MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez. Группа авторов
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Immer wieder ist in der Forschung auf die erstaunlich gezielte Anwerbung Josquins für den Hof in Ferrara hingewiesen worden.19 Dieser Vorgang ist zweifellos außergewöhnlich, weil er einen wenigstens reduzierten Einblick in musikmäzenatische Entscheidungen um 1500 gewährt – denn jede Entscheidung für eine Person war stets eine gegen eine oder mehrere andere. Greifbar werden in den Rekrutierungsbemühungen die hohen finanziellen Vorstellungen Josquins, also ein sich materialiter abbildendes Selbstbewusstsein, sowie die Eigenart, die teuer verkaufte Leistung keineswegs auch selbstverständlich zu erbringen. Im Rahmen der Werbungen wurde vom Agenten Gian de Artiganova zugleich festgestellt, dass Josquin ›besser‹ komponiere als Isaac – doch gibt es keinen ausdrücklichen Referenzrahmen, worauf sich diese Einschätzung bezieht.20 ›Besser‹ kann die »suavitas« des Gesangs meinen oder die »sublimitas«, Fragen von Angemessenheit und Vielfalt, wohl kaum allerdings die vordergründige Beherrschung des Tonsatzes. Immerhin bestand eine klare Vorstellung von dem, was besser oder schlechter sei, es gab also einen ästhetischen Vergleich und ein ästhetisches Urteil. Einen solchen Vergleich stellt auch der apostolische Sekretär Paolo Cortesi (1471–1510) 1510 an, der in seiner Schrift über den ›wahren‹ Kardinal auch eine Passage zur Musik eingefügt hat. Dort vergleicht er Josquin, Obrecht und Isaac, bevor er zu einigen anderen Zeitgenossen übergeht. Der Ruhm gebühre aber zweifellos »Iusquinum Gallum«, der »praestitisse«, also vor allen ausgezeichnet sei. Der Grund dafür sei ›doctrina‹, was vielleicht am ehesten als ›vorbildliche Übereinstimmung von Norm und Form‹ verstanden werden könnte.21
Aus diesen wenigen Hinweisen werden wenigstens Indizien erkennbar, welche Parameter für eine vage Rekonstruktion der Wirklichkeit Josquins in Anschlag zu bringen sein könnten. Im Folgenden soll daher versucht werden, dies an drei, zweifellos kursorisch und schlagwortartig diskutierten, Beispielen zu tun. Es soll dabei bewusst versucht werden, denkbare historische Wahrnehmungsmuster in den Vordergrund zu rücken. Um wenigstens eine gewisse Systematik walten zu lassen, repräsentieren die folgenden Beispiele drei unterschiedliche Ebenen: die der Gattung, des einzelnen Werkes und der Überlieferung.
IV
Josquin hat alle drei der von Johannes Tinctoris für die Polyphonie sanktionierten Gattungen komponiert, Messe, Motette und Chanson. Die weltlichen Lieder scheinen aber, zumindest wenn man der Dichte der Überlieferung (und Zahl der Werke) folgt, bei ihm eine geringere Rolle gespielt zu haben.22 In einer offenkundig späten Gruppe von Stücken (unter denen es überdies nur eine kleine Zahl von fragwürdigen Zuschreibungen gibt) ist der Komponist zur Fünf- oder sogar Sechsstimmigkeit übergegangen, zumindest für die Zeit um 1500 alles andere als eine Norm. Unter dem knappen Dutzend der erhaltenen (und in der Authentizität nicht angezweifelten) fünfstimmigen Lieder weisen fast alle Kanontechniken auf, einige sogar in strikter Form. Das steht dem Habitus einer ›Poetisierung‹ vordergründig entgegen, erst recht den Tendenzen zu einer an die Metrik angelehnten ›Textdarstellung‹, die das Lied nach 1500 bestimmen sollte.
Die kanonischen Techniken, die an den Motettensatz erinnern (aber eben auch nur erinnern), verleihen gerade diesen Stücken etwas ungemein Kompaktes. Der charakteristische Wechsel von Gegensätzen (etwa Zwei- gegen Vollstimmigkeit) verschwimmt dabei. Es verschwimmen aber zugleich auch die Textgrenzen, da der dichte Satz zumindest eine vordergründige ›Darstellung‹ des Textes nicht nur nicht erlaubt, sondern geradezu ausschließt. Damit verschwimmen aber zusätzlich die Satznormen selbst. Ein Werk wie Plusieurs regretz, ein ernstes Trauerstück, hebt an mit einem doppelten (und gewissermaßen gegenläufigen) Kanon von Superius und Tenor gegen Altus und Bassus. Dazwischen schiebt sich eine fünfte Stimme eine ›quinta pars‹. Dies prägt den ersten musikalischen Teil, der dann mit dem nächsten Textvers wiederholt wird. Diese Doppelstruktur bleibt in den folgenden Teilen erhalten, allerdings wird, wegen der nur fünf Textverse, im sechsten Teil neben der Musik auch der Text wiederholt. Der strenge Kontrapunkt weicht jedoch einem ›ungefähren‹ in den Teilen drei und vier (nun zwischen Superius und ›quinta pars‹), findet aber dann wieder zu einem strengeren zurück (zwischen ›quinta pars‹ und Tenor).23 Die satztechnische Pointe dieses Verfahrens liegt dann zugleich darin, dass eine tatsächlich polyphone Fünfstimmigkeit nur in wenigen Momenten des Werkes überhaupt erreicht wird – ohne dass allerdings das Pausieren einer Stimme struktur- oder formbildende Folgen hätte.
