Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez


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      Über dieses Buch

      Am 13. September 1931 tut das Bündner Bergdorf ­Furna ­etwas, was zuvor noch keine Gemeinde der Schweiz gewagt hat. Es wählt eine Frau zur Pfarrerin: Greti Caprez-Roffler, 25 Jahre alt, Theologin und ­Mutter. Ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen macht. Nach ihrem Tod ­begibt sich die Enkelin auf die Spuren der ersten vollamt­lichen Schweizer Gemeindepfarrerin. Sie stösst auf die aussergewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer Frau, die für sich in Anspruch nahm, was damals für viele ­undenkbar war: ihrer Berufung nachzugehen, Mutter zu sein, eine glückliche Liebe und eine erfüllte Sexualität zu leben. Eine Frau, deren Mut einen hohen Preis hatte – nicht nur für sie.

      «Das facettenreiche Porträt einer Schweizer Pionierin, geschrieben mit ­literarischem Einfühlungs­­­vermögen. Spannend wie ein Roman.» Angelika Overath

      Foto SRF

      Christina Caprez, geboren 1977, Soziologin und Historikerin, war Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin. Radio-, Film und Buchprojekte sowie Moderationen im Bereich Familie, Migration, Religion, Geschlecht, Sexualität. Im Limmat Verlag ist das Buch «Familienbande. 15 Porträts» lieferbar. Christina Caprez lebt bei Zürich.

      Parallel zum Buch «Die illegale Pfarrerin» hat Christina Caprez eine Hörausstellung für Kirchenräume und einen Dokumentarfilm über das Leben ihrer Grossmutter geschaffen. Informationen rund um das Projekt, zu Lesungen und Ausstellungsterminen, finden sich auf www.dieillegalepfarrerin.ch.

      Christina Caprez

      Die illegale Pfarrerin

      Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906–1994

      Herausgegeben vom

      Institut für Kulturforschung Graubünden

      Limmat Verlag

      Zürich

      Für Flavia

      1906–1931

      Igis, Zürich und

      São Paulo

      Hand in Hand in die Weite hinausziehen. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.

      Greti Roffler an Gian Caprez, 1. Januar 1928

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      São Paulo,

      Sommer 1930

      Nackte Wände, der Boden festgetreten und kahl. Niemand ­kümmert sich um Blumenbeete in diesem Hinterhof im Zentrum von São Paulo. Lediglich eine improvisierte Wäscheleine und ein Holzklappstuhl. Darauf sitzt Greti Caprez, geborene Roffler, Theologiestudentin aus Igis in Graubünden, 24 Jahre alt. Hinter der Kamera? Vermutlich Gian Caprez, Ingenieur aus Pontresina, 25-jährig. Mit ihm, den sie ihren Ehekameraden nennt, ist sie vor zehn Monaten nach São Paulo gekommen. Er hat eine Stelle am Polytechnikum angetreten, sie lernt für ihr Schlussexamen und führt den gemeinsamen Haushalt. Das Bild ist im Hof der Pension Helvetia entstanden, wo die beiden unter der Woche zu Mittag essen.1 Sie sitzt etwas gebeugt auf der vorderen Stuhl­kante. Auf ihrem Schoss? Möglicherweise ein Hemd von ihm, das sie flicken will, und ein Heft mit Notizen aus dem Studium. Auf jeden Fall würde es zu ihr passen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Arme und Wangen wirken nicht so schmal wie auf ­früheren Fotos: Sie ist schwanger. In wenigen Tagen wird sie ­allein auf einen Ozeandampfer in Richtung Europa steigen, um in ­Zürich ihr Schlussexamen abzulegen und danach bei ihren ­Eltern im Pfarrhaus von Igis ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Ihr Mann bleibt bei seiner Arbeit am Polytechnikum in São ­Paulo.

      Schwanger über

      den Ozean

      Ein Koloss, diese Conte Rosso!2 Aus den zwei haushohen Schornsteinen des Luxusdampfers strömte Rauch, und die Turbinen dröhnten. Im Schiffsbauch mit den vier Flügeln3 hätte die ganze Bevölkerung von Igis4 Platz gefunden, sogar mit den Arbeitern des rasch wachsenden Dorfteils Landquart. Stünde umgekehrt die Conte Rosso in Igis, so verstopfte sie die Gasse, vom Pfarrhaus bis zum Dorfplatz, und risse nebenbei noch ein paar Häuser ein, denn die Gasse war eng und das Schiff breit.5 Das prunkvolle Innenleben, gestaltet von Künstlern aus Florenz, hatte allein vierhundert­tau­send Dollar gekostet. Kristallleuchter verströmten ein dezentes Licht, schwere Teppiche dämpften die Schritte, und zwischen handgeschnitztem Täfer aus Eiche und Mahagoni, an dem Ölbilder hingen,6 flanierten die Passagiere wie in einem italienischen Schloss. Pfarrerstochter Greti Caprez-Roffler mochte ein ähnliches Ambiente als Kind in Marschlins gesehen haben, das etwas abseits vom Dorf Igis lag. Schlossherr Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, jahrelang Kirchgemeindepräsident7, pflegte einen guten Kontakt zum Ortspfarrer und empfing die Pfarrfamilie ab und zu.8

