Tödliche Tour. Greg Moody
um, um zu sehen ob jemand zuhörte, wie sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ und ihre Verletzlichkeit preisgab. Warum erzählte sie das diesem Typen, war er nicht genau so ein Pisser wie alle anderen? Nur weil er Amerikaner war? Cardinal war auch Amerikaner und ihm würde sie ums Verrecken nichts erzählen. Dieser Kerl, verdammt, das musste der Kater von letzter Nacht sein. Schlafmangel machte aus ihr einen emotionalen Idioten, der bereit war, mit jedem über alles zu reden.
»Die Frauen der Fahrer betrachten mich wie eine Art Nadelkissen und die Typen behandeln mich, als wäre das Erste, was ich im Sinn hätte, nachdem ich sie den ganzen Tag über französische Landstraßen gejagt habe, sie besinnungslos zu vögeln. Keine Chance. Ich habe zu lange zu hart um diesen Job gekämpft.«
Will hörte sich diese Rede genau an, die er in den verschiedensten Variationen schon so oft gehört hatte, seit er in Europa als Amateur angefangen hatte. Sogar er selbst hatte sie schon gehalten. Es ging dabei um den Zusammenprall zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Ego. Auf der anderen Seite hatte ihn noch fast niemand besinnungslos vögeln wollen.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte er. »So, du verstehst mich. Hast du schon einmal an meiner Stelle gestanden? Ich glaube kaum.«
Die Tür, die sich so einfach vor Will geöffnet hatte, war auf einmal wieder verschlossen. Sie starrte ihn für einen endlosen Augenblick stumm an.
»Versuche heute nicht, vorne mitzufahren. Sie werden versuchen, dich kaputtzufahren, oder einfach nur warten, bis du platzt. Bleib ruhig im Feld bis du wieder deine Form gefunden hast. Konzentrier dich darauf, genau in der Mitte zu bleiben. Wenn du zu weit hinten fährst, hast du verloren, weil die Neuprofis wegplatzen und du mit ihnen hinten rausfällst. Bleib in der Mitte.«
»Ich weiß. Ich war einmal ein Profi, erinnerst du dich?«
»Nur eine Erinnerung. Du hast dich bislang nicht wie einer benommen.«
»Danke. Ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Für Gott, Haven und das Vaterland.«
»Du kannst mich mal.«
Er hielt inne und schaute sie an. In ihren Augen brannte ein Feuer, das ihm bei der ganzen Kabbelei bislang nicht aufgefallen war. »Es tut mir Leid. Danke für den Rat.«
»Vergiss es.«
Will hörte, wie sich der Eingang zum Velodrom hinter ihm öffnete. Das war alles, was er hörte. Und doch zuckte er unfreiwillig zusammen. Er spürte, wie sich um ihn herum eine Mauer aufbaute, ein Schutz gegen jede Verletzung von außen. Als ob das möglich wäre. Als Kim Grady Ross vor Will trat, brach die Mauer mit einem Schlag in sich zusammen. Sie wusste was sie sagen musste. Sie wusste, wie sie schauen musste. Sie wusste nicht nur, wo die Löcher im Panzer waren, sondern auch, wie rostig er geworden war.
»Guten Morgen, Will. Und Sie müssen Sharon sein?« »Cheryl«, erwiderte die Betreuerin zugeknöpft.
Will war beeindruckt. Wie viel waren es – fünf Sekunden? – und schon hatte Kim Cheryl provoziert, war durch die Linien gebrochen und hatte eine kleine Granate platziert.
Kim ignorierte Cheryl und wandte sich wieder Will zu.
»Du hast die Sitzung verpasst. Deeds ist schon wieder sauer. Aber keine Angst, Will. Du bist sicher. Komm nur so schnell wie möglich wieder in Form. Machst du das? Die Mannschaft braucht dich und deine Fähigkeit, sich für den Mannschaftskapitän bedingungslos zu opfern.«
»Na so was«, sagte er sarkastisch, »solch sanfte Worte sind noch selten an mich gerichtet worden. Ich möchte nicht unhöflich sein, Kim, aber ... warum sollte dich das interessieren? Ich zahle keine Alimente, keine Unterstützung. Es gibt keine Verbindung zwischen uns. Warum sollte es dich interessieren, dass ich gut fahre?«
»Nimm es nicht persönlich, Willie. Du interessierst mich nicht, aber es interessiert mich wie du fährst. Die Mannschaft interessiert mich. Weißt du, sie gehört mir. Was du tust, wirkt sich darauf aus, wie viel ich verdiene, und wie viel ich verdiene, wirkt sich darauf aus, wie du den Rest deines Lebens verbringst: bequem, in irgendeiner Position in diesem Geschäft, oder draußen, auf deinem Hintern, als Fahrrad-Penner. Du hast einmal gesagt, dass jeder irgendwann zu dem Menschen wird, den er am meisten hasst. Du stehst jetzt an der Schwelle. Ärgere mich nicht, Will. Sonst bist du ganz schnell so ein Penner. Verpfusch es nicht.«
Sie hatte während ihres Monologs nach vorne gegriffen und hielt jetzt sein Kinn in ihrer Hand. Will erstarrte, als er spürte, wie ihr Griff fester wurde, wegschnappte und seinen Kopf zur Seite fallen ließ.
