Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
Kleid.60 Womöglich war sie aber auch einfach schüchtern, fühlte sich zu wenig schön für den Ball und fand in der Verletzung eine willkommene Ausrede. Am Ende sagte sie doch zu. Ihre Studentenbude lag nur einen Katzensprung vom Kaufleuten weg, so dass sie jederzeit nach Hause gehen konnte. Im repräsentativen Saal mit dem Parkett, der Kassettendecke und den Balkonen, von denen aus man das Geschehen auf der Tanzfläche verfolgen konnte,61 trafen sich Studierende aus allen Fachrichtungen und allen Ecken Graubündens. Das Gefühl, weit weg von der vertrauten Umgebung zu sein, einte die jungen Frauen und Männer. Auf der Tanzfläche drehten sich immer neu zusammengewürfelte Paare, eine Tombola versprach Preise. Greti zog das grosse Los: eine Flasche Cherry Brandy, die sie mit allen am Tisch teilte. In der Runde sass auch Gian Caprez, Sohn eines Baumeisters aus Pontresina und Ingenieursstudent. Sie kannten sich flüchtig von der Kantonsschule in Chur, wo er die Klasse über ihr besucht hatte. Nun begegneten sie einander das erste Mal von Angesicht zu Angesicht. In dieser Nacht aber wurde daraus eine Liebe, die nicht mehr aufhörte,62 erinnerte sich Greti Jahrzehnte später, mit über siebzig Jahren, in ihren Memoiren.
Nach dem Bündnerball wanderten Gretis Gedanken immer wieder zu Gian. Eigentlich kam ihr die Begegnung mit ihm ganz und gar nicht gelegen. Sie hatte schon an der Kantonsschule den einen oder anderen Schwarm gehabt, hatte geschmachtet und gelitten. Nun wollte sie sich auf das Studium konzentrieren und wehrte sich dagegen, wieder dem Strudel der Leidenschaft ausgeliefert zu sein.63 Gegen den Willen des Vaters hatte sie sich für Alte Sprachen und nicht für Theologie entschieden, denn sie litt an Selbstzweifeln und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einer Kanzel zu stehen. Statt dessen stellte sie sich vor, später Lehrerin an einem Töchtergymnasium zu werden.64 Doch schon im Lauf des ersten Semesters stellte sie ihre Wahl in Frage. Sie fand es öde, stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten und nach der genauen Bedeutung eines Wortes zu suchen. Unter der Woche verirrte sie sich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die Greti brennend interessierten: Was war der Sinn von Leben und Tod? Worin bestand die menschliche Existenz? Fragen, die sich ihr in der Einsamkeit noch drängender stellten.65 Abends nahm ihr Zimmerwirt Paul Schmid sie zu religiösen Gesprächsabenden für junge Frauen mit, und sonntags hörte sie gebannt seinen Predigten zu.66 Die Religion wurde in der Grossstadt zur Nische, in der sie sich aufgehoben fühlte – und immer öfter fragte sie sich, ob sie nicht doch zur Theologie wechseln sollte. Um kein Semester zu verlieren, müsste sie ihre ganze Freizeit in das versäumte Hebräisch stecken.67 Doch ausgerechnet jetzt tauchte dieser Gian Caprez auf und stellte ihre Pläne in Frage.
Tagebuch, 2. Februar 192668
Es geht mir so viel im Kopf herum und doch weiss ich nicht, was oder auch wie schreiben, am allerwenigsten aber was tun.
Was soll ich zur Theologie umsatteln, denn ich will nicht ledig bleiben. Und wenn ich auch umsatteln würde, was wird später mein Los sein? Pfarrhelferin, wie ich auch ohne Uni werden könnte69, denn predigen kann und will ich nicht.
Dann darf ich aber nicht mehr tanzen, auch nicht mehr lieben und werde zu einer versauerten alten Jungfer, oder bringe es höchstens noch zu einer Pfarrfrau, wovon mir keines passt. Wenn ich aber heiraten würde, wie könnte ich es verantworten, andere Menschen, meine Nachkommen in den gleichen Wirrwarr, die gleiche Not, in denen ich bin, hineinzufallen. Könnte ich es dann ertragen, wenn sie mir eines Tages sagen würden: Warum nur hast du uns geboren?
Und was ist schuld an der Geschichte? Der Bündnerball! Er hat uns beide verrückt gemacht! Ich war vorher so ruhig, hatte mit allem abgeschlossen und mich ganz auf zukünftiges Altjungferntum eingestellt. Und da muss mir dieser Gianin in den Weg laufen.
Der Konflikt, der sie ein Leben lang begleiten sollte, zeigte sich ihr jetzt, im Februar 1926, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Noch versuchte sie ihn kleinzuhalten, indem sie ihre Liebeswünsche als unrealistisch abtat.
Tagebuch, 14. Februar 1926
In zwei Wochen bin ich hoffentlich zu Hause. Er wird auch heimreisen, später, nach mir, und wir werden uns nie mehr sehen. Denn Architekten, stud. ing., bauen doch gern Luftschlösser, und wer auf Luftschlösser traut und hofft, ist ein Narr! (…) Ich werde überhaupt nicht heiraten; ich weiss, dass dies in meinem Schicksal liegt. Wie ich mich dann durchs Leben schlage, weiss ich noch nicht, vielleicht alt und vergrämt, vielleicht froh und glücklich (…). Wer weiss? Wo bin ich in zwanzig Jahren?
Nachts
Himmlischer Herre hilf mir aus meiner Not und Verzweiflung (…). Hilf mir das Rechte zu wählen, den Weg zu gehen, den Du willst. Sag mir, ob ich Theologie studieren solle. Herr führe mich, Herr erlöse mich!
In den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft gab sich Gian Caprez tatsächlich gar reserviert. Zwar traf er sich mit ihr, doch er war weitaus distanzierter als andere junge Männer, denen sie begegnete, versuchte nicht, sie zu küssen, sondern legte höchstens scheu seinen Arm um sie. Sie interpretierte es als mangelndes Interesse – schliesslich war er mit seinen Mitstudenten überaus gesellig und humorvoll. Wie viel forscher trat da ein zweiter Student auf, den sie zur gleichen Zeit kennenlernte. Ernst Bener, angehender Maschinenbauer, ebenfalls aus Graubünden, machte ihr richtiggehend den Hof, und Greti, neugierig auf das Leben und hungrig nach Erfahrung, liess sich mit beiden ein. Jeder der Männer weckte ihr Interesse auf ganz unterschiedliche Weise: Gian berührte sie tief in der Seele, Ernst sprach ihr erwachendes Begehren an. Wie es sich für eine Theologiestudentin gehörte, wehrte sie Ernsts Avancen jedoch zunächst ab und versteckte das eigene Verlangen hinter der Konvention.
Tagebuch, 4. April 1926 (Ostern)
Obwohl ich in dem Augenblick, da du dich niederbeugtest, von heissester Angst erfüllt war, du solltest mich nicht gleich auf die Lippen küssen, und obwohl ich dich nachher hasste und mit gar bittern, bösen Gedanken neben dir schritt, war ich in diesem Augenblick Dein und bin jetzt noch Dein.
Den ersten Kuss mit Gian auf der Halbinsel Au erlebte sie ganz anders.70 Schon die Kulisse – der Zürichsee – war ganz nach Gretis Geschmack. Nach den Vorlesungen mietete sie ab und zu ein Boot und ruderte in die Dämmerung hinaus, manchmal zusammen mit Gian.71 Am Maibummel der Ingenieure waren die beiden in ihrem Element und holten beim Ruderwettbewerb der Paare den ersten Platz. Nach dem Essen im Landgasthof auf der Au tanzten sie in die Nacht hinein. Um zwei Uhr nachts, als die Musik aufhörte zu spielen und die jungen Männer und Frauen paarweise den Saal verliessen, verschwanden auch Gian und Greti Hand in Hand in der Dunkelheit des Wäldchens am See.72 Am Landungssteg fanden sie eine Bank unter dem ausladenden Blätterdach einer Kastanie, die sie vor dem aufkommenden Regen schützte. Wie schon bei Ernst war Greti hin- und hergerissen zwischen ihrer Lust und dem, was sie zu wollen hatte. Doch nun ergriff sie selber die Initiative. Sie nahm Gian in ihre Arme und liebkoste sein Gesicht. Als sie sich dann küssten, gestand er ihr, dass dies sein erster Kuss sei, er aber schon ahne, dass sie keine Philisterin, keine Spiessbürgerin sei.73
Greti spürte, dass sie beide etwas Besonderes verband. Vielleicht biegen hier unsere Wege auseinander, vielleicht aber werden wir zu wirklichen Freunden, die einander alles bringen können ohne Hinterhalt, ohne dass immer dieser ekelhafte Unterschied da ist, um dessentwillen die nettesten Dinge nicht getan werden dürfen.74 Seit ihrer Jugend störte sie sich an der Kluft zwischen Mädchen und Jungen. Als Kind hatte sie unbeschwert mit den Nachbarsbuben gespielt, doch mit zwölf war die Leichtigkeit verflogen. Mit dem Wechsel auf die Sekundarstufe liefen die Kinder nach Geschlechtern getrennt zur Schule. Greti wäre am liebsten ein Neutrum geblieben, doch es gab keinen Raum für ein verbindendes Dazwischen.75 Nun aber, mit Gian, hoffte sie, die Grenze zwischen ihm, dem Mann, und ihr, der Frau, aufzulösen.
Tagebuch, Zürich, 16. Mai 1926
Aber gibt es denn wirkliche Freundschaft zwischen Buben und Mädchen? Ich (…) glaube, hier, zwischen uns beiden ist es möglich, denn er ist noch viel stärker und sicher auch viel besser als ich, wenn wir nur ehrlich sein wollten, uns immer sagen würden, was dem einen am andern missfällt und damit den reichen Segen einer Freundschaft einheimsen wollten!76
Trotz ihres Vertrauens in Gian fürchtete Greti, er und Ernst könnten sich abgesprochen und ihr eine Falle gestellt haben: Die beiden Männer wüssten ganz genau, wie weit der andere mit ihr gegangen