Das Gift an Amors Pfeil. Marnia Robinson

Das Gift an Amors Pfeil - Marnia Robinson


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Mann und Frau vereinigen sich in der heiligen Hochzeit, und die, die diese heilige Umarmung kennen, werden niemals getrennt werden. Eva trennte sich von Adam, weil sie sich nicht mit ihm im Brautgemach vereinigte.54

      [Wir] werden von Christus immer zu zweit wiedergeboren. In seinem Atem erfahren wir eine neue Umarmung; wir befinden uns nicht länger in der Dualität, sondern in der Einheit.55 Was ist die heilige Hochzeit, wenn nicht der Ort des Vertrauens und des Bewusstseins in der Umarmung? Es ist eine Ikone der Einheit, jenseits aller Formen des Besitzes; hier wird der Schleier von oben bis unten zerrissen; hier erstehen einige auf und erwachen.56

      Sie sind über Anziehung und Abstoßung hinausgewachsen.“ 57

      Eine weitere Nag-Hammadi-Schrift, die Erzählung über die Seele, ist eine Allegorie über die Rückkehr der Seele zum Vater, doch könnte sie nicht auch Hinweise auf die Mysterien begierdefreier Einheit enthalten? Lesen Sie einmal diese Beschreibung des Sakramentes der heiligen Hochzeit:

      „Denn diese Hochzeit ist nicht wie die fleischliche Hochzeit, [wo] die, die sich miteinander vereinigen, von dieser Vereinigung befriedigt sind. Und als wäre es eine Last, lassen sie den Plagegeist der physischen Begierde hinter sich und wenden sich voneinander ab. Doch wenn sie sich einmal vereinigt haben, werden sie ein einziges Leben … Weswegen der Prophet sagt (Genesis 2:24), was den ersten Mann und die erste Frau angeht: „Sie werden zu einem einzigen Fleisch werden.“ Denn sie waren ursprünglich miteinander verbunden, als sie beim Vater waren … Diese Hochzeit hat sie wieder zueinander gebracht.“ 58

      Das letztendliche Ziel, wie verschiedene Nag-Hammadi-Texte klarstellen, ist die Erfahrung der Ganzheit, die die Gnosis (das Wissen) um unsere göttlichen androgynen Wurzeln wieder erweckt. In den Philippusevangelien steht, dass dies der Weg ist, auf dem Christus in der Menschheit wiedergeboren wird. Wie wir bereits gesehen haben, steht auch in den alten chinesischen taoistischen Texten, dass die Praxis von kontrollierter Vereinigung einem nichtphysischen „heiligen Fötus“ das Leben schenken könne.59 Ich nehme an, dass diese Vorstellung davon, dass der Christus von zwei Menschen erweckt wird, hinter solchen gnostischen Begriffen wie unvergänglicher Samen, göttliche Empfängnis, Wiedergeburt, unzerstörbarer Körper usw. steht. Könnte das vielleicht auch die ursprüngliche Bedeutung der unbefleckten Empfängnis gewesen sein?

      Obwohl die meisten fundamentalistischen und katholischen Christen es nur ungern zugeben, empfahl Jesus keine Fortpflanzung. Sein Ziel war es, der Menschheit zu helfen, spirituelle Transzendenz zu erlangen. Sein Mangel an Aufmerksamkeit für die Reproduktion wird selbst in den kanonischen Evangelien im Neuen Testament sichtbar. In den Thomasevangelien in den Nag-Hammadi-Schriften wird Jesus wesentlich ausdrücklicher:

      [Jesus] sagte zu [ihr]: „Glücklich sind jene, die das Wort des Vaters gehört und es wahrhaftig gehalten haben. Denn es wird der Tag kommen, da du sagen wirst: Glücklich sind der Leib, der nicht empfangen hat, und die Brüste, die keine Milch gegeben haben.“ 60

      Fortpflanzung hatten die frühen Christen definitiv nicht im Sinn, die die Bereitschaft mitbrachten, ihre Familien ganz zurückzulassen, um die gute Nachricht zu verbreiten.

      Es gehört zum Mainstream-Christentum zu glauben, dass Jesus zölibatär lebte. Doch das Sakrament der heiligen Hochzeit ist eindeutig kein Mysterium für einen Alleingang. In den Philippusevangelien liest man, dass Jesus eine Gefährtin in Maria Magdalena hatte, die er häufig auf den [Mund] zu küssen pflegte.61

      Die Gelehrten akzeptieren nur sehr langsam, dass diese ungewohnten Konzepte einstmals womöglich den Kern des Christentums gebildet haben. Der Religionswissenschaftler Dennis R. MacDonald jedoch bestätigt, dass es kurze Zeit nach Jesus, spätestens zu dem Zeitpunkt, als der Heilige Paulus seine Texte in Galatien verfasste, eine weitverbreitete mündliche Tradition gab – für die Beweise über Ägypten, Syrien und Griechenland ans Licht kamen – derzufolge Jesus gelehrt hatte, dass „wir das Königreich des Himmels erlangen, wenn Mann und Frau eins werden.“62 Übrigens hat Helmut Koester von der Harvard-Universität die Vermutung geäußert, dass einige Traditionen in den Thomasevangelien den Evangelien des Neuen Testaments möglicherweise vorausgehen.63 Elaine Pagels von Princeton ist davon überzeugt, dass die Johannesevangelien der Bibel geschrieben wurden, um dem weitverbreiteten Einfluss von Thomas entgegenzuwirken, der die Gläubigen ermutigt, Gott direkt zu suchen, anstatt nur an Jesus zu glauben.64

