Der letzte Ball. Konstantin Josuttis
Von einem Stahlträger, der sich an der Decke durch die Mitte des Raumes zog, hingen die Kopfbedeckungen der Männer: Seemannsmützen mit Schirm, Herrenhüte oder Schiebermützen. Die Decke war im Vergleich zu den prachtvollen Sälen oben recht niedrig. Ein großer Mensch musste aufpassen, dass er sich an den Stahlträgern nicht den Kopf stieß. Ein paar Flaschen Wein (alle leer) standen auf den Tischen. Die Menschen an der Tischreihe, die sich direkt vor Smeralda auftat, blickten sie schweigend an, was Smeraldas eben noch in den Hintergrund tretendes Unsicherheitsgefühl erneut verstärkte. Giovanni hatte sich still und leise neben die Tür gestellt. Nun sagte er: „Der Essenssaal der Emigranten.“ Erst jetzt bemerkte Smeralda einen Mann in vorderster Reihe, der sie auf eine etwas zu direkte, fast wahnsinnige Art anstarrte. Seine glühenden Augen, die von einem hellen Gesicht mit schwarzen, zurückgekämmten Haaren eingerahmt waren, wollten sie durchbohren. Dazu grinste er, als kennte er ein Geheimnis, das sie miteinander teilten. Smeralda lächelte unsicher, machte einen ebenso unsinnigen wie unischeren Knicks und stolperte hinterrücks aus der Tür heraus. Ein Windstoß von der Seeseite ließ ihren Hut etwas nach vorne rutschen.
„Giovanni“, schimpfte sie, „du kannst doch diese Menschen nicht einfach so beim Essen stören.“ Fühlte sie sich ertappt und zu plötzlich an ihren eigenen Hintergrund erinnert?
„Tschuldigung, Señora. Dachte, Sie wollten alles sehen“, erklärte der Gescholtene. Sie atmete durch. „Nein, ist schon recht“, erwiderte sie dann. „Zeig mir nur alles. Man darf keine Seite des Lebens ausblenden. Entschuldige. Die Luft war nur ausnehmend schlecht da drin.“ „Ja“, antwortete ihr Führer, „der Essensraum der Emigranten.“
So gingen sie direkt weiter hinab in die Untiefen des Schiffs und landeten, so war es ihr Wunsch gewesen, im dunkel pochenden Herzen des Monsters: dem Maschinenraum. Als sie in der Mitte des Schiffes eine dunkle Treppe hinabgestiegen waren, die nur vom vereinzelten Funzeln flackernder elektrischer Leuchten erhellt wurde, kamen sie an eine schwere Eisentür, die mit nichts außer einem seltsam fein gerundeten Metallhebel, den man zum Öffnen wohl herunterdrücken musste, verziert war. Allerdings bediente sich Giovanni keineswegs dieses Hebels, dessen abgegriffene Oberfläche sich vom metallischen Grün der Tür abhob, sondern er nahm eine auf dem Boden liegende Rohrzange, um damit gegen die Tür zu schlagen. Das Dröhnen der Schläge setzte sich auf gespenstische Weise von der Monotonie des einschläfernden Brummens des Motors ab. Smeralda schauderte. Nach ein paar Momenten schob sich die schwere Tür nach außen und zwei große Augen blickten von unten auf sie herauf. Ein kleiner Mann im mit schwarzen Flecken verdreckten Unterhemd und einem Tuch um den dürren Hals blickte sie an und lächelte dann ein trauriges Lächeln. Sie gingen an ihm vorbei und sahen, dass hinter der Tür ein weiterer fast auf komische Weise gegensätzlicher Mensch stand, der die Tür aufgedrückt haben musste. Er war doppelt so groß wie sein kleiner Counterpart und dreimal so breit. Seine schwarzen Haare korrespondierten gemäldehaft mit den buschigen Augenbrauen, den hervorsprießenden Bartstoppeln und den haarigen Armen, die das ebenfalls deutlich fleckige Unterhemd zu sprengen drohten. Am schwärzesten aber waren seine Augen, die nicht unfreundlich, aber zumindest unheimlich im künstlichen Licht des Raumes leuchteten. Beide Seiten des kleinen Ganges, auf dem sie nun standen, waren mit demselben Metall besetzt, das sich, je weiter sie nach unten gewandert waren, wie eine wuchernde Pflanze immer mehr auszubreiten schien. Das Metall schien sich sogar auf die Haut der Männer, die hier unten ihr Dasein fristeten, übertragen zu haben – derselbe Glanz ging von den grünlich bleichen Gesichtern der zwei Männer aus.
