MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez. Группа авторов
gemeint war, also tatsächlich im Sinne ›stilistischer‹ Musterbücher (als die sie dann verstanden wurden), oder projektiv stimulierend, also als Anregung, lässt sich kaum entscheiden. Die divergierende Fülle der Möglichkeiten verweist eher auf die zweite Variante. Entscheidend ist allerdings der Umstand, dass Josquin Gattungsnormen im Gattungszusammenhang ausloten wollte, in einem Kontext, der sich aristotelisch bestimmen lässt. Das immerhin würde dem Publikationsort Venedig, wo die Aristoteles-Rezeption auch um 1500 eine bestimmende Rolle spielte, zusätzliches Gewicht verleihen. Ob Josquin mit der venezianischen Gattungsdiskussion um 1500 vertraut war, lässt sich nicht einmal vermuten. Doch immerhin verraten die Messenbücher seinen Willen, die liturgische Gattung jenseits ihres liturgischen Kontextes kompositorisch auszuloten und beispielhaft vorzuführen – als Vergleich verschiedener Lösungen eines einzigen Urhebers, im Sinne von Quintilians ›antinomia‹, in der einzelne Entscheidungen zwar für sich gültig, in ihrer Gesamtheit aber widersprüchlich sein können. In seinen Messbüchern hat Josquin ein solches Verfahren erstmals demonstrativ nach außen getragen, willentlich über einen längeren Zeitraum. Das komparative Argument, das Gian di Artiganova in Ferrara geltend gemacht hat, war damit in ein einziges Œuvre – und am Ende sogar nur ein Segment darin – übertragen worden.
VII
Solche Spuren können, so scheint es, durchaus zu einer denkbaren Wirklichkeit Josquins führen, die von jenen Wirklichkeiten, die nach seinem Tod entstanden sind, tendenziell weit entfernt sind. Akzeptiert man dies, dann würde allerdings das Reflexionsniveau, mit dem der Komponist auf die Umbrüche der Zeit um 1500 produktiv reagiert, zum entscheidenden Merkmal seiner kompositorischen Tätigkeit. Das schließt den ästhetischen Eigenwert, die ›Süße‹, nicht aus, sondern dient im Gegenteil dazu, diese sogar ausdrücklich hervorzuheben. In dieser Eigenart, also der Selbstverständigung über und durch Musik, steht er in einer Reihe, die im 15. Jahrhundert vielleicht mit Ciconia begann und dann, im Werk von Dufay und Ockeghem, erstmals systematische Züge erkennen lässt. Nur anders als zuvor gab es für Josquin eine Geschichte, auf die er sich bereits ausdrücklich beziehen konnte, und eine solche, in die er, wie in Macchiavellis »occasione«, eingreifen wollte.32 Die wenigen Zeugnisse legen immerhin den Verdacht nahe, dass er dabei, wie Macchiavellis Principe, entschiedenen Vorsatz, erhebliches Selbstbewusstsein und umsichtige Nachdenklichkeit habe walten lassen.
Die Frage, ob und in welcher Weise es von solchen Mustern Wege in die spätere Josquin-Rezeption geben könnte, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Immerhin scheinen frühe Josquin-Verehrer wie Glarean oder Luther durchaus noch sensibel für derartige Problemlagen gewesen zu sein. Irgendwann ist dann aber daraus die Bewunderung (oder, wie bei Mattheson, Verachtung) für das bloße Handwerk des »Contrapunktisten« geworden. Anlässlich des 500. Todestages des Komponisten sollte hier lediglich versucht werden, die manifeste historische Distanz wenigstens für einen Moment zu überbrücken – um ermessen zu können, was die Zeitgenossen möglicherweise an seiner Musik beeindruckt hat oder haben könnte. Das muss sich nicht mit späteren Wahrnehmungen decken, denn die Wirklichkeiten Josquins sind nach 1521 unübersichtlich vielfältig und damit inhomogen geworden. Die mit diesem Prozess verbundene Dynamik lässt sich allerdings in einem emphatischen Sinne als neuzeitlich beschreiben. Ob Josquin sich dessen bewusst war, lässt sich nicht beurteilen. Es ist aber nicht unmöglich, dass es so war. Das umfangreiche Musikkapitel, das der Benediktiner Teofilo Folengo (1491–1517) 1521 der wesentlich erweiterten Fassung seines pikarischen Romans Baldus einfügte, mündet in eine umfangreiche Apologie Josquins, möglicherweise bereits unter dem Eindruck seines Todes. Folengo, zu dieser Zeit in Brescia, nennt zwar eine Reihe von Komponisten, aber erst durch Josquin habe sich der Himmel geöffnet, deswegen sei er der Vater der Musik. Und zum Beleg führt er gleich eine ganze Reihe von konkreten Kompositionen an, auch und gerade aus den Messenbüchern.33 Sein Urteil war folglich noch an eine sehr detaillierte und daher beispielhaft belegte Wahrnehmung geknüpft.
