Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
Erkundung des eigenen Begehrens. Wenn sie küssen, verachte ich mich nachher immer mehr oder minder, weil ich das Gefühl habe, irgendwie «gebraucht» worden zu sein.77 Und doch – da war dieses Verlangen, und da waren auch die Gefühle, die sie für beide Männer hatte. Emotionen, die sie verwirrten, weil sie sie nicht einordnen konnte. Man kann78 doch nicht beide mit seinem ganzen Sein lieben. (…) Es geht, solange ich vor keine Entscheidung gestellt werde. Was aber dann?,79 fragte sie ihr stummes Tagebuch. Dann beschwichtigte sie die kritische Stimme in sich. Wenn sie beide an mir etwas lieb haben, wenn ich beiden etwas sein könnte, warum sollte ich dann nicht mit beiden gehen? Von mir aus wäre es ja keine Lüge.80 Und als der Sommer begann und die doppelte Liason mittlerweile fünf Monate andauerte, hatte sie mit ihren Gefühlen Frieden geschlossen. Ich bin ganz wahnsinnig zufrieden und glücklich, freue mich zu leben, studieren zu dürfen und die Liebe zweier Menschen in meinen Händen tragen zu dürfen. Sie glauben beide an mich, haben mich beide lieb. Was brauche ich danach zu fragen, dass es zwei sind! Ich habe sie ja auch beide lieb.81
Ihre Freundinnen verfolgten Gretis Liebesabenteuer mit Anteilnahme und verurteilten sie nicht. Emmy Sonderegger, die sie in der Haushaltungsschule82 kennengelernt hatte, sprach ihr Mut zu. Man soll lieber recht viele kennenlernen, um dann später nicht hineinzufallen.83 Auch Cousine Gretly Puorger, die Medizinstudentin, ermutigte Greti. Du erlebst dabei eigentlich doppelt viel Schönes, lebst eigentlich zweifach.84 Die experimentierfreudige Hildi Hügli, Freundin aus der Kantonsschule, hatte erst recht keine moralischen Bedenken. Sie war mit ihrem Liebsten schon viel weiter gegangen – was kümmerte sie da, dass Greti zwei Männer küsste. Wenn sie der Freundin dennoch riet, sich von Gian zu trennen, dann tat sie dies aus anderen Motiven: Sie fand den Ingenieursstudenten zu streng, zu geradlinig und ernsthaft, kurz: zu farblos für Greti.85 Die verteidigte ihre Liebe: Mit Gian verbinde sie vielleicht nicht die grosse Leidenschaft, aber: Er ist doch der Einzige, den ich je liebte. (…) Er ist der Einzige, der einigermassen dem Fragen nach mir selbst Antwort gab. Sie, Greti, könne nur einen wie ihn heiraten: In ihm hätte ich einen Menschen, der meiner Unruhe die Ruhe, der meiner Furcht vor dem Morgen die Sicherheit im Jetzt, meiner unzuverlässigen Toleranz die unbedingte Zuverlässigkeit und Treue entgegenzusetzen hätte.86
Eine vergleichbare Nähe spürte sie zu ihrem zweiten Liebhaber, Ernst Bener, nicht. Dem Frauenstudium stand er skeptisch gegenüber, und als Greti in den Herbstferien der Grossmutter in Furna im Haushalt und im Stall half, spottete er über die Haus-, Schwein- und Hühnermutter. Dies seien eben keine Arbeiten für einen Mann!87 Greti spürte immer deutlicher, dass es mit Ernst nicht das Rechte war. Bei ihm war sie froh, einen zu haben, während sie bei Gian glücklich war, ihn zu haben. Doch Gianins Liebe schien ihr alles andere als gewiss. Er hielt sich immer noch bedeckt über seine Gefühle für sie und genoss einfach das Zusammensein mit ihr. Sie hingegen wünschte sich immer drängender ein Bekenntnis. Schliesslich stand für sie viel mehr auf dem Spiel als für ihn. Sie wünschte sich Kinder