Der letzte Ball. Konstantin Josuttis
entkommen könne.
Irgendwann aber zwängte sich ein zarter Lichthauch durch die Vorhänge hindurch und kündigte den unvermeidlichen nächsten Tag an.
Vorsichtig setzte er sich auf, ohne sich umzusehen stand er auf und tastete sich nach vorne. Einen schattenhaften Umriss auf dem Boden erkannte er als seinen Morgenmantel. Er hob ihn auf und schlich zur Tür, wobei er mit einem Bein gegen eine Tischkante stieß. Er biss sich auf die Zunge und öffnete so leise wie möglich die Tür nach draußen. Auf dem Gang empfing ihn eine undurchdringliche Finsternis. Noch bevor er nachdenken konnte, hatte er die Tür hinter sich verschlossen und fluchte leise. Er wusste, wie er zu seiner Kabine zurückfinden konnte (links, rechts und nochmals rechts), aber er wollte nicht noch einmal eine unliebsame Bekanntschaft mit einer Wand oder einem ihn aus der Dunkelheit attackierendes Mobiliar machen. Also begab er sich auf alle Viere und kroch vorwärts. Wenn es einen Beobachter dieser seltsamen Szenerie gegeben hätte, so hätte er Moritz Fischer vielleicht für einen Bären gehalten, aber das keuchende und brummende Wesen, das sich durch die Gänge schlich, war niemand anderes als der FIFA-Vizepräsident. Seine Strategie hatte Erfolg: Ohne sich weiter zu verletzen, kam der Bär in seiner Höhle an, durchquerte sein Vorzimmer, mittlerweile wieder auf zwei Beinen, da das Bullauge die ersten Lichtstrahlen in die Kajüte durchließ, und kletterte auf sein eigenes, noch immer frisch riechendes Bett. Er starrte an die Decke und träumte mit offenen Augen den Traum noch einmal durch, den er diese Nacht erlebt hatte.
2. Tag, 20. Juni 1930 – Smeralda
1.
Sie hatte gemerkt, wie er aufgestanden war, sich heimlich angezogen und verstohlen die Kajüte verlassen hatte. Natürlich hatte sie es gemerkt. Die Fähigkeit, jede Bewegung und jedes damit verbundene Vorhaben des Bettpartners vorauszusehen, hatte sie erst so weit gebracht, wie sie jetzt war. Sie hatte sich diese Fähigkeit in einer harten Schule antrainiert. Danach, als er gegangen war, war sie kurz aufgestanden, hörte ihn zwischenzeitlich draußen auf dem Gang poltern und wusch sich. Sie schüttelte die Bettdecke aus, wobei ihr ein abgerauchter Stumpen einer Zigarre des großen Mannes, den er in der Tasche seines Bademantels gehabt haben musste, entgegengeflogen kam. Als sie hinter die Jalousien blickte, sah sie auf einen frischen Morgen. Ein paar vom Sonnenlicht noch nicht absorbierte Sterne funkelten noch auf der Wasseroberfläche. Sie seufzte und setzte sich an den Mahagonisekretär, in dem sie die Liste der Männer aufbewahrte.
Wie immer nach solch einer Nacht fragte sie sich, ob sie in ihrem Leben die richtigen Entscheidungen getroffen hatte, und wie immer kam sie zu dem trotzigen Entschluss, dass es so sei. Sie befand sich in einer Luxuskabine auf einem Luxusdampfer. In zwei Stunden würde sie sich einen Tee bringen lassen. Sie war, das war unbestritten, eine Schönheit. Sie war glücklich.
Und dann, wie immer, wenn sie innerlich so mit sich rang, schlich sich dieser andere Gedanke an: Aber sie war verloren. Nicht verdorben oder schmutzig, sondern verloren. Das Körperliche, bedrohlich nahe an ihrem Beruf prallte mittlerweile an ihr ab. Es war Teil des Opfers, das sie brachte, Teil der Arbeit und in wenigen Fällen war es zuweilen angenehm. Das, was ihr der Beruf allerdings genommen hatte, war mehr als nur ihre körperliche Unschuld. Sie rühmte sich mittlerweile, nachdem sie in etlichen Etablissements gearbeitet und sich langsam, aber sicher immer weiter in gesellschaftliche Schichten hochgearbeitet hatte, das Wesen des Menschen im Allgemeinen und des Mannes im Besonderen zu kennen. Und das war ernüchternd. Selbst die eloquentesten, bestgekleideten, ehrlichen, ernsthaften und prüdesten Exemplare dieser Gattung waren an einer Stelle verwundbar, hatten diese eine Schwäche, diesen Trieb, der im Zweifelsfall ihr ganzes Tun und Treiben bestimmte. Das war auf mitleiderregende Art erniedrigend für die Spezies Mann. Denn sie hatte ihren Vater so lange geliebt, bis er gestorben war und sie das kleine Dorf am Lago Rincon verlassen hatte. Und sie hatte an das geglaubt, was er ihr immer erzählt hatte, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes seien und im Grunde ihres Herzens gut. Aber wenn sie alle so anfällig waren – dann war der Grund ihres Herzens, so rein er auch sein mochte, verfärbt von einer milchig trüben Flüssigkeit, die sich in die Reinheit aller mischte. Nicht dass die Frauen besser wären. Smeralda hatte zwei Typen im Laufe ihres Lebens kennengelernt: Die, die mit allen Mitteln von der Schwäche des Mannes profitieren wollten (zu diesem Typ zählte sie sich selbst), und solche, die Männer für ihre Schwäche abgrundtief verachteten. Es gab natürlich auch welche, die eine Mischform mit Ausgiebigkeit praktizierten. Beide Positionen waren Variationen eines und desselben Gifts, das Desillusionierung hieß. Deshalb war sie verloren. Sie glaubte nicht mehr an das Gute im Menschen. Sie war verloren, weil eine Frau auf die Stärke des Mannes angewiesen war. Aber der Mann war als solcher schwach.