1 Stéphen de la Madeleine, »La vieillesse de Guillaume Dufay«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 3 (1836), S. 453–460. — 2 Anon. (Der Erzählende), »Das Alter Guillaume Dufay’s. Zerdolmetscht von dem Erzählenden«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 39 (1837) (01.02.), Sp. 73–75, hier Sp. 74. — 3 Franz Xaver Haberl, »Wilhelm du Fay. Monographische Studie über dessen Leben und Werke«, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 307–530, hier S. 429. — 4 François-Joseph Fétis, »Notice historique sur la vie et les ouvrages de Josquin Des Pres«, in: Revue Musicale 8 (1834), S. 241–243, 260–262 und 265–267. — 5 Stéphen de la Madeleine, »Les Psaumes de Josquin«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 4 (1837), S. 109–113 und S. 129–134; dazu auch James Haar, »The ›Conte Musical‹ and Early Music«, in: Philippe Vendrix (Hrsg.), La Renaissance et sa musique au XIXe siècle, O. O. [Paris] 2004 (= Éptiome Musical), S. 185–202, hier S. 198 f.; zudem John Neubauer, The Persistance of Voice. Instrumental Music and Romantic Orality, Leiden – Boston 2017 (= National Cultivation of Culture 14), S. 102 f. — 6 Art. »Josquin Desprez«, in: Hermann Mendel/August Reissmann, Musikalisches Conversations-Lexikon 5, 1880, S. 478 f., hier S. 478. — 7 Johann Mattheson, Critica Musica […]. Pars IV. Neuntes Stück, Hamburg: Auct. 1722, S. 350. — 8 Dazu v. a. Michael Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte. Josquin im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Turnhout 2016 (= Épitome Musical). — 9 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung bei Carlo Fiore, »Josquin before 1919. Sources for a Reception History«, in: Albert Clement/Eric Jas (Hrsg.), Josquin and the Sublime. Proceedings of the International Josquin Symposium at Roosevelt Academy, Middleburg, 12–15 July 2009, Turnhout 2011 (= Épitome Musical), S. 215–240, hier S. 226 ff. — 10 Wolfgang Caspar Printz, Historische Beschreibung der Edelen Sing= und Kling=Kunst/ in welcher Deroselben Ursprung und Erfindung/ Fortgang/ Verbesserung/ unterschiedlicher Gebrauch/ wunderbare Würckungen/ mancherley Finde/ und zugleich berühmteste Ausüber von Anfang der Welt biß auff unsere Zeit in möglichster Kürze erzehlet und vorgestellet werden […], Dresden: Mieths 1690, S. 115. — 11 Zum Bild David Fallows, Josquin, Turnhout 2009 (= Épitome Musicale), S. 247. — 12 Petrus Opmeer, Opus Chronographicum Orbis Universi […], Antwerpen: Verdussius 1611, S. 163 (»Quem secutus Hermannus Contractus, eam gloriam inter Phonasos promeruit, eam gloriam inter Symphonetas Iodocus Pratensis«). — 13 Zu Lasso wird ausdrücklich vermerkt, dass er nach Josquin an zweiter Stelle stehe: »successisset secundum locum à Iodoco Pratensis inter Symphonetas« (Opmeer, Opus Chronographicum [Anm. 12], S. 516). — 14 Opmeer, Opus Chronographicum (Anm. 12), S. 163 und 440. — 15 Dazu Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte (Anm. 8), S. 16 ff. — 16 Gerardus Avidius, »Musae Iovis«, in: Franciscus Swertius, Athenae Belgicae sive nomenclator infer. Germaniae scriptorum […], Antwerpen: Tungris 1628, S. 496; die Süßigkeit der Musik wird im Gedicht gleich zweimal erwähnt (»dulcibus sonis«, »et dulce carmen concinit«). —