Der letzte Ball. Konstantin Josuttis

Der letzte Ball - Konstantin Josuttis


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Wahn. Seine Liebe und Unterwerfung. Meine Mutter ist genauso.“

      Smeralda schaute ihren Gegenüber an. Sie verstand nicht ganz, was der Schiffsjunge sagte, aber aus irgendeinem Grund spürte sie tiefes Mitgefühl.

      „Ich komme aus einem kleinen Ort in der Nähe von Genua. Meine Eltern sind einfache Menschen, wissen Sie? Mein Vater fährt jeden Tag aufs Meer raus, damit wir über die Runden kommen. Ich bin mitgefahren, seit ich sechs bin. Aber meine Mutter arbeitet nicht mehr.“ „Sie passt sicher auf die Kinder auf?“

      „Nein, meine zwei älteren Geschwister sind alle schon weg, so wie ich. Die Kleine ist zuhause. Aber Mama kümmert sich nicht um sie.“

      „Sondern?“

      „Sie schreibt Briefe. Mehrere täglich. Sie sitzt am Küchentisch vor einem Foto unseres Duce und schreibt, wie sehr sie ihn verehrt und dass sie ihn noch einmal sehen will.“

      „Noch einmal?“

      „Ja, sie war einmal bei einem dieser Aufmärsche. Stand in vorderster Reihe. Und rausgeputzt war sie. Wie ein Panettone in der Weihnachtszeit. Kreischte und winkte. Wir anderen, Papa, Beppo, Giuliano, Camilla und ich, standen weiter hinten, aber sie ist irgendwann mal nach vorne gestürmt. Mussolini hat ihr zugewunken. Nachdem er auf seinem großen schwarzen Gaul vorbeigeritten ist, kam später ein Mann in einer schicken Uniform und hat meine Mutter gefragt, ob sie eine Privataudienz bei ihrem Duce del Fascismo haben wolle. Sie drehte sich kurz um und rief uns zu, dass sie nun den Duce sehen werde und weg war sie. Wir haben noch bis zum Abend vor dem Palazzo gewartet, dachten, sie müsse ja nun rauskommen. Tat sie aber nicht. Wir haben den letzten Zug zurück genommen. Am nächsten Tag kam sie am Nachmittag zurück, ganz aufgelöst, mit roten Wangen und einem abwesenden Blick. Danach hat sie meinen Vater noch mehr verachtet als vorher. Also ging er noch früher zum Fischen, kam noch später nach Hause, in der Hoffnung, mehr zu fangen und somit ihr Herz zurückzugewinnen. Aber ihr Herz hängt an einer Erinnerung und einer Fotografie, die in ihrer Kommode steht.“

      Smeralda umfasste mitfühlend Giovannis Hände. „Du Armer. Das tut mir leid.“ Er blickte sie an. Und fuhr fort:

      „Das Schlimme ist: Ein Teil von mir kann sie verstehen. Wir sind immer arm gewesen. Etwas, das Sie sich nicht vorstellen können, Señora. Aber wenn man immer mit Hunger im Bauch aufwächst, dann zermürbt einen das. Und was wäre, wenn der Duce uns tatsächlich ein besseres Leben geben könnte? Wenn es die Bolschewisten und die Royalisten wären, die das ganze Unglück über uns bringen. Und die Juden? Und die Neger? Ich verstehe das alles nicht, Señora. Aber wenn mir jemand einen Traum gäbe, der mir ein besseres Leben verspricht, einen Traum, der mich zu einem besseren Menschen macht – ich weiß nicht, ob ich ihm nicht auch verfallen würde. Und vielleicht ist dieser Duce ja genau der Mann, der das macht. Der besondere Mann.“

      Smeralda streichelte einmal über die zusammengefalteten Hände des Schiffsjungen und ließ sie dann los. Sie blickte ihn scharf an, als sie sagte: „Meine Erfahrung, Jungchen, ist, dass Männer sich nicht so groß voneinander unterscheiden. Es kann sein, dass dieser Duce ein ganz toller Kerl ist. Es kann aber auch sein, dass er nur besonders hungrig ist.“

      Die Kommandobrücke hatte etwas Überirdisches. Smeralda stellte sich so das himmlische Wolkenzimmer vor, in dem Gott saß und auf die Welt herabschaute. Der Raum zog sich fast über die gesamte Breite des Schiffes und lag so hoch, dass man vom Schiff selbst, wenn man am hinteren Ende der Brücke stand, nur noch die Spitze des Bugs sah. Während man nach vorne durch eine nicht enden wollende Glasscheibe, die nur von der Kommandostation in der Mitte unterbrochen wurde, in die Weite schaute, war die Hinterseite seltsam unspektakulär weiß. Lediglich ein Rettungsring mit dem Namen der Conte Verde und eine aufgemalte italienische Flagge prangten von dieser Wand. Ein Mann stand einsam vor dem Schaltrelais in der Mitte des Raumes und starrte nach draußen, verklärt und träumerisch. Er schien die beiden Gäste gar nicht zu bemerken. Erst als sie die Hälfte des Wegs auf ihn zu gemacht hatten, drehte er seinen Kopf und schaute sie an. Giovanni salutierte und erklärte: „Signora wünscht eine Führung durchs Schiff.“ Der Kapitän nickte. „Freut mich, Sie wiederzusehen, Signora Cortazar. Sie haben sich genau den richtigen Führer ausgesucht. Giovanni kennt jede Ecke unseres Dampfers und wird all ihre Fragen gewissenhaft beantworten können.“

