte, einem Tisch, einem Stuhl und einem Telefon. Aber wenigstens war das Klo kein Loch auf dem Gang im Zwischengeschoss. Solche Toiletten hatte Will in Pariser Wohnhäusern gesehen und sich nicht vorzustellen gewagt, wie es hinter den Türen aussehen mochte. Und zum Glück gab es mit den Duschen im Velodrom keinen Grund, sich hier häufig aufzuhalten, wo man auf einem wackeligen Holzgestell über dem Abfluss balancieren musste. Von solchen Wannen mussten Kinder ihre Angst bekommen, mit dem Badewasser weggespült zu werden.

      Gewöhnlich schlief er in einem neuen Haus und in einem neuen Bett schlecht, aber heute war er in weniger als einer Stunde nach dem Einzug weggetreten. Er war kurz ausgegangen, um ein Pasta-Abendessen zu sich zu nehmen und hatte sich dann sofort auf die papierdünne Matratze sinken lassen. Licht aus.

      Eine Galerie von Gesichtern durchzog seine Träume, Deeds und Cheryl, Bourgoin und Cacciavillani, aber vor allem Kim und ihre Freunde, die geheimnisvollen Männer, die ihr so viel Aufmerksamkeit gewidmet, ihn auf Partys zur Seite geschubst hatten, und deren Anzüge er im Schrank gefunden hatte, nachdem er bei GelSchweiz rausgeflogen und ein paar Tage zu früh von der Lombardei-Rundfahrt zurückgekommen war. Quelle surprise! Quelle horreur! Der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass hatte überlaufen lassen.

      Er wachte um sechs Uhr auf, der Uhrzeit, die er sich antrainiert hatte, außer wenn er am Abend zuvor fermentierte Getränke inhaliert hatte. An diesem Abend hatte er das nicht getan, also klingelte der biologische Wecker pünktlich.

      Ein schnelles Bad, eine Abreibung mit Alkohol, ein schnell zusammengebruzzeltes Frühstück aus Eiern und Nudeln und rein in die Arbeitskleidung. Heute würde er als erster am Start stehen.

      Er warf sich seinen Seesack auf den Rücken, nahm sein Rad über die Schulter und trug beides auf die Straße. Das würde an sich schon ein gutes Training sein: ein langer Gang, zwei Stockwerke Treppen, morgens und abends, mit 30 Kilo auf den Schultern. Wie machten dicke Menschen das nur? Es musste ihre Knie umbringen.

      Es waren etwa 20 Kilometer zu dem verrottenden Velodrom in Senlis. Die konnte er in null Komma nichts wegstrampeln und würde wach und gut aufgewärmt ankommen.

      Als er durch den Berufsverkehr im Norden der Stadt fuhr, schweiften seine Gedanken zurück zu den Träumen der letzten Nacht und dann noch weiter, über die Entfernung und über die Jahre hin zu einem Tag in Toulouse, wo er bei einem Kriterium im Publikum eine amerikanische Studentin entdeckt hatte und gespürt hatte, wie ihn auf der Stelle der Blitz traf. War es »Der Pate« gewesen, wo es hieß: »Er wurde vom Blitz getroffen«? Genau, Michael Corleone, vom Blitz getroffen. Das war es, was ihm passiert war, als er zum ersten Mal Kim Grady in der Menge entdeckt hatte, mit erdbeerblondem Haar, durch das die Sonne schien. Er hatte das Rennen gewonnen und sich dabei fast umgebracht. Aber er musste gewinnen. Er musste sich auf dem Podium zeigen. Er musste ins Ziel kommen, bevor sie anfing, sich zu langweilen und in irgendein Café ging.

      Sie war nicht gegangen.

      Es war ihr sogar aufgefallen, wie er sie bei jeder Runde angesehen hatte. Also hatte sie sich zum Podium durchgekämpft, hatte zugesehen, wie er ein Bouquet leicht angewelkter Rosen, 500 Francs und eine Flasche Rotwein entgegennahm, und sich an einen günstigen Platz gestellt, so dass die, die um sie herumstanden, wie ein Vorhang am Premierenabend aufgingen, und seinen Blick auf sie alleine freigaben, wie sie unwiderstehlich und umwerfend da stand.

      Sie hatte ihm all dies schon am selben Abend in einem Café erzählt, wohin er sie von seinem Preisgeld zum Essen eingeladen hatte. Sie sagte ihm wie selbstverständlich, dass er keine Wahl gehabt habe. Sie hatte entschieden, dass sie ihn wollte. Sie hatte ihn beim Rennen beobachtet, seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sein Schicksal in ihre Hand genommen.

      »Was – das Schicksal, dein Essen von meinem Geld zu bezahlen?« »Genau«, erwiderte sie.

      Das ist fantasisch, dachte er: eine femme fatale, die auf mich steht. Das Leben kann so schön sein.

      Sein erstes Gefühl auf dem Podium war gewesen, dass dies ein Geschenk Gottes sei. Als sich die Menge teilte, kam er sich vor wie Moses, der das erste Mal auf Israel schaut. Wie Milch und Honig.

      Warum ist das nur so schiefgegangen?

      Will bog um die Ecke zum Trainingszentrum. Die Autos der führenden Fahrer standen schon da. Bourgoin. Merkel. Sogar Cacciavilani war früh da. Es war bedeutungslos, dass er mit dem Rad gekommen war, aber es gab ihm irgendwie ein gutes Gefühl.

      »Hallo, Überlebender.«

      Will fuhr zu Cheryl an den Straßenrand.

      »Überlebender?«

      »Ich habe gehört, dass Deeds sich mit seinen Bedenken nicht recht durchsetzen konnte.«

      »Ja, es muss eine gute Show gewesen sein.« Plötzlich verlor er sich in ihrem Gesicht, in der Form, der Farbe und in der Zartheit. Sie schaute ihn missbilligend an und er rüttelte sich wach.

      »Bild dir bloß nichts ein, du Idiot.«

      »Hey, Hey... tut mir Leid. Ich war für einen Augenblick bewusstlos, aber jetzt bin ich wieder da. Gehirn ausgeschaltet. Ich nehme an, du musst ganz schön was einstecken, weil du bist, wer du bist – was du bist – eine ... « Er rang nach einem Wort, das ihn nicht wie einen vollständigen Trottel aussehen lassen würde.

      »Ich glaube, du meinst: eine Frau«, sagte sie und musste dabei über seine Verlegenheit lachen. »Du hast Recht. Ich bin ein Profi. Ich kenne meinen Job und ich mache ihn gut. Aber andererseits ist


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