MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez. Группа авторов
um die Zuschreibungen kommt dem Beitrag von Josquin dabei eine besondere Rolle zu. Im Mittelpunkt steht ein Ausschnitt aus der Klage der verlassenen Dido (Dulces exuviae) aus dem vierten Buch der Metamorphosen des Ovid (IV, 651–654). Es ist ein Schlüsselmoment der Episode, denn es geht um Didos Entschluss zum Selbstmord.25 Josquins Vertonung ist außergewöhnlich, es handelt sich um eine cantus-firmus-lose vierstimmige Komposition, die formal, satztechnisch und tonal experimentell wirkt – allerdings ohne den normativen Rahmen des vierstimmigen polyphonen Satzes infrage zu stellen, im Gegenteil. Der Satz unterscheidet sich nicht von dem einer Motette.26
Das musikalische Verhältnis zur antiken Vorlage, das hier gesucht wird, ist also gerade nicht das einer strukturellen Anpassung – wie es die Tritonius-Oden auszeichnet. Im Gegenteil, auf den ersten Blick wirkt es sogar so, dass im musikalischen Satz jeglicher Bezug zur Antike vorsätzlich gemieden wird. Auch in diesem Fall steht folglich, wie bei den groß besetzten Liedern, kein nachahmendes, sondern ein distantes Verhältnis zum Text im Vordergrund, offenbar allerdings in einem abweichenden Begründungszusammenhang. Es geht, anders als in den Liedern, nicht um musikalisch-poetische Evidenz durch die Erzeugung eines ästhetischen Eigenwertes, sondern um die musikalische ›Beschreibung‹ eines antiken Textes. In einem solchen Verfahren wird der historische Abstand also gerade nicht aufgehoben, sondern willentlich betont. Die Klage der Dido wird mit jenen kompositorischen Mitteln dargestellt, welche die Zeit um 1500 bereithielt, sie wird ›beschrieben‹.
In der antiken Rhetorik wurde eine solche Beschreibung als ›ekphrasis‹ oder ›descriptio‹ bezeichnet. Damit sollten v. a. abwesende Bildwerke anschaulich vermittelt werden, der Zuhörer sollte sich folglich in einen Zuschauer verwandeln. In der Kunsttheorie des 15. Jahrhunderts wurde die ›ekphrasis‹ zu einem wichtigen Moment, um gewissermaßen ästhetische Präsenz erst erzeugen und vermitteln zu können.27 Durch das Verfahren in Dulces exuviae partizipiert damit auch die Musik an der Möglichkeit zu einer solchen Präsenz, aber auf eine unerwartete Weise. Ein Vergleich mag das veranschaulichen: Um 1495 malte Sandro Botticelli seine Verleumdung des Apelles, eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Problem, dessen erste Schicht die Übertragung einer Beschreibung Lukians in die optische Wirklichkeit um 1500 bildete.28 Josquins Musikalisierung eines antiken Textes steht einer solchen Engführung nahe. Im Gemälde Botticellis wird die antike Beschreibung mit den visuellen Mitteln der Gegenwart erfahrbar gemacht, in Dulces exuviae sind es die kompositorischen Mittel. In beiden Fällen verschwimmen die Grenzen, nämlich in der Frage, was denn nun eigentlich der ›Gegenstand‹ und was seine ›Beschreibung‹ ist. Jedoch ›verschwindet‹ bei Botticelli der Text, auf den sich der Maler bezieht, während er durch Josquins Komposition erst wirklich zur Geltung kommen soll. Es geht eben nicht um einen Text, der selbst ›ekphrasis‹ ist, sondern um einen, der die Auffassung auslöst, Musik könne ›ekphrasis‹ sein.