Smeralda strich mit ihrem rechten, schlanken und weißen Zeigefinger über das etwas vergilbte Foto Fischers, der sie anstrahlte. Im grünen Licht der sanft glimmenden Schreibtischlampe wirkte sein Konterfei etwas dicklicher als die Wangen, die sie vor Stunden noch in den Händen gehalten hatte. Von seiner ungestümen Art ließ sich schließen, dass er unverheiratet war, aber das hatte sie schon vorher gewusst. Er war das leichteste Ziel ihrer Arbeit gewesen. Die anderen, sie blätterte weiter, würden sich als schwieriger erweisen, aber keinesfalls – und das war Teil ihres Dilemmas – unmöglich. Auf seine Art war er unschuldig und süß gewesen und sie hatte ihn mit einem ernst gemeinten Kuss belohnt, woraufhin er schleunigst und laut schnarchend eingeschlafen war. Sie stieg, nachdem sie erst jetzt durch einen kurzen Schauder bemerkt hatte, wie kalt ihr war, in frische, seidene Unterwäsche und legte sich ins Bett zurück. Es ist ein gutes Leben, dachte sie sich dabei, ein gutes Leben.
2.
„Signora wünschen noch etwas?“
Smeralda winkte ab. Vor ihr tat sich ein wahres Potpourri kulinarischer Frühstückskunst auf. Sie hatte frische Melonen, gelbbraun gebackenen, duftenden Toast, eine überflüssig große Auswahl an Marmeladen (gelb, orange, rot, hellrot, braun, blau), vorgeschnittene Butterstückchen auf einem weißen Tellerchen, knusprig gebratenen Schinken, Tomaten, Gurkenscheiben, Brot, Salz, Pfeffer, Rührei, gekochtes Ei, gekochtes Wachtelei, eine Tasse Tee und daneben eine Kanne Kaffee (man kannte ihre Vorlieben offenbar bereits) und einen frisch gegrillten Fisch auf dem Tisch. Smeralda kannte sich nicht aus mit Fischen, aber dieser hier sah einladend aus, das verschwommene Auge schien milde zu blicken und der geöffnete Mund offenbarte so etwas wie Absolution. Sie aß langsam, blickte dabei immer wieder in den großen Saal, der ihr diese begehrte Ersatzbefriedigung bescherte. Die großen, orientalischen Teppiche, die üppigen Blumenbouquets, die Kronleuchter, die so zerbrechlich herabhingen, die weißen Säulen, die die Wände zierten, das fluoreszierende Licht, das durch die Glaskuppel in den Saal schien – all das war für sie Illusion genug, um sich innerlich zu entspannen.
Der Saal, in dem sie sich befand, war noch nicht gefüllt, es würden noch Passagiere an Bord kommen, wichtige Passagiere, Passagiere, um die sie sich kümmern würde müssen. Aber immerhin waren es ungefähr die Hälfte aller Menschen, die ihr Frühstück einnahm und über den Saal verteilt an ihren Tischen saß. Sicher waren einige Frühstücksgäste schon früher hier gewesen und wahrscheinlich würden auch noch einige kommen.
Sie schaute sich die Männer an, die hier saßen und die sie alle schon mehr oder weniger offenkundig angestarrt hatten. Selbst in Damenbegleitung zwang sich ein verhuschter Blick wie zufällig zu ihr herüber und sie wusste, dass dieser eine Blick reichte, um den Mechanismus der Fantasie in Gang zu bringen. Das wussten wohl auch die Gattinnen. Die Frau am Tisch schräg vor ihr schlug ihrem Mann mit der Hand auf den Arm, als dieser sich die prachtvollen Ölgemälde an der Wand, die in seinem Rücken hingen, anschaute. Smeralda musste lächeln. Es war nicht so, dass sie sich nicht über die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, freute. Sie fragte sich, als sie den Mann mit dem schwarzen Anzug sah, dessen Nackenspeck sich über den nicht mehr weißen Hemdkragen wölbte, und seine Frau, die kerzengerade auf ihrem Stuhl saß, als wollte sie dem Wind und dem Wetter draußen trotzen, mit ihrem runden, beblümten Hut, der durch zwei Nadeln mit goldenen Köpfen in ihrem Dutt festgehalten wurde, ob diese zwei Menschen sich noch körperlich näherkamen und wenn es so war, wie es sein würde – zwanghaft und pflichtbewusst oder ob sie ihre bürgerliche Spießigkeit in einem wilden Akt vollkommener Enthemmtheit loslassen