Der letzte Ball. Konstantin Josuttis
Tage vor, dass ich verlegen bin, das kann ich Ihnen garantieren.“
„Bei deinem Mundwerk kann ich mir das gar nicht vorstellen.“
„Tja, wo Sie es sagen, Madam, da haben Sie recht. Mein Mundwerk hat auch dafür gesorgt, dass ich hier schrubben darf.“
„Warst du etwas vorlaut deinen Vorgesetzten gegenüber?“
„So ist es, Madam. Sie kennen sich gut aus.“
„Mit manchen Dingen kenne ich mich ganz gut aus, das stimmt. Wie heißt du, junger Mann?“
Der Junge wischte sich die Hände an den Hosen ab und verbeugte sich. „Giovanni Giotta, Madam.“
„Angenehm, junger Mann. Mein Name ist Smeralda Acuna Cortazar. Sag mal, Giovanni, ist das deine erste Fahrt mit dem Schiff?“
Stolz reckte Giovanni seine Brust. „Keineswegs, Madam Cortazar. Dies ist die dritte. Dieses Schiff ist sozusagen mein zweites Zuhause.“
„Musst du denn nicht zur Schule?“
„Schule, pah. Da lernt man ja nichts Richtiges. Nein, Madam. Ich bereise die Weltmeere und dann werde ich ein Restaurant in New York eröffnen.“
„Ah, daher dein gutes Englisch.“
„Danke Madam.“
„Hör zu, Giovanni.“ Smeralda schaute nach draußen, auf die Seeseite in die Leere. Sie wusste, wie man Pausen einsetzen musste, um zu bekommen, was man haben wollte.
„Ich brauche unbedingt jemanden, der mich ein wenig herumführen könnte. Fällt dir irgendjemand ein?“
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie der Schiffsjunge mit sich rang. Als sie ihn wieder direkt anschaute, mit einem zauberhaften Lächeln auf den Lippen, bemerkte sie, dass er errötet war.
„Madam, ich würde, so glaube ich, fast alles für Sie tun. Dummerweise muss ich hier schrubben. Und wenn Cavesi sieht, dass ich nicht da bin, wo ich sein soll, dann lässt der mich kielholen.“
Smeralda lächelte noch breiter.
„Ich mache dir ein Angebot, Giovanni. Wenn Herr Cavesi tatsächlich bemerken sollte, dass du nicht da bist, wo du sein sollst, dann werde ich ihm persönlich klarmachen, dass es mein Wunsch war, dass du mich durch dieses Schiff führst. Und wenn er nichts bemerkt, dann haben wir beide eine schöne Zeit zusammen gehabt. Was meinst du?“
Giovanni schluckte.
4.
In einer schier endlos scheinenden Schleife ging es achtern und bugwärts, mittschiffs, Richtung Steuerbord und Backbord, nach Lee und nach Luv, treppauf, treppab durch alle Klassen, vorbei an Fluren, Sälen, Maschinenräumen, Kombüsen, Lagern, Wäschesälen, Vorratszimmern, Billardsalons, Musiksälen, Krankenzimmern, Navigationsräumen, Gepäckablagen, Kohletendern, Brennkammern, Raucherzimmern, Badesälen, Kartoffellagern, Bibliotheken, Kommandobrücken, Luxuskabinen, Emigrantenschlafräumen, Offiziersmessen, Belüftungsschächten, hell, dunkel, sonnenüberflutet, schattig, düster, oberdeck, unterdeck, kreuz und quer, durch enge Gänge und breite Hallen, langsam, bedächtig, hastig, schreitend, stolpernd, staunend, lachend, entnervt, launig, erfreut, summend, schweigend, suchend, immer suchend nach der nächsten Überraschung, dem nächsten Grund zu staunen und zu schwelgen, zu träumen und zu schwärmen. Doch diese Reise durch das Innenleben des Dampfers, in Smeraldas Kopf seit diesem Tag mit all jenen Attributen verankert, soll ausführlicher beschrieben werden, da sie tatsächlich bemerkenswert und ebenfalls von Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte ist.