      Greti Caprez-Roffler interessierte sich jedoch weniger für pompöse Dekorationen als für die feudalen Mahlzeiten und ihren Platz im Liegestuhl auf dem Deck der zweiten Klasse. Essen mag ich fürchterlich, und arbeiten kann ich auch gut,9 berichtete sie der Mutter. Die täglichen Menus kamen ihrem Appetit entgegen: Horsd’œuvre, Austern, Ragout und Kartoffeln, Wurst und Kartoffelbrei, Emmentaler Käse, Aprikosenkompott, Orangen und Äpfel, Kaffee oder Tee.10 Ein feudaler, glänzender Frass, spottete sie im Brief nach Igis.11 Nach dem Mittagessen spielte im Salon eine Musik­kapelle auf, doch sie verkroch sich in den Liegestuhl hinter ihre Bücher und hoffte, es möge niemand das Gespräch mit ihr suchen.12 In den zwei Wochen bis zur Ankunft in Genua musste sie vier Jahre Theologiestudium vergegenwärtigen, Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik, Ethik, praktische Theologie, Pädagogik und Psychologie.

      Jeden Tag stellte Greti die Uhr eine Viertel- bis eine halbe Stunde vorwärts.13 Wie sich der Zeiger nach vorne drehte, so rückte Gian weiter weg. Es war Ende September 1930, seit der Hochzeit vor einem Jahr waren sie nie mehr als ein paar Stunden getrennt gewe­sen. Wann sie sich wiedersehen würden, war ungewiss. Und doch fühlte sich Greti innerlich gefasst.14 Die übliche Rastlosigkeit war einer Gelassenheit gewichen, über die sie sich selber wunderte und die sie dem Kind zuschrieb. Wer nichts davon wusste, konnte ihren Bauch auch jetzt noch übersehen. Sie selber spürte «es» ­jedoch genau und wandte sich im Tagebuch an ihr Kind: Du ­geliebtes, kleines Wesen. An meines Mamis Geburtstag15 hast Du Dich zum ersten Mal ganz leise und sacht bewegt.16 Wie wenn ein Fisch mit der Schwanzflosse schlägt.17

      Ursprünglich hatte Greti mit dem ersten Kind länger warten wollen. Während des Studiums hatte sie sich ausgemalt, zuerst den Abschluss zu machen und dann mit dem Liebsten die Welt zu entdecken. Hand in Hand in die Weite hinausziehen, auf eigenen Füssen stehen und miteinander durch Not und Mangel, den Kampf ums Leben hindurchgehen. Und dann so nach fünf Jahren wiederkommen, im ­Herzen reich, mit der Menschen Not und Sehnen mitfühlend und innerlich frei geworden, dann sich einen festen Wohnsitz gründen und Kindern das Leben geben, denen unsere reiche Erfahrung und Wissen um die Weiten der Welt zugutekommen würde. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.18 Doch bald war Greti klar geworden, dass die Eltern und Schwiegereltern dem ­jungen Paar niemals ihren Segen geben würden, wenn sie unver­heira­tet ins Ausland gehen wollten. Ohnehin hatte sie zäh um ihre Liebe kämpfen müssen. Ihr Vater, der Pfarrer, hatte sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt, und seit Gian am Horizont aufgetaucht war, sorgte er sich, die Tochter könnte die Theologie der Liebe ­opfern. Gians Mutter wollte keine Studierte als Schwiegertochter, und schon gar keine Frauenrechtlerin.

      Doch das Paar setzte sich durch. Als Gian nach Abschluss seines Studiums die Stelle in Brasilien in Aussicht hatte, rang Greti Eltern und Schwiegereltern die Erlaubnis ab, ihn zu heiraten und nach São Paulo zu begleiten. Dort mieteten sie zwei Zimmer mitten im Stadtzentrum bei einer deutschen Familie. Die Rua Xavier de Tole­do 9 lag eine Viertelstunde zu Fuss vom imposanten Bahnhof Estação da Luz entfernt, dem Symbol der Elite São Paulos, wo Kaffee und Zucker aus den armen Bundesstaaten des Nordens ange­liefert wurden.19 Noch näher lagen zwei grosse Baustellen. Hier entstan­den die neogotische Catedral da Sé und der Martinellibau, das erste Hochhaus Brasiliens. Die ersten zwölf


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