Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt - Jesmyn Ward


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der sich auf einen Deal einließ, bei dem der Cousin zu drei Jahren in Parchman und zwei Jahren Bewährung verurteilt wurde. Ich frage mich, ob Mama wohl ein Summen von dem kranken Auge des Cousins vernommen hat, in seinem Umherwandern Reue gespürt hat, aber sie schaute nur durch ihn hindurch, während ihr ununterbrochen die Tränen über die Wangen liefen.

      Ein Jahr nach Givens Tod pflanzte Mama einen Baum für ihn. An jedem Todestag einen, sagte sie mit vor Kummer brechender Stimme. Wenn ich lang genug lebe, wird hier ein Wald stehn, sagte sie, ein raunender Wald. Der von Wind und Blütenstaub und Schädlingsbefall erzählt. Dann schwieg sie, setzte den Baum in die Mulde und fing an, die Erde um die Wurzeln festzuklopfen. Ich hörte sie durch ihre Fäuste: Die Frau, die Marie-Therese unterrichtet hat – die konnte sehen. Alte Frau, sah fast Weiß aus. Tante Vangie. Sah die Toten. Marie-Therese hatte die Gabe nich. Ich auch nich. Sie grub ihre roten Fäuste tief in die Erde. Ich träum davon. Ich träum davon, Given zu sehn, wie er in seinen Stiefeln zur Tür reinkommt. Aber dann wach ich auf. Und sehe nichts. An der Stelle fing sie an zu weinen. Dabei weiß ich, dass es da is. Gleich hinter dem Schleier. Sie kniete so lange dort auf dem Boden, bis ihre Tränen versiegt waren, dann richtete sie sich auf und wischte sich übers Gesicht, beschmierte es überall mit Blut und Erde.

      Vor drei Jahren, nach dem Koksen, habe ich Given zum ersten Mal gesehen. Es war nicht meine erste Line, aber Michael war gerade ins Gefängnis gekommen. Ich hatte mir angewöhnt, es oft zu tun; jeden zweiten Tag beugte ich mich über einen Tisch, schob Lines zusammen und inhalierte. Ich weiß, das war falsch: Ich war schwanger. Aber ich war wehrlos gegen das Verlangen, zu spüren, wie mir der Koks in die Nase stieg, direkt ins Gehirn schoss und allen Kummer und alle Verzweiflung über Michaels Abwesenheit wegbrannte. Als Given zum ersten Mal auftauchte, war ich auf einer Party im Kill, und mein Bruder kam einfach hereinspaziert, ohne Kugellöcher in der Brust oder im Hals, unversehrt und langgliedrig wie immer. Aber nicht grinsend. Er trug kein Hemd, und sein Nacken und Gesicht waren gerötet, so als wäre er gerannt, aber seine Brust war reglos wie Stein. So reglos wie er gewesen sein muss, nachdem Michaels Cousin ihn erschossen hatte. Ich dachte an Mamas kleinen Wald, an die zehn Bäume, die sie in einer immer größer werdenden Spirale bislang gepflanzt hatte, einen an jedem Todestag. Ich starrte Given an und knirschte mit den Zähnen, bis mein Zahnfleisch wund wurde. Ich verschlang ihn mit meinen Blicken. Er versuchte, mit mir zu reden, aber ich verstand ihn nicht, und er wurde immer frustrierter. Er setzte sich vor mir auf den Tisch, direkt auf den Spiegel mit dem Koks darauf. Ich konnte mich nicht mehr runterbeugen, ohne mit dem Gesicht in seinem Schoß zu landen, also saßen wir nur da und starrten uns an, und ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, damit meine Freunde nicht dachten, ich hätte den Verstand verloren. Sie grölten die Countrysongs mit, knutschten unbekümmert wie Teenager in dunklen Ecken oder liefen mit untergehakten Armen in Zickzackreihen nach draußen in die Dunkelheit. Given guckte mich an wie damals, als wir klein waren und ich die neue Angelrute zerbrochen hatte, die er gerade erst von Pop bekommen hatte: mordlüstern. Als ich runterkam, rannte ich fast zu meinem Auto. Ich zitterte so stark, dass ich kaum den Schlüssel ins Zündschloss bekam. Given stieg neben mir ein, auf den Beifahrersitz, wandte den Kopf und starrte mich mit steinerner Miene an. Ich höre auf, sagte ich. Ich schwöre, ich werde es nie wieder tun. Er fuhr mit mir bis nach Hause, und ich ließ ihn im Auto sitzen, während die Sonne aufging und den Rand des Horizonts in weiches Licht tauchte. Ich schlich in Mamas Schlafzimmer und betrachtete sie im Schlaf. Staubte ihren Altar ab: ihren Rosenkranz, der über der Marienfigur in der Ecke hing, machte mich an den blaugrauen Kerzen, den Flusskieseln, den drei getrockneten Rohrkolben und der einzelnen Yamswurzel zu schaffen. Als ich Givennicht-Given zum ersten Mal sah, erzählte ich meiner Mama nichts davon.