Giovanni hatte sich zunächst vielbedeutend umgesehen, was deutlich zum Ausdruck bringen sollte, wie groß das Risiko war, das er für Smeralda einzugehen bereit war. Dann schritt er, den Putzeimer samt Feudel in eine Ecke schiebend, breitbeinig den Gang hinab, wobei die weiten Ärmel seines weißen Matrosenhemdes im Wind flatterten. Smeralda fühlte sich zehn Jahre jünger, als sie als Mädchen dem dunkeläugigen Enrico die matschige Gasse hinauf gefolgt war, weil er ihr die Leiche eines geköpften Frosches zeigen wollte. Gespannt war sie vorbei an Holzverschlägen in Richtung Feld gegangen und hatte ihn dann als Bezahlung auch die Ansätze ihrer mädchenhaften Brüste ertasten lassen, stolz, dass er daran Interesse gezeigt hatte und dennoch voller Scham, als er über sie gelacht hatte, da sie ihm zu klein schienen. Enrico hatte ein Jahr später Maria aus der Nachbarschaft geschwängert und war in die Stadt gegangen, um dort für seine Familie sorgen zu können. Niemals, so dachte Smeralda, wirst du so viel verdient haben wie ich. Und niemals wieder wirst du so volle Brüste berührt haben, wie ich sie jetzt habe.
Sie begannen ihre Reise auf dem A-Deck, gingen die Promenade backbord entlang und traten in einen dunklen Raum ein, der sich als eine Vorratskammer herausstellte. Wobei Kammer wohl der falsche Begriff war. Der Raum ähnelte in der Größe eher Smeraldas eigener Kabine. Von der Decke hängende Zwiebelstrünke streiften Smeraldas Schulter, als sie an Wandschränken vorbeiging, die mit allerlei Konserven, mit Gemüse gefüllten Eimern und Obstsäcken gefüllt waren, Kartoffelkisten umrundete und anschließend in einen weiteren Raum mündete, der ungefähr die doppelte Größe hatte und mit vier Tischreihen ausgestattet war, die von nicht mehr ganz jungfräulichen weißen Decken belegt waren. Giovanni hatte sich zunächst vorsichtig vorgearbeitet, indem er vom runden Fenster in der Tür vorsichtig in den Raum gespickt hatte. Ein mittelalter Mann mit weißer Schürze zog von einem Tisch eine Tischdecke fort. Er rief Giovanni etwas auf Italienisch zu, was diesen dazu brachte, aus seinem Versteck hervorzukommen. Die beiden unterhielten sich lautstark und der Schiffsjunge deutete Smeralda mit einem Winken an, ebenfalls den Raum zu betreten. „Die Offiziersmesse“, kommentierte er. Als der Mann mit der Schürze, klein, mit strubbeligen schwarzen Haaren, Giovannis Begleiterin sah, verbeugte er sich kurz und nuschelte etwas, das wie „Signora“ klang. Dann wies er Smeralda mit einer schnellen Handgeste an, an einem der Tische Platz zu nehmen. Sie schaute Giovanni an, welcher mit den Schultern zuckte und sich setzte. Also tat Smeralda es ihm gleich. Kurz darauf kam der Beschürzte mit einem dampfenden Metallkännchen zurück, das den unwiderstehlichen Duft von Kaffee verbreitete. Er setzte noch mit Goldrand verzierte Kaffeetassen ab, sagte etwas, verbeugte sich und ging. Giovanni rief ihm im Gehen hinterher.
„Was hat er gesagt?“, wollte Smeralda wissen.
„Ach …“
Nun wurde Smeralda neugierig. „Nun?“
„Er hat Unsinn geredet. Er wünschte mir Glück bei meinem ersten Rendezvous.“ Giovanni schaute betreten auf den Tisch, während Smeralda lachte.
„Dann wollen wir unser erstes Rendezvous doch genießen, oder?“ Und so saßen sie beide da und tranken, bis Giovanni die Stille unterbrach.
„Wenn Cavesi mich hier erwischt, bin ich dran“, murmelte er vielsagend.
„Ach, dieser Cavesi. Du magst ihn wohl nicht, oder?“
Giovanni schaute auf. „Er ist verrückt. Das ist er. Und das ist der Grund, weshalb ich ihn nicht mag.“
„Nun, er scheint ja auch Schwierigkeiten mit dem Kapitän zu haben. Ich habe erlebt, wie er gestern aus dem Dinnersaal rausgeworfen wurde.“
„Der Käptn‘ is’n feiner Kerl“, kommentierte der Schiffsjunge. „Aber seit dem Streit zwischen den beiden ist Cavesi noch unausstehlicher. Und er war schon vorher nicht zu ertragen.“
„Was hast du denn gegen ihn?“
Giovanni antwortete nicht. Er schien mit sich zu ringen.
„Ist es seine politische Meinung?“
Giovanni blickte auf. „So kann man es auch nennen. Der Mann ist fanatisch. Ein völlig blinder Eiferer.“
„Aber warum stört dich das? Soll er doch glauben, was er will.“
Wieder druckste Giovanni herum und senkte sich tief in seine Tasse, um seine Gedanken zu verbergen. Schließlich, nachdem er sie mit einem halb schmatzenden, halb klirrenden Geräusch abgestellt hatte,