Das Gift an Amors Pfeil. Marnia Robinson
ein Jobangebot in einem anderen Bundesland annahm.
Ein paar Monate später hatte sich definitiv etwas verändert. Männer, die sie früher als begriffsstutzige Hemmschuhe betrachtet hatte, stolperten förmlich übereinander in dem Wunsch, ihr Türen aufzuhalten, sie anzulächeln, ihr Hilfe, Möbel und Informationen anzubieten. „Und wenn ich einen Rock trage, sagen sie ‚Guten Morgen‘ zu meinen Beinen,“ lachte sie. „Natürlich, ich mag ja selber Frauenbeine.“
Als ich sie das nächste Mal sah, strahlte sie förmlich. Alle Spuren ihrer Abwehrhaltung waren verschwunden. Sie hatte zwar immer noch ein starkes Bedürfnis, in Lesbenbars rumzuhängen und sich auf lesbischen Websites zu tummeln, doch zu meiner Überraschung gab sie ihre sexuelle Orientierung an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht bekannt, sondern verhielt sich neutral. Da sie dort quasi keine weiblichen Kolleginnen und kaum Freizeit hatte, fühlte sie sich im Laufe der Zeit zu einigen ihrer männlichen Kollegen hingezogen und fing an, sich mit ihnen zu verabreden. Mit einem von ihnen lebt sie nun seit neun Jahren zusammen.
Heute ist sie Managerin und leitende Ingenieurin in einer ansonsten rein männlichen Ingenieursfirma, in der ein hoher Leistungsdruck herrscht, und ist die Vorgesetzte von zahlreichen dieser Männer. Diese bewundern sie und lassen alles stehen und liegen, wenn sie bei einem Projekt kurzfristig Hilfe benötigt. „Die Leute sagen so tolle Sachen über mich, dass es mir schon peinlich ist,“ vertraute sie mir unlängst an.
Ich hatte gelernt, dass Vergebung, genauso wie ein Orgasmus, die Macht hat, unsere Wahrnehmung zu verändern. Oder, um es anders auszudrücken, Groll ist ein erstaunlich effektives Hindernis zwischen den Geschlechtern – doch wir haben die Wahl.
Sich paaren oder sich verbinden
Als Heterosexuelle fand ich den fließenden Wechsel bei meinen homosexuellen Freunden zunächst verwirrend. Ich hatte fälschlicherweise den Eindruck, dass Homosexualität das Gleiche ist wie Heterosexualität, nur eben mit umgekehrtem Magnetismus. Heutzutage bewegt sich jedoch scheinbar jeder im gleichen Spektrum, und das mit ausgesprochen fließenden Übergängen. In dem Institut, wo ich meinen Mann kennenlernte, bezeichneten sich alle Frauen einer gerade neu zusammengekommenen Gruppe auf die öffentlich gestellte Frage eines jungen Mannes, der offenbar auf der Suche nach einer Liebsten war und mit eventuellen Vorannahmen niemandem zu nahe treten wollte, als „bisexuell“ oder „pansexuell“. Ich weiß nicht, ob er daraus schloss, dass das Glas halb voll oder halb leer war.
Erst kürzlich habe ich herausgefunden, dass die Psychologin Lisa Diamond, Autorin des Buches Sexual Fluidity,79 bestätigt, dass fließende sexuelle Grenzen (insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, bei Frauen) die Norm sind. Sie verfolgte das Leben von achtzig nicht-heterosexuellen Frauen über zehn Jahre und entdeckte etwas ganz Unerwartetes. Einige der Frauen berichteten, dass sie sich in einzelne Männer verliebt hatten, für die sie auch sexuelles Begehren empfanden. Zuerst nahm Diamond an, dass sie sich in ihren Gefühlen vielleicht getäuscht hätten oder sich unklar über ihre sexuelle Orientierung waren. Doch sie hörte sich weiterhin Lebensgeschichten an und forschte.
Alle zwei Jahre wechselten ungefähr ein Drittel der Frauen die Kategorie von solchen Bezeichnungen wie „lesbisch“, „bisexuell“, „heterosexuell“ oder „unbestimmt“. Eine fließende sexuelle Orientierung war scheinbar ganz typisch. Obwohl Lisa Diamond angibt, dass die sexuelle Orientierung von Frauen fließender vonstattengeht als die bei Männern, weist sie darauf hin, dass „jedes Individuum in der Lage sein sollte, sexuelle Begierden zu verspüren, die seiner oder ihrer generellen sexuellen Orientierung widersprechen.“*80
Schließlich entwickelte sie ein Modell, um die von ihr beobachteten Fakten zu beschreiben: Während es das Ziel sexuellen Begehrens ist, sexuelle Einheit für den Zweck der Fortpflanzung zu schaffen, wird romantische Liebe von dem System der Zugehörigkeit oder Paarbindung bestimmt, dessen Ziel es ist, ein dauerhaftes Band zwischen zwei Individuen aufrechtzuerhalten.81
Herzensliebe (Bindung) hat daher mehr mit Fürsorge und emotionaler Zugehörigkeit zu tun als der Wunsch, sich zu paaren. Bindung greift auf die gleiche Funktion im Gehirn zurück, wie die, die Kinder an ihre erwachsenen Bezugspersonen bindet. Diese lieben ihre Kinder gleichermaßen, ob Junge oder Mädchen, daher hat diese Art der Bindung weder etwas mit dem Geschlecht zu tun, noch ist sie unmittelbar an sexuelles Begehren geknüpft.