      Dem Gelehrten Michael A. Williams zufolge waren die frühen Gläubigen, die nach diesen Prinzipien lebten, offenbar hingebungsvolle Christen, die vielerorts für ihre Integrität bewundert wurden. Seiner Ansicht nach verbreiteten die Kirchenväter auf der Suche der Kirche nach Herrschaft ihre Standardpolemik und Skandale über sie. Als Folge davon wurden diese frühen Gläubigen von Religionswissenschaftlern später getrennt behandelt und zu einer Randgruppe gemacht, die man mit dem Etikett „Gnostiker“ versah. Williams stellt außerdem fest, dass es bis ins zweite Jahrhundert hinein eine christliche Bewegung im Rhônetal gab, die einen Ritus namens „heiliger Hochzeit“ praktizierte, von der er annimmt, dass sie wahrscheinlich eine Version der „unbefleckten Eheschließung“ ist, die im Philippusevangelium beschrieben wird und in der auf Lust verzichtet wird und die die Transformation des Paares zum Ziel hat.65

      In Just Love: A Framework for Christian Sexual Ethics66 erinnert uns die Gelehrte Margaret Farley daran, dass die ersten Christen Sex nicht notwendigerweise ablehnten, obwohl sie Sorge hatten, dass die Macht ungezügelten sexuellen Verlangens mit ihrer spirituellen Klarheit im Konflikt stünde und die spirituelle Liebe zwischen Mann und Frau gefährden würde. Der Gelehrte Peter Brown belegt, dass das Zölibat nicht die einzige Lösung war, die vorgeschlagen wurde. Die spirituelle Hochzeit (Syneisaktismus) war eine andere Lösung.67

      Es war in den ersten Jahrhunderten nach Christus wohl weitverbreitet, dass ein frommes Paar in wilder Ehe miteinander lebte und dabei streng enthaltsam blieb. Nach Angaben der Gelehrten Elizabeth A. Clark ist der Ursprung dieser Praxis unbekannt, doch könnte es nicht eine verwässerte Version des mysteriösen Sakramentes der heiligen Hochzeit sein, das in den Nag-Hammadi-Schriften beschrieben wird?

      Fast 400 Jahre nach Christus äußerte sich der Erzbischof Chrysostomos mit den folgenden Worten missbilligend über diese populäre Praxis, sich eine spirituelle Braut zu nehmen:

       „Die Vorstellung, dass dieses Vergnügen und diese Liebe stärker als die Freuden des Zusammenlebens in einer legalen Ehe sein können, erstaunt Sie möglicherweise, [doch im Fall einer spirituellen Braut] gibt es weder Geschlechtsverkehr, der den Wahnsinn der Natur zügeln und entspannen könnte, noch trocknet der Schmerz des Gebärens und die Aufzucht der Kinder das Fleisch der Frau aus; im Gegenteil, diese Jungfrauen bleiben lange in ihrer Blüte, da sie unberührt bleiben … Diese Frauen behalten ihre Schönheit bis zum Alter von vierzig Jahren … Und so werden die Männer, die mit ihnen zusammenleben, von einer doppelten Begierde gequält; sie dürfen ihre Leidenschaft nicht durch sexuellen Verkehr stillen, doch der Auslöser ihres Verlangens behält seine intensive Wirkung für eine lange Zeit.“ 68

      Wie der Theologe Charles Williams bemerkte, führte die strenge Unterdrückung dieses Phänomens durch die Kirche dazu, dass wir leider nichts über die Fälle wissen, in denen die Macht eines keuschen Zusammenlebens es schaffte, die Nachteile der Leidenschaftlichkeit zu überwinden. In der Synode von Elvira (305) und dem Konzil von Nicäa (325) wurde es aus Angst vor einem Skandal völlig verboten.

       „Das große Experiment musste aufgegeben werden. … Es war einer der frühesten Triumphe der „schwächeren Brüder“, dieser unschuldigen Schafe, die durch das bloße Ausmaß ihrer Dummheit über so viele zarte und attraktive Blumen des Christentums getrampelt sind. … Die Kirche gab diese Methode zugunsten der Eheschließung auf, die [Paul] missbilligt hatte, und verlor schließlich jede wirklich aktive Tradition der Ehe selbst als Weg der Seele. Diese gilt es wiederzuentdecken.“ 69

      Heute sehen wir diese frühen Christen mit ihren hohen Idealen in Bezug auf intime Beziehungen und ihre heiligen Texte, die auf eine ungewöhnliche Form der Enthaltsamkeit hinweisen, durch eine zweitausend Jahre alte Brille, die unsere Kirchenväter


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