»Streng dich heute an, Will. Die Mannschaft – und dein Arbeitgeber – erwarten das von dir.«
Kim drehte sich auf dem Absatz um und lief davon. Der Geruch von Lagerfeld hing in der Luft. Cheryl schaute ihr nach, wie sie zu ihrem silbernen Mercedes ging, im Fond Platz nahm und hinter einer Wolke aus Abgas und Straßenstaub verschwand.
»Gott, was für eine Ziege. Eine Freundin von dir?« »Gewissermaßen. Meine Ex-Frau. Die Art von Frau, die einen Mann zum Trinken bringt.«
»So schön ist sie doch auch wieder nicht.«
»Es geht nicht um ihr Aussehen.«
»Ach so.«
»Ich habe drei Jahre lang mit dieser Frau zusammengelebt. Es war so, als würde man auf Nitroglyzerin-Flaschen laufen. Man wusste nie, wann eine hochgehen würde und ob dabei nicht der ganze Laden in die Luft fliegt.«
»Hört sich nach Spaß an.«
»Oh ja. Sie ist auch die einzige Frau, die ich kenne, deren Periode drei Wochen im Monat dauert.«
»Und du bist noch nicht einmal verbittert. Also, erst eine leidenschaftliche Ehe und jetzt lebst du in einem Loch in Belgien ... « »Das ist kein Loch.«
»... und arbeitest für eine Fahrradmannschaft, die dich als Anhängsel auf ihre Lohnliste gesetzt hat. Toll, Ross«, sagte sie mit einem starken Sarkasmus, »manche Leute wissen wirklich, wie man lebt. Deiner sprühenden Schlagfertigkeit zufolge gehe ich davon aus, dass du nicht wusstest, dass ihr ein großer Anteil an der Mannschaft gehört und dass sie die Mannschaft für Martin Bergalis managt.«
Will schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir«, sagte Cheryl, »man sieht nicht oft eine so gute Imitation eines Basset, der gerade von einem Auto überfahren wurde.«
Will lächelte, dann fing er laut an zu lachen. Vielleicht hatten Cheryl und er gerade einen gemeinsamen Feind gefunden und der Groll der ersten Begegnungen zwischen ihnen konnte jetzt begraben werden, um den Weg für zumindest eine freundschaftliche Beziehung frei zu machen. Er konnte einen zweiten Freund neben Tomas gut gebrauchen. Es gab noch so viel zu sagen, noch so viel, was er loswerden musste. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er mit jemand anderem als Leo reden musste, seinem Saufkumpanen in Avelgem, der nicht ein Wort Englisch verstand, wenn er nicht bis obenhin voll war.
Will wollte Cheryl gerade noch etwas sagen, als sich hinter ihm das leise Surren von Naben und Ketten und Kränzen und Krachen von Umwerfern erhob.
Die Mannschaft begann ihr Vormittagstraining durch die Landschaft im Norden von Paris. Sie würden den Verkehr blockieren, sie würden Fußgänger fast überfahren, sie würden wie ein Panzer über die Straße rollen. In Amerika würde man sie erschießen, aber hier waren sie Haven. Und sie regierten die Straße.
Cheryl schaute ihn an.
»Bleib in der Mitte. Suche deine Form.«
Er lächelte. Tausend Sprüche fielen ihm ein, aber er wusste, dass, wenn er auch nur einen losließe, sie ihm wahrscheinlich mit einer Metallstange die Knie brechen würde. Er hatte sein Leben in einer Welt der Sprüche verbracht, aber jetzt, auf einmal, wollte er damit nichts mehr zu tun haben.
Also ließ er es bleiben. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ er es bleiben. Er schaute sie einfach nur an und sagte »Danke«.
Er stieß sich ab und schloss sich der Mannschaft an, reihte sich sanft in der Mitte des Feldes ein.