      Durch einen Telefonanruf bei Michaels Eltern würde ich alles erfahren, was ich wissen musste. Ich könnte einfach zum Hörer greifen, die Nummer wählen und beten, dass Michaels Mutter ranging. Es wäre unser fünftes Gespräch, und ich würde sagen: Hallo, Mrs Ladner, ich weiß nicht, ob Sie Bescheid wissen, aber Michael kommt morgen raus, und ich und die Kinder und Misty fahren ihn abholen, Sie brauchen also nicht hin, okay, Ma’am, auf Wiederhören. Aber ich will nicht, dass Big Joseph rangeht und einfach auflegt, nachdem ich nur in die Sprechmuschel geatmet habe, ohne ein Wort zu sagen, während er auch kein Wort sagt. Immerhin könnte ich dann sicher sein, dass er Mrs Landner rangehen lassen würde, wenn ich es noch mal versuchte, damit sie sich mit dem Anrufer rumschlagen müsste, wer es auch sein mochte: Witzbold, Geldeintreiber, verwählt, die Schwarze Kindsmutter von seinem Sohn. Aber ich will mit alldem nichts zu tun haben: will weder in abgehackten Sätzen mit Michaels Mutter reden noch Big Josephs bleiernes Schweigen ertragen. Deshalb fahre ich landeinwärts zum Kill, den Kofferraum mit großen Wasserkanistern und Baby-Feuchttüchern und Schlafsäcken und Taschen mit Klamotten vollgepackt, um eine Nachricht in den Briefkasten am Ende ihrer Auffahrt zu stecken, eine atemlose Nachricht. Dasselbe, was ich hastig gesagt hätte. Ohne Punkt und Komma. Unterschrieben mit: Leonie.

      Michael hatte noch nie ein Wort mit mir gesprochen. Eines Tages in der Schule, ein Jahr nach Givens Tod, setzte sich Michael in der Mittagspause neben mich auf den Rasen, berührte meinen Arm und sagte: Tut mir leid, dass mein Cousin so ein blöder Idiot ist. Ich dachte, das war’s. Dass Michael nach dieser Entschuldigung weggehen und nie wieder mit mir sprechen würde. Aber so war es nicht. Er fragte mich ein paar Wochen später, ob ich mit ihm Angeln gehen wollte. Ich sagte Ja und spazierte einfach durch die Haustür hinaus. Es war nicht mehr nötig, mich wegzuschleichen, meine Eltern waren völlig in ihrer Trauer versunken. Auf die Spinne fixiert: blind für das Netz. Als Michael und ich uns zum ersten Mal trafen, gingen wir mit unseren Angeln auf den Pier hinaus, weg vom Strand; ich hatte Givens Angel dabei und trug sie vor mir her wie eine Opfergabe. Wir redeten über unsere Familien, über seinen Vater. Er sagte: Er’s alt – ’n alter Dickschädel. Mehr brauchte er nicht zu sagen, ich wusste auch so, was er meinte. Er wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass ich mit dir hier bin und dass ich dich küssen werde, bevor der Abend rum ist. Oder, kürzer gesagt: Nigger bleiben für ihn Nigger. Und ich schluckte die bittere Galle, dass sein Vater so war, und ließ sie durch mich hindurchgleiten, denn der Vater ist nicht der Sohn, dachte ich. Denn wenn ich Michael in der scheckigen Dunkelheit unter dem Laubendach am Ende des Piers anschaute, konnte ich den Schatten von Big Joseph in ihm erkennen; ich betrachtete seinen langen Hals und seine langen Arme, seinen schlanken, muskulösen Körper, den schmalen Brustkorb, und ich konnte sehen, wie die Jahre ihn aufweichen und seinem Vater angleichen würden. Wie Fett ihn umlagern würde, wie er sich in seinem stattlichen Knochengerüst einrichten würde, ähnlich wie ein Haus sich in die Erde schmiegt. Ich musste mir immer wieder sagen: Sie sind nicht gleich. Michael beugte sich über unsere Angeln, und seine Augen veränderten ihre Farbe wie die Wolkenberge am Himmel vor einem Unwetter: tiefdunkles Blau, Wassergrau, Spätsommergrün. Er war gerade so groß, dass sein Kinn, wenn er mich umarmte, auf meinem Kopf lag und ich unter ihm geborgen war. Als gehörte ich dorthin. Und ich wollte Michaels Mund auf mir spüren, denn von dem Moment an, als ich im Schatten des Schulschildes gesessen hatte und ihn über den Rasen auf mich zukommen sah, hatte er mich gesehen. Hatte durch Haut in der Farbe von Kaffee ohne Milch, durch schwarze Augen und durch pflaumenbraune Lippen hindurchgeschaut und mich gesehen. Sah die wandelnde Wunde, die ich war, und kam, um Balsam für mich zu sein.

      Big Joseph und Michaels Mutter wohnen auf einem Hügel, in einem niedrigen Landhaus mit weißen Wänden und grünen Rollläden. Es wirkt groß. In der Auffahrt stehen zwei Lieferwagen, strahlen neue, glänzende Pick-ups, die die Sonne reflektieren und Lichtblitze in alle Richtungen schicken. Ein roter Lieferwagen und ein weißer. Drei Pferde grasen auf den parzellierten Wiesen, die ans Haus angrenzen, und eine Schar Hühner rennt über den Hof, duckt sich unter die Pick-ups und verschwindet hinter dem Haus. Ich fahre rechts ran und halte kurz vor ihrem Briefkasten; der grasbewachsene Seitenstreifen am Straßenrand ist hier nicht so breit und grenzt an einen mindestens hüfttiefen Graben, sodass ich aussteigen und zu Fuß zum Briefkasten gehen muss, statt einfach dicht ranzufahren und meinen Zettel vom Wagen aus einzuwerfen. Es ist ein paar Tage her, seit es zuletzt geregnet hat. Als ich zum Kasten gehe, knirscht das trockene Gras unter meinen Füßen. Es sind keine anderen Autos auf dieser Straße unterwegs. Sie wohnen weit oben im Kill, wo bloß noch wenige Häuser und Wohnwagen auf den weiten Feldern stehen, am Ende einer Sackgasse.

      Gerade als ich die Briefkastenklappe


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