      Smeralda lächelte. „Sie sind zu gütig, Capitano.“

      Er lächelte seinerseits und nahm ihre Hand, um einen Kuss anzudeuten. „Nennen Sie mich Amedeo.“

      Smeralda errötete. Sie sah in das kantige und dennoch zart wirkende Gesicht des Kapitäns und blickte schnell wieder nach vorne, auf die vielen Anzeigen auf den Armaturen. Ein helles Licht schien alles in eine erhabene Dämmerigkeit zu tauchen und sie spürte das eine Gefühl aufsteigen, das sie auf der ganzen Hinreise von Montevideo bis nach Genua und bis zum heutigen zweiten Tag ihrer Rückreise gekonnt vermieden hatte.

      Sie war gekleidet wie eine feine Dame, ihr enganliegendes Glasbatist-Jackenkleid aus Flamenga war verziert mit feinen Bändchen, Schleifchen, kleinen Krausen und Falbeln. Auf ihrem Kopf trug sie eine dunkelblaue Toque, die ihr wellendes blondes Haar nur ansatzweise verdeckte. Sie wusste, dass sie umwerfend schön war, dass ihr rundes, weiches Gesicht, in dem der volle rote Mund und die großen, dunklen Augen hervorstachen, die Männerwelt in Verzückung versetzte. Aber sie wusste auch, dass jeder an Bord wusste, dass sie alleine reiste. Und daher war ihr ihr Beruf auf die Stirn geschrieben. Jedem war klar, was sie war. Und das Gefühl, das sie sonst mit ihrem üppigen Lebensstil vertreiben konnte, die Scham, die sie, seit sie von zuhause fortgerannt war, wie ein unangenehmer Freund begleitete, übermannte sie hier auf der Brücke im Angesicht eines Mannes, der wie die Reinheit in Person wirkte.

      Also hörte sie gar nicht richtig zu, als der Kapitän ihr die Armaturen erklärte, den Radar und die Kraft der Maschinen lobte, als er über die Schwierigkeit sprach, die Orientierung auf wilder See zu behalten und die noch größere Schwierigkeit, eine Mannschaft zu führen.

      „… durch die Dampfturbinen mit doppelter Reduktion erreichen wir eine Geschwindigkeit von über 18 Knoten und das bei über 18.000 Bruttoregistertonnen.“ Pinceti schaute ihr erwartungsvoll ins Gesicht und Smeralda schaltete ihr angelerntes Lächeln an. „Das ist faszinierend, Kapitän.“

      „Es tut mir leid, Signora. Ich langweile Sie hier mit technischen Daten, während Sie sich lediglich das Schiff ansehen wollen.“

      „Nein, nein.“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Mir tut es leid. Ihr Vortrag war sehr interessant. Und es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Ihre wertvolle Zeit zu opfern.“ Es kam nicht oft vor, dass ein Mann durch ihre Maske von aufgesetzter Freundlichkeit schaute, was sie zusätzlich verstörte.

      „Giovanni. Zeig der Dame unser Schiff. Und lass dich nicht von einem anderen Langweiler wie mir aufhalten.“ Giovanni nickte devot und Smeralda fiel keine passende Antwort ein, mit der sie dem Kapitän versichern konnte, dass er sie keineswegs gelangweilt habe, und so machte sie einen unbeholfenen Knicks und folgte dem Schiffsjungen.

      Die frische Luft tat ihr gut. Die Seebrise, die sich erfrischend auf ihr Gesicht legte, schien sie von ihrem schlechten Gewissen reinzuwaschen und so schob sie mit geschlossenen Augen die Hand am kühlenden Geländer nach unten. Sie hörte Stimmen in verschiedenen Sprachen, die sie nicht verstand, das dumpfe Geräusch von hölzernen Shuffleboardscheiben, die über den Boden zischten, das unendliche Rauschen des vom Schiff in zwei Teile geschnittenen Meeres, und das leise, monotone Dröhnen des Dampfmotors.

      Die Dunkelheit im Raum, den sie betraten, war wie ein scharfer, schmerzhafter Schock. Es war auf eine seltsame Art still in diesem Raum und als Smeralda sich an die Schwärze gewöhnte, nahm sie bleiche Gesichter wahr, die sich ihr zuwandten. Jetzt wurde ihr klar, weshalb sie die Stille als sonderbar empfunden hatte: Man hörte das geschäftige Klappern von Besteck auf Tellern, das Knarren von Stühlen, das Kreischen von Messern auf Porzellan, aber keine Stimmen. In einem Raum, der außergewöhnlich klein und beengend wirkte, waren Tische in Reihen aufgestellt, an denen zusammengepferchte Menschen ihr Mittagsmahl einnahmen. Mütter saßen mit Kindern auf ihrem Schoß neben ihren Männern, Schwestern, Brüdern, Cousins und Cousinen (ältere Menschen


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