Geschichte Südtirols erleben. Josef Rohrer
der Bevölkerung in Südtirol sprechen es im Alltag, immerhin gut 20.000. Und schuld sind die Römer.
Um 20 v. Chr. waren sie wieder mal auf Eroberung aus. Ein Stiefsohn von Kaiser Augustus, Nero Claudius Drusus, drang mit einem Heer von der Po-Ebene über Reschen- und Brennerpass bis an die Donau vor. In den folgenden fast 500 Jahren reichte das Imperium Romanum über die Alpen bis weit in das Land der Germanen hinein.
Der Vorstoß überrollte die verstreut in den Alpen lebenden Völker – Räter, wie die Römer sie alle der Einfachheit halber nannten. Deren Gebiet erstreckte sich von der heutigen Zentralschweiz bis Venetien, von Oberbayern bis zu den südlichen Ausläufern der Alpen. Spuren ihrer Siedlungen sind noch zu finden, auch in Stein geritzte Schriftzeichen. Ob die Räter allerdings eine gemeinsame Sprache hatten, ist umstritten. Sicher ist: Sie arrangierten sich zwangsläufig mit den Besatzern der römischen Staatsmacht und fügten deren Vulgärlatein in ihre eigenen Idiome ein. So entstand mit der Zeit eine neue Sprache. Rätoromanisch dürfte in den Zentral- und Ostalpen samt dem Vorland verbreitet gewesen sein, allerdings mit großen regionalen Unterschieden.
Nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs drangen nach und nach bajuwarische und alemannische Stämme ins heutige Südtirol vor. Sie setzten sich zunächst in den Tälern von Eisack und Etsch fest, dann auch in höheren Lagen. Ihre germanischen Dialekte verdrängten die Sprache der Räter („Deutsch seit 1200 Jahren“ prahlen deutschtümelnde Aufkleber auf den Autos einiger Südtiroler) und von Süden her setzte ihr das neue Italienisch zu.
Am Ende blieben dem Rätoromanischen nur einige Sprachinseln: in der Ostschweiz, im Friaul und in sechs Dolomitentälern, davon zwei – Gherdëina (Gröden
Der italienische Nationalismus des 20. Jahrhunderts hatte für das Ladinische trotz seiner romanischen Wurzeln wenig übrig. Erst die für Südtirol erkämpfte Autonomie von 1972 sah Minderheitenrechte auch für die hier lebenden Ladiner vor. In ihren beiden Tälern besuchen sie ladinische Schulen, Ladinisch ist als Amtssprache anerkannt, RAI Ladinia sendet täglich in Radio und Fernsehen, und wenn die öffentliche Verwaltung Arbeitskräfte einstellt, ist nach dem Proporzsystem ein Kontingent der ladinischen Sprachgruppe vorbehalten. Sie hat auch ein eigenes Museum
Die regionalen Unterschiede aus der Römerzeit haben sich über die Jahrhunderte noch verstärkt. Je kleiner die Sprachinseln und je loser der Kontakt untereinander, umso eigenständiger entwickelten sich Wortschatz und Aussprache. Heute klingen für die Engadiner andere Varianten des nahen Bündner-Rumantsch ähnlich fremd wie das fernere Dolomiten-Ladinisch. Und selbst Grödner und Gadertaler sprechen ein unterschiedliches Ladin und verstehen einander oft schwer, obwohl nur ein Pass, das Grödner Joch, sie trennt.
In den 1980ern hat ein Professor in Zürich zwar das Ladin dolomitan entwickelt, eine gemeinsame Schriftsprache für alle Dolomiten-Ladiner. Aber durchsetzen konnte sie sich noch nicht, auch weil es sie im Mündlichen nicht gibt. So bleibt jedes Tal bei seinem Idiom. Auch RAI Ladinia sendet mal auf Grödnerisch, mal auf Gadertalerisch – wer eben gerade am Mikrofon ist.
Desparé ist übrigens Gadertalerisch und bedeutet Schnee schaufeln. Auf Grödnerisch heißt es palé. Aber wenn es schneit, wissen sie in Ladinien eh, was zu tun ist.
Drusus, Augustus und der Fußball
Was ist uns im heutigen Südtirol von den Römern geblieben – außer dem Rätoromanischen, ein paar Legenden und sicher einigen Genen?
Da wäre das Bruchstück einer 70 Zentimeter dicken Marmorsäule mit eingravierter Schrift, ein Meilenstein. Dieses seltene Exemplar gibt allerdings keine Entfernung an, sondern erzählt von einem gewaltigen Projekt. Kaiser Claudius Augustus habe „die Via Claudia Augusta, die sein Vater Drusus nach Öffnung der Alpen durch Krieg hatte trassieren lassen, ausgebaut vom Fluss Po bis zum Fluss Donau auf einer Länge von 350 Meilen“.
Die Via Claudia Augusta führte von Trient, wo sich die Straßen aus der Lagune von Venedig und aus Ostiglia bei Mantua trafen, durch das Etschtal über Meran, den Reschen- und Fernpass bis nach Augsburg. An der Talenge bei Töll westlich von Meran, wo der Vinschgau beginnt, befand sich wohl eine Zollstation, ein teloneum, daher der Name Töll. Dort dürfte der Meilenstein
Wo sich heute Meran ausbreitet, haben die Römer wohl einen Stützpunkt unterhalten. Das Castrum Majense war, je nach Überlieferung, ein kleines Fort oder eine ganze Garnisonsstadt. Letzteres wäre durchaus plausibel, mussten doch das eroberte Gebiet der Räter und die wichtige Straße zum Reschenpass gesichert werden. Nur: Reste dieses Castrums wurden nie gefunden, und so ist manche Geschichte davon nur Legende.