Frau Kaiser und der Dämon. Ulla Garden
Was dann passiert ist, weiß ich selber nicht so genau. Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich auf ihr, ähm, na ja, also, ich war in ihr und sie hat furchtbar geschrien und mich so entsetzt angeschaut.“
„Und dann?“ fragte die Ärztin behutsam nach.
„Dann hab ich mich sofort zurückgezogen. Danach habe ich meine Sportsachen angezogen und bin Laufen gegangen, um den Kopf freizukriegen. Leider habe ich Lenes Anruf nicht angenommen, als sie versucht hat, mich zu erreichen und dann hab ich das Handy einfach ausgemacht“, gab er kleinlaut zu.
„Sie können sich also nicht an die Vergewaltigung erinnern?“ fragte die Ärztin nochmal nach.
„Nein, absolut nicht, nie im Leben würde ich ihr etwas antun“, erwiderte er kopfschüttelnd.
„Hatten Sie schon öfters solche Aussetzer?“
„Früher, als Junge, ja. Da hab ich wohl andere Kinder fürchterlich vermöbelt, weil sie meinen Bruder gemobbt haben“, erzählte er. „Das ist, wie wenn jemand einen Schalter umlegt. Ich versteh das doch auch nicht.“ Johannes zog die Schultern hoch.
„Waren Sie deshalb schon mal in Behandlung?“
„Ja, meine Mutter hat mich damals, als sich die Beschwerden über mich häuften, zu einem Psychologen gebracht und ich habe eine Zeitlang Tabletten bekommen. Ich habe aber keine Ahnung, was das war.“
„Wurde es dann besser?“
„Hm, na ja, eine gewisse Zeit schon, bis das mit den Mädchen anfing.“
„Mit den Mädchen?“
„Na ja. Also, es ist so, meine Familie hat einen großen Gutshof und die Mädchen aus dem Dorf waren ständig hinter mir und meinem Bruder her. Max hat das gefallen und er hat alle genommen, die das wollten.“ Er stockte, denn er hatte noch nie darüber gesprochen, welche Probleme er als Jugendlicher und auch noch als Student gehabt hatte.
„Und Sie?“
„Hm, na ja, ich mochte das nicht. Ich fand diese Mädchen nur doof und lästig.“ Er holte tief Luft. „Ich mag Frauen, aber keine, die sich mir aufdrängen, verstehen Sie, was ich meine?“, ergänzte er.
Die Ärztin nickte und forderte ihn auf weiterzusprechen.
„Ja, also, ähm, es ist so, nein, es war so, dass ich mich lange nicht getraut habe, mit einem Mädchen zu schlafen. Und wenn eine dann einfach nicht lockergelassen hat, dann wurde ich wütend und hab sie wohl ziemlich grob genommen.“ Er verstummte, weil er nicht wusste, wie er dieser Frau sein Problem beschreiben sollte.
„Gut, ich denke, wir beenden unser Gespräch hier“, erlöste ihn die Ärztin. „Ich bin ja eigentlich nur für die Patienten in dieser Klinik zuständig und Sie scheinen ein tieferliegendes Problem zu haben. Ich würde Sie gerne an einen Kollegen überweisen, der Ihnen besser helfen kann als ich. Wenn es für Sie in Ordnung ist, informiere ich den Kollegen und vereinbare einen Termin für Sie“, schlug sie vor.
Johannes nickte, bedankte und verabschiedete sich.
Die Ärztin sah ihm besorgt nach.
Nachdenklich ging Johannes zur Intensivstation zurück. Was ist mit mir nicht in Ordnung?, überlegte er. Ich bin doch mittlerweile erwachsen. Ist es möglich, dass der Dämon, von dem ich mich früher so oft bedroht gefühlt habe, wieder zurückgekommen ist?
Immer noch in Gedanken versunken saß er am Bett und betrachtete seine Frau. „Liebste Lene, du bist das Beste, was mir je passieren konnte. Wie soll das mit uns weitergehen? Liebst du mich noch, nach dem, was ich dir angetan habe?“, sprach er leise mit ihr. Er begann wieder, ihren Bauch zu streicheln und spürte sofort die Bewegungen der Kinder. „Ich liebe euch und hoffe so sehr, dass wir eine glückliche Familie werden“, fuhr er fort und hoffte, dass seine Stimme Leni irgendwie erreichte.