Es geht in einer solchen Konstruktion des ›Verschwimmens‹ anscheinend nicht um ein analoges, sondern bewusst distantes Verhältnis zum Text, dessen formale Zäsuren (also v. a. die Verse) lediglich das Raster bilden für einen kompositorischen Verlauf, der gerade nicht auf Entsprechung zielt. Der Ernst des Textes gibt dabei zwar die Tonlage vor, der ›Inhalt‹ des Stückes definiert sich jedoch auf eine andere Weise. Im Text werden die allgemeinen Schmerzen in der Welt in ein komparatives Verhältnis gesetzt zur Einzigartigkeit der subjektiven Erfahrung, die, da eben unvergleichlich, zu einer finalen Orientierungslosigkeit führt. In der Musik Josquins findet dies eine Entsprechung, das satztechnische Schwanken steht in einem eigenwilligen Spannungsverhältnis zur vordergründig festen kanonischen Struktur.
Der hier erkennbare Wille, satztechnische (also v. a. kanonische) Gegebenheiten auf komplexe Weise zum Spiegel einer poetischen Kernaussage zu machen, prägt die Gruppe der fünfstimmigen Chansons des Komponisten insgesamt (und in vergleichbarer Weise auch die der sechsstimmigen). Die äußere Faktur ist dabei immer ähnlich und vergleichbar, Differenz und Varianz ergeben sich allerdings im Begründungszusammenhang selbst: Er ändert sich von Werk zu Werk. Man könnte banal sagen: Ein äußerlich vergleichbares Resultat wird im Inneren jeweils ganz anders legitimiert. Hier vollzieht sich demnach, in der oberflächlich so deutlich auf den Text verpflichteten Gattung des weltlichen Liedes, ein Abschied von den Kategorien vordergründiger Nachahmung. Klaus Krüger hat für die Zeit um 1500 einen Wandel festgestellt, in dem die vorhandene Dignität eines Gegenstandes zu einer unmittelbaren »ästhetischen Geltungskategorie« werde, in der das Sinnliche also nicht mehr akzidentell sei, sondern zum substanziellen Kern werde.24 Dieses Vordringen zum substanziellen Kern der Musik prägt die Gruppe der groß besetzten Josquin-Chansons. Die konstruktive Dichte des immer wieder neu begründeten Verfahrens steht aber gerade nicht im Gegensatz zur ›Süße‹ des Gesangs, sondern macht diese auf eine neue und ganz unerhörte Weise erfahrbar, im Sinne eines ästhetischen Eigenwertes. So wie Josquin in seiner Totenklage auf Ockeghem (einem ebenfalls fünfstimmigen Stück) die Fähigkeit der Musik zur ›memoria‹ thematisiert hat, so ist es hier deren Fähigkeit zu einer neuartigen, zu einer unmittelbaren ästhetischen Evidenz. Diese geht nicht einher mit einem Verlust von Kunstfertigkeit, sondern mit deren unerhörter Steigerung.
V
Eine zentrale Frage für das 15. Jahrhundert war das Verhältnis zur Antike, die sich auf die verschiedenste Weise und in einer denkbar großen Vielfalt beantworten ließ – nur nicht in der Musik, da es keine Musik aus dem Altertum gab, auf die man sich dabei produktiv hätte beziehen können. Offenbar entstand aber der Gedanke, eine Klärung wenigstens auf indirektem Wege herbeiführen zu können, durch die Vertonung von antiken Texten. Während der Rückgriff auf solche Texte im 15. Jahrhundert praktisch keine Rolle spielte, mehren sich um 1500 die Anzeichen zu einer verstärkten musikalischen Auseinandersetzung – wenn auch in offenbar gezielt herbeigeführten Einzelfällen. So vertonte Heinrich Isaac 1492 im Andenken an seinen Gönner Lorenzo de’ Medici einen Seneca-Text (Quis dabit pacem populo timenti). Oder es gibt die Versuche, in der Odenkomposition, wesentlich ausgehend von der Sammlung des Petrus Tritonis (1507), den weitgehend homophonen Satz auf die antiken Versmaße zurückzuführen.
Aus derselben Zeit stammt aber auch eine Gruppe von acht Werken, in denen ein ganz anderer Weg gesucht wird. Die Zusammengehörigkeit