Giovanni sah wohl keine Veranlassung, den Maschinisten seinen Gast vorzustellen, noch schienen diese zu erwarten, das Eindringen in ihr düsteres Reich erklärt zu bekommen. Sie schlappten zurück den Gang herab, der an einer mit eisernem Geländer ausgestatteten Brücke endete. Hier gingen sie jeweils in gegensätzlicher Richtung einen weiteren vergitterten Gang hinab, welcher wiederum an einer Schaltwand endete, die mit blinkenden Konsolen, Thermometern, Druckmessern und Schalthebeln verziert war. Als Smeralda auf die Brücke trat, sah sie unter sich die ölige Wucht eines sich unendlich drehenden Gewindes, das schnaufende Geräusche machte. Unsicher blickte sie Giovanni an, der sich neben sie gestellt hatte und ebenso fasziniert wie sie auf die überdimensionalen rotierenden Bolzen hinabschaute. Dann nahm sie sich ein Herz und ging auf den Riesen zu, der neben der linken Konsolenwand stand und ins Nichts blickte. Sie winkte den Schiffsjungen zu sich heran, damit dieser übersetzen solle. Nach einigem Geschrei hin und her, raunte der Riese: „Dampfpropeller“. Wie er denn angetrieben werde, wollte Smeralda wissen, die nicht wirklich ein Interesse an den technischen Feinheiten hatte, allerdings das Gefühl hatte, die monotone Arbeit der Männer würdigen zu wollen. „Diesel oder Kohle“, bekam sie zu hören. Im Normalfall nutze man Diesel, im Notfalle könne aber auch mit Kohle erhitzt werden. Ein Dampfmotor mit doppelter Dämpfung, wurde sie noch informiert, das würde die Umsetzung der Kraft optimieren.
Bevor sie gingen, sah Smeralda die offene Tür im Gang, durch den sie gekommen waren, hinter der sich ein Schlund voller Kohle auftat – an der Wand hingen an Haken eiserne Schaufeln. „Der Kohleraum“, klärte Giovanni sie auf. Smeralda erschreckte sich, als sie neben sich den kleinen, hageren Mann stehen sah, der mit rußschwarzen Fingern auf den riesigen Kohlehaufen deutete und etwas für sie nicht Verständliches in das übertönende Ächzen der Maschinen krächzte. Wieder half Giovanni beim Übersetzen. „Er sagt, dass diese Kohle hier für den Notfall genutzt wird. Im Normalfall wird der Motor vom Diesel angetrieben. Sollte der flüssige Treibstoff aus irgendeinem Grunde ausgehen, kann man aber auch mit Kohle heizen.“
„Aber dazu bräuchte man doch unglaublich viele Tonnen Kohle“, warf Smeralda ein, die nur die ersten Ausläufer eines schwarzen Bergs gesehen hatte. Die roten Augen des kleinen Mannes verengten sich zu Schlitzen, als er sie mit gelben Zähnen angrinste und etwas sagte, das Giovanni mit ebensolcher Freude übersetzte. „Der gesamte untere Teil des Schiffes besteht nur aus drei Arten von Räumen.“ Des kleinen Mannes Augen glänzten, während er Smeralda anstarrte. „Dem Maschinenraum, in dem wir stehen, den davor gelagerten Kohle- oder Tankräumen, und den zwei Brennräumen, die in den zwei riesigen Schornsteinen enden, die durch das Schiff nach oben ragen. Der gesamte Bauch des Schiffes – drei Stockwerke – ist also voller Kohle oder Diesel.“
„Faszinierend“, sagte Smeralda, als sie die schwere Eisentür hinter sich wieder verschlossen hatten und sie leicht verängstigt an sich herabblickte, jedoch keine dunklen Stellen an ihrem Kleid feststellen konnte. „Wer sind die beiden?“
„Das sind Pupo und Trampolini. Das sind echte Legenden“, erklärte Giovanni nicht ohne Stolz. Smeralda nickte. „Sind die den ganzen Tag da drin?“, fragte sie. „Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie kommen noch nicht einmal zum Essen heraus. Das wird ihnen gebracht.“
„Schlafen die denn etwa auch da drin?“
„Aber nein, Señora.“
„Na, Gottseidank. Das wäre ja geradezu unmenschlich.“
„Die schlafen gar nicht. Vielleicht im Stehen oder so. Die haben zwar einen Platz in der Kajüte. Aber sie sagen, sie wollen die Maschine nicht im Stich lassen.“
Smeralda schaute Giovanni ungläubig an. „Was sagst du?“
„Die schlafen nicht.“
Smeralda dachte an die blutunterlaufenen Augen, mit denen sie der Kleine – war das Pupo oder Trampolini? – angeschaut hatte. Und jetzt, da Giovanni ihr diese absonderliche Tatsache mitgeteilt hatte, musste sie zugeben, dass sie die beiden schon innerlich mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet hatte. Es war, als hätte sie bereits erkannt, dass sie ihre Menschlichkeit gegen eine Funktionalität eingetauscht hatten, die zwar auf den ersten Blick grausam wirkte, aber einer kalten Logik folgte. „Man kann nicht nicht schlafen“, sagte sie, als wolle sie sich an einem letzten Strohhalm festhalten. „Die können das“, erwiderte Giovanni mit einer Gelassenheit, die Smeralda etwas störte, wahrscheinlich, weil sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie in ähnlich unbeteiligtem Ton über die beiden reden würde. Als wolle sie sich selbst bestrafen, zwang sich Smeralda daher, weiter in den Untiefen der Maschine zu forschen, wie ein Arzt, der die Gedärme seines Patienten nach weiteren Krebsgeschwüren untersuchen muss.
Hinter den Maschinenräumen lagen die Schlafkabinen