Er blieb wieder die ganze Nacht bei ihr am Bett sitzen, bis seine Mutter morgens kam und ihn nach Hause schickte. Als er am späten Nachmittag wieder in die Klinik zurückkehrte, sagte ihm der Arzt, dass sie nochmals ein CT gemacht hätten und keine Blutungen mehr festgestellt werden konnten. Der Druck im Gehirn habe nachgelassen, so dass sie am nächsten Morgen anfangen wollten, die Sedierung runterzufahren, um Leni langsam aufwachen zu lassen. Johannes nickte erleichtert. Der Arzt machten ihn darauf aufmerksam, dass wahrscheinlich mit neurologischen Störungen, wie etwa Sprach- oder Gleichgewichtsstörungen, zu rechnen sei. Man werde aber sofort mit Rehabilitations-Maßnahmen beginnen, um die Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten.
Nachdem der Arzt aus dem Raum gegangen war, überlegte Johannes, was für Beeinträchtigungen er wohl gemeint hatte und wie sich das auf das Leben von Leni auswirken würde. Was heißt „so gering wie möglich“? Wird sie behindert sein?, fragte er sich. Wie sollte sein Leben weitergehen mit zwei Babys und einer behinderten Frau? Er seufzte verzweifelt und schüttelte den Kopf. „Oh Lene, Schätz-chen, bitte, bitte werde wieder gesund. Nicht für mich, aber für die beiden Kiddies. Die brauchen doch ihre Mutter.“
Er ging nochmals nach draußen, um seine Mutter anzurufen. Er berichtete ihr, dass Leni am nächsten Morgen aufgeweckt werden sollte und dass er deshalb bei ihr blieb. Er würde sich melden, wenn es etwas Neues gäbe. Er wollte keinesfalls, dass Leni beim Aufwachen in das Gesicht seiner Mutter schaute und meinte, so lange würde er schon durchhalten.
Aber es kam wieder mal alles ganz anders als gedacht. Über den ganzen Tag verteilt wurde die Sedierung langsam runtergefahren, aber Leni zeigte keinerlei Reaktion. Man machte ein EEG und stellte fest, dass Gehirnströme vorhanden waren. Dann entfernte man vorsichtig den Beatmungsschlauch und alle waren erleichtert darüber, dass Leni selbständig atmete. Aber sie reagierte auf nichts, sie lag im Wachkoma. Die Ärzte versuchten, Johannes zu beruhigen und meinten, dass das nach einem künstlichen Koma nichts Ungewöhnliches sei. Auf die Frage, wie lange der Zustand anhalten würde, konnte ihm aber niemand eine Antwort geben, man sprach von Stunden, Tagen oder länger. Als sich Lenis Zustand am nächsten Morgen nicht gebessert hatte, legte man ihr eine Magensonde, um sie künstlich zu ernähren. Im Laufe des Tages öffnete sie die Augen, blickte aber nur ins Leere, sie reagierte weder auf Ansprache noch auf Personen. Sie wurde von der Intensivstation auf ein normales Zimmer verlegt und man riet Johannes, so viel wie möglich mit ihr zu reden oder ihr Musik vorzuspielen. Außerdem gestatte man ihm, sich auf das zweite Bett, das im Zimmer stand, zu legen, falls er müde sei. Er rief Max an und bat ihn, etwas Musik für Leni zusammenzustellen, was dieser liebend gern tat. Ein paar Stunden später kam er und war schockiert, als er Leni so teilnahmslos in ihrem Bett liegen sah. Er legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Arme Leni, das hat sie wirklich nicht verdient.“
„Wird sie wieder gesund?“, wollte er dann wissen.
Johannes zuckte die Schultern: „Darauf kann mir keiner eine Antwort geben. Aber wie ich zwischen den Zeilen rausgehört habe, wird sie wohl, selbst wenn sie wieder aufwacht, behindert sein.“
„Verdammte Scheiße“, entfuhr es Max. „Die süße Leni behindert, das möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen“, sinnierte er weiter. „Und wenn es wirklich so kommt, dann zieht ihr am besten zu uns auf den Hof“, schlug er vor.
Johannes nickte und legte den Zeigefinger auf den Mund. „Pst, wir wissen nicht, was sie mitkriegt“, forderte er seinen Bruder auf, leise zu sprechen.
„Wie ich gehört habe, hast du deinen Job geschmissen?“, wollte Max, jetzt leiser sprechend, wissen.
Johannes nickte. „Diesen Job anzunehmen war ein echter Griff ins Klo. Die wollten einen Rechtsberater, halten sich aber an nichts, was ich ihnen rate. In dieser Firma stehe ich ständig mit einem Bein im Bau. Das kann ich doch meiner jungen Familie nicht antun.“
„Und jetzt? Wie soll es weitergehen? Hast du schon was in Aussicht?“
„Nein, bis jetzt nicht. Ich bin noch bis Ende Oktober bezahlt. Ich versuche, wieder in einer Kanzlei unterzukommen. Aber im Moment ist Lene wichtiger.“
„Ja schon, aber überleg nicht zu lange. Denn so wie es aussieht, wird sie vielleicht nie mehr