MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez. Группа авторов
Zeit«.6 Die Verknüpfung seines Namens mit dem Kontrapunkt war jedoch keineswegs eine Erfindung des historistischen Zeitalters. Gute 100 Jahre früher zeigt sich dieselbe Verbindung auch bei Johann Mattheson, für den Josquin aber nicht der Erfinder des Kontrapunkts war, sondern derjenige, der ihn auf schreckliche Abwege gebracht habe. In seiner Critica Musica von 1722 hielt er fest, dass Obrecht, Ockeghem und insbesondere »Josquinus die harmonis.[che] Künsteley per Fugas ad Canones (i. e. extrema) getrieben/ und die sonst/ lange Zeit zuvor/ in den Moteten frey einhergegangene Fugen mit Ketten und Banden/ in seinen Missen/ beleget hat«.7 Immerhin teilte Mattheson dabei mit, dass er zum Beweis seiner Behauptung reichlich Material gesammelt habe, dies aber jetzt nicht weiter ausführen könne. Ob und welcher Art diese Belege waren, lässt sich daher höchstens vermuten.
II
Josquin ist wohl der erste Komponist der Musikgeschichte, der seit seinen Lebzeiten über eine durchgängige, ununterbrochene Rezeptionsgeschichte verfügt. Das betrifft nicht allein die komplexe und vielschichtige Wahrnehmung im 16. Jahrhundert,8 sondern reicht weit darüber hinaus. Auch im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts war der Musiker auf eine ganz erstaunliche Weise präsent.9 Es scheint jedoch so, dass sich im Laufe des 17. Jahrhunderts diese Wahrnehmung auf wenige Stereotypen beschränkt hat, für die Glareans Dodekachordon ebenso einen Bezugspunkt bildete wie, wenigstens im reformatorischen Kontext, Luthers Josquin-Apologie. Als Wolfgang Caspar Printz den Komponisten, der sich »unsterblichen Ruhm/ durch seine Musicalische Wissenschafft/ und fürtrefliche Composition erworben« habe, noch 1690 rühmte, berief er sich ausdrücklich auf Luther, zweifellos dürfte eine Quelle aber zugleich Glarean gewesen sein.10 Ob er dabei wenigstens die bei Glarean abgedruckten Beispiele tatsächlich noch kannte, ist aber eher unwahrscheinlich.
Irgendwann scheint also das topische Lob für Josquin nicht mehr mit einer genaueren Kenntnis von wenigstens einigen seiner Werke verbunden gewesen zu sein, ein Sachverhalt, der sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich wieder verändert hat – und dann zum neuen Stereotyp des ›Contrapunktisten‹ führte. Eine gewisse Scharnierstelle in diesem Prozess bildete wohl das Werk des Historiografen und Agenten der katholischen Reform Petrus Opmeer (1526–1594). Sein Projekt einer Weltgeschichte, das unvollendet blieb und vom katholischen Theologen Laurentius Beyerlinck (1578–1627) fertiggestellt wurde, erschien erst 1611 und gehört v. a. deswegen zur ›kanonischen‹ Josquin-Literatur, weil der Komponist dort, als einziger der erwähnten Musiker, einen eigenen Eintrag erhielt. Dieser wurde zudem mit einem Porträt versehen, das, obwohl eindeutig apokryph, zumindest in der Neuzeit eine bemerkenswerte Verbreitung gefunden hat, eben weil es das einzige Bildnis ist, das sich überhaupt explizit mit Josquin in Zusammenhang bringen lässt.11 Weitaus interessanter ist jedoch der universalhistorische Kontext, in den der Komponist bei Opmeer gestellt wird. In einem kurzen Musikkapitel erläutert der Verfasser nämlich, dass Hermannus Contractus für den einstimmigen Choral (»inter Phonascos«) dasselbe sei wie Josquin für die mehrstimmige Musik (»inter Symphonetas«).12 Es heißt bei Opmeer, dass sein eigenes Jahrhundert (»nostrum seculum«) zwar herausragende »Symphonetas« aufweise (genannt werden u. a. Lasso,13 Clemens non Papa, Morales oder Obrecht), doch sei Josquin eben der Begründer der Mehrstimmigkeit und damit zweifellos der Wichtigste, er sei daher der »Archisymphoneta«.14 Bei Opmeer stehen sich demnach Ein- und Mehrstimmigkeit gegenüber, beide verfügen über zentrale, geradezu mythische Gründerfiguren, weswegen Hermannus Contractus und Josquin auch die einzigen sind, die in seinem Buch mit dem Ehrentitel des »Musicus praestantissimus« (des unübertrefflichen Musikgelehrten) bedacht wurden.
Bei einer solchen Konstruktion bedurfte es einer genauen Vorstellung der damit verbundenen Musik gar nicht mehr. ›Der‹ Choral und ›die‹ Mehrstimmigkeit ließen sich auf archetypische Gestalten zurückführen, auf ›Erfinder‹. Josquin war damit zu einer bloßen Chiffre geworden – für die mehrstimmige Musik an sich. In Opmeers Verkürzung löst sich damit eine ganz erstaunliche Gemengelage von Wahrnehmungsmustern des 16. Jahrhunderts, einsetzend mit Josquins Tod, gleichsam auf. Michael Meyer hat diese Wahrnehmungsmuster mit den Schlagworten von Kanonisierung, Heroisierung, Rhetorisierung und Historisierung zu systematisieren versucht.15 In der Figur des »Archisymphoneta« waren diese Muster ebenso synthetisiert wie aufgehoben.
Da die von Meyer beschriebenen Prozesse allenfalls in Josquins letzten Lebensjahren, massiv aber erst nach seinem Tod einsetzten, stellt sich die Frage, ob sich unter diesem Geflecht unterschiedlichster Wirklichkeiten auch eine historische Schicht verbirgt, die man, in notdürftiger Terminologie, als die Wirklichkeit Josquins bezeichnen könnte. Es geht, banal nur auf der Oberfläche, um die Frage, ob und wie man eigentlich zur Wahrnehmung des Komponisten ›davor‹ zurückgelangen könnte. Es scheint schon auf den ersten Blick so, dass die Wirklichkeit Josquins vergleichsweise weit entfernt von den nachträglichen Inanspruchnahmen war, auch von den zahlreichen philologischen Problemen, die sich damit verbinden und welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Komponisten bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts prägen. So sehr also die Frage nach dem ›authentischen‹ Josquin in den Vordergrund rückte, so unnahbar wurde die Figur selbst.
III
Josquin war zu Lebzeiten, und dies schon als junger Mann, ein ungewöhnlich berühmter Komponist. So unzweifelhaft dieser Ruhm bereits um 1500 war, so fraglich ist doch, was man mit ihm verband. Dabei scheinen sich jedoch ganz andere, vielleicht sogar überraschende Parameter der Wahrnehmung abzuzeichnen, Parameter, die zu der späteren Hervorhebung des Kontrapunkts in einem scharfen Kontrast stehen. Der Dichter Gerhard Geldenhauer (1482–1542) schrieb auf den Tod des Komponisten eine Klage, die von Benedictus Appenzeller und Nicolas Gombert vertont wurde, wohl doch in einigem Abstand zum Ereignis selbst. Das Gedicht seinerseits hat zwar eine komplizierte Überlieferungsgeschichte, verbunden mit einer kleinen Unsicherheit bei der Autorschaftsfrage, doch wird Josquin dort als »musarum decus«, als Zierde der Musen bezeichnet, der Apollo jedoch nicht etwa durch Kontrapunkt beeindruckt habe, sondern durch das Singen eines süßen Liedes.16 Diese Betonung des ›Süßen‹, der ›dulcedo‹ lässt sich als »Eindringen und Besetzen des Innersten unseres Selbst« bezeichnen, als »Invasionsakt durch die ästhetische Form […] und den intelligiblen Gehalt«,17 mithin also als einen genuin neuzeitlichen Vorgang, der von der Idee einer Gründungsurkunde ebenso weit entfernt ist wie von der Vorstellung konstruktiver Artistik.
Will man solche Spuren weiterverfolgen, stößt man auf die zahlreichen Probleme, die sich im Blick auf Josquins Vita ergeben – schon wegen der Häufigkeit des Namens. Die Zeit in Italien (von 1484 bis 1504) ist vergleichsweise gut dokumentiert, die langen, gut situierten Jahre in Condé sind in vielem ungewiss und rätselhaft, auch im Blick auf musikalische Tätigkeiten und musikalische Produktivität. Die Fragen um den frühen Werdegang sind nach wie vor von zahlreichen Unsicherheiten überschattet. Dessen ungeachtet existieren hinsichtlich der Wahrnehmung und Wirklichkeit Josquins dennoch bemerkenswerte Zeugnisse. Der Dichter Serafino de’ Ciminelli dell’Aquila (1466–1500) befand sich ab 1484, gemeinsam mit Josquin, im Dienst des Kardinals Ascanio Sforza in Rom. Er begleitete sich selbst beim Gesang von Petrarca-Gedichten auf der Laute und schrieb zu Ehren des Musikers ein Sonett, in dem sein »sublime ingenio« gepriesen wird, auch seine Tugend (»virtù«). Die wechselseitige Bedingung von tugendhafter »humilitas« und Größe, »sublimitas«, zeichnen nach Marsilio Ficino die Größe