Josquins ›ekphrasis‹ richtet sich auf das Verhältnis zur Antike, um sie mit den Mitteln der Gegenwart erfahrbar zu machen. Anders als in den Oden geht es nicht um eine bloße Nachahmung oder Wiederentdeckung, sondern, hierin Botticelli (und anderen) wenigstens vergleichbar, um eine Klärung im Sinne eines ästhetischen Eigenwertes. Die Musik der Gegenwart vermag damit auf eine Weise zu wirken, die derjenigen der Antike nicht nur vergleichbar, sondern ihr wohl auch überlegen ist. Gerade eine solche grundsätzliche Klärung verstärkt den Charakter des Experiments, denn sie richtet sich auf das Außergewöhnliche, auf einen Ausnahmezustand gewissermaßen. Daraus erklärt sich die Textwahl, gebunden an die affektive Extremsituation der zum Suizid entschlossenen Dido. Akzeptiert man diese Deutung, handelt es sich bei einer solchen Ovid-Vertonung zwar um einen isolierten Einzelfall, aber mit dem Anspruch einer paradigmatischen Klärung. Dies könnte dann auch erklären, warum daraus, wiederum im Gegensatz zu den Oden, kein funktionierender Gattungszusammenhang (etwa vierstimmiger Sätze über antike Texte) erwachsen sollte. Die vollkommen neue Art, über das musikalische Verhältnis zur Antike nachzudenken, sollte dennoch Konsequenzen haben für das Verständnis aller Musik.29
VI
Die Entstehung und Ausdifferenzierung der musikalischen Gattungen im 15. Jahrhundert hat die Musikgeschichte nicht nur anhaltend geprägt, sondern eine solche im eigentlichen Sinne (also von anhaltender, konkreter Erinnerung) erst möglich gemacht. Um 1500 hatte sich die Situation insofern verändert, als die Normengeflechte der Gattungen bereits weitreichend definiert waren – jeder einzelne Beitrag also notwendig als Auseinandersetzung mit diesen Normen und ihren Traditionen gelten musste. Dabei waren diese Normen nicht (oder nur sehr vage) Gegenstand expliziter Festlegungen, sondern stets Resultate der Kompositionen selbst, also der Gattungsbeiträge und ihrer Beziehungen untereinander.30 Es scheint, als habe Josquin um 1500 unmittelbar auf diese Wirklichkeit reagiert, in einer Reihe von Experimenten. Dazu zählt der Ausbau der liturgischen Stabat-Mater-Sequenz, also einer eigentlich ›kleinen‹ liturgischen Gattung (was hieß: strophisch, alternatim und eher dreistimmig), zu einer großangelegten Motette, die ihrerseits – in der Verwendung eines französischen Tenors – Gattungsgrenzen überschreitet, nämlich zur Chanson. Ein ähnlicher Status gilt für Scaramella va alla guerra, wo es nicht um Grenzüberschreitungen geht, sondern darum, die Gattungsgrenzen wie in einem ›sfumato‹ vollständig zu verwischen – nicht jedoch, um sie auszulöschen, sondern um ihrer auf andere Weise bewusst zu werden.
Gerade an diesem Punkt, also der experimentellen Ausreizung, ist aber auch das Gegenteil zu beobachten, der demonstrative Wille, den Gattungsgedanken normativ zu definieren. Wenn Cortesi 1510 Josquin als Messenkomponisten rühmte, gab es dafür bereits eine bemerkenswerte Grundlage. Denn der venezianische Drucker Ottaviano Petrucci hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Bücher mit Messen nur von Josquin herausgebracht, die 1502 und 1505 erschienen waren, gezählt wurden – und offenbar kommerziell so erfolgreich blieben, dass es zu Nachdrucken und 1514 sogar zur Herausgabe eines dritten Buches kam. Die Zahl der publizierten Messen war damit keineswegs besonders groß, die handschriftliche Überlieferung bei anderen Komponisten wie Pierre de La Rue oder Isaac blieb deutlich gewichtiger. Aber sie war, geschuldet der publizistischen Offensive, offenbar gesteigert wirksam (womit es primär nicht um Verbreitung, sondern um autoritative Normsetzungen geht).
Die genauen Hintergründe der Publikationen von Petrucci werden wohl unklar bleiben müssen. Aber sie sind sinnvollerweise nur anzunehmen unter der direkten Beteiligung des Komponisten, der die Inhalte des Unternehmens gesteuert und aller Wahrscheinlichkeit von seiner Verwirklichung auch kommerziell profitiert haben dürfte. Durch die Verbreitung der Drucke war nicht nur eine unmittelbare Rezeptionssteuerung möglich, sondern die vorsätzliche Trennung vom Autor. Das aus anderen Zusammenhängen bekannte Spannungsgeflecht von Normierung, Systematisierung und Subjektivierung, die den frühen Druck auszeichnen, war damit auch in der Musik spürbar.31Denn Josquin konnte die Distribution seiner Messbücher nicht planen, aber er dürfte dies auch nicht gewollt haben. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass hier eine Art von kompositorischem Musterbuch einer Gattung beabsichtigt war, im Spannungsfeld von Normerzwingung, Subjektivität und rezeptiver Anonymität. Solche kanonisierenden Prozesse sind auch vor der Druckpraxis bekannt, so war Dufay in seinen späten Jahren um die Zusammenstellung seiner Werke bemüht. Doch durch den Druck richteten sie sich intentional auf eine ›anonyme‹ Öffentlichkeit, die nicht einmal notwendig an die Existenz eines professionellen Musikensembles, also einer Kapelle gebunden war.
Ob von vornherein eine Serie von Messbüchern geplant war, lässt sich nicht sicher sagen, erscheint aber keineswegs unwahrscheinlich. Das riesenhafte Projekt vereint eine denkbar große Vielfalt von Möglichkeiten, dies aber offenkundig in normierender Absicht. Nach einem Jahrhundert intensiver, in den Werken ausgetragener Gattungsüberlegungen wäre dies dann der Versuch eines Komponisten, so etwas wie die Deutungshoheit zu erringen. Das