Im Gegensatz zur Herzensliebe haben erotische Gefühle (Paarung) sehr viel mit der Sucht nach Alkohol oder Drogen zu tun. Intensive neurochemische Nachrichten stellen sicher, dass wir bei unserem Partner „an der Angel hängen“, zumindest für eine Weile. (Mehr über die Wirkungsweisen dieses Prozesses folgt in den nächsten drei Kapiteln.)
Teambildung
An diesem Punkt auf meiner Reise nahm ich weitere Vorteile wahr, Liebe ohne Orgasmus zu machen. Bis ich anfing, damit zu experimentieren, musste ich fast jedes Mal, wenn ich mit einem Mann schlief, Antibiotika nehmen, nur um eine Infektion des Urinaltraktes zu vermeiden. Ich habe sie niemals wieder gebraucht. Auch meine Hefepilzinfektionen hörten einfach auf. (Eine Freundin von mir, die einen Genitalherpes hat und auch mit Karezza experimentiert hat, stellte übrigens fest, dass der Herpes nur ausbrach, wenn sie wieder in die Leidenschaft verfiel.)
Mittlerweile hatten meine Reisen mich bis nach Kalifornien gebracht, wo ich an einem Institut arbeitete, an dem chinesische Medizin und Massage unterrichtet wurden. Ich bat Will, den Anatomie- und Physiologielehrer, die Unterlagen zu lesen, die ich auf meiner Website veröffentlichen wollte. Ich dachte mir, Will könnte sich als guter Kritiker erweisen.
Wie sich herausstellte, hatte er eine Menge mehr zu bieten. Wir sind seit sechs Jahren verheiratet und seit acht Jahren zusammen. Er ist ein wunderbarer Mitforscher mit einem bemerkenswerten Willen, sich außerhalb gewöhnlicher Denkstrukturen zu bewegen. Wir fingen unsere Beziehung mit Karezza an (obwohl ich den Ausdruck damals noch nicht kannte) und vermieden Orgasmen so gut es ging.
Ich hatte auf dem harten Weg lernen müssen, dass es praktisch unmöglich ist, von konventionellem Verkehr über Nacht auf Karezza umzusteigen. Der Versuch, sich wie gewohnt zu lieben, doch auf den Orgasmus zu verzichten, „schneidet dem Sex die Eier ab,“ wie ein Freund von mir sagte. Um Karezza auszuprobieren, brauchen Paare ein klares Ziel und eine Übergangszeit mit viel liebevollem Kontakt.
Um diese Phase zu erleichtern, habe ich eine dreiwöchige Serie spielerischer Aktivitäten zusammengestellt, die ich die ekstatischen Austauschübungen genannt habe und die Sie am Ende des Buches finden. Das Ziel der Austauschübungen ist es, Paaren viele Möglichkeiten des liebevollen Umgangs miteinander zu offerieren, ohne unbewusst wieder in die gewohnten Routinen des Vorspiels zu verfallen oder einander allzu heiß zu machen. Die Austauschübungen fordern dazu auf, in den ersten zwei Wochen auf Verkehr völlig zu verzichten, so dass die Übenden zunächst den Kater ihres letzten Orgasmus überwinden können. Sie tragen daher zunächst auch Kleidung in der Nacht. In der dritten Woche ist dann langsamer, entspannter Verkehr in jeder dritten Nacht an der Reihe.
Hier ist Wills Bericht über seine frühen Erfahrungen, die er nach ungefähr zehn Monaten aufschrieb:
„Als ich zustimmte, die Austauschübungen zu machen, hatte ich noch Vorbehalte. Zum einen hatte ich nie die ganze Nacht ruhig schlafen können, auch nicht mit meiner Ex. Zum Zweiten war ich nicht begeistert davon, Liebe nach Rezept zu machen, das mir vorschreibt, wann ich Geschlechtsverkehr haben darf und wann nicht. Zum Dritten kannte ich Marnia in dieser Hinsicht gar nicht, und es fühlte sich komisch an, mit einem Programm anzufangen, wo Geschlechtsverkehr erst in drei Wochen auf der Tagesordnung stand. Und zum Vierten masturbierte ich gern (ungefähr drei oder vier Mal die Woche), und ich wusste, dass ich auf Ejakulation während der Austauschphase verzichten musste.
Allerdings hatte ich ihre Unterlagen gelesen, und die beschrieben die Achterbahn meiner vorherigen Beziehungen ziemlich genau. Ich hatte endlich verstanden, warum ich mich immer zurückziehen musste, um Raum für mich zu haben, oder mich in sinnlosen Streitereien mit meinen Freundinnen verloren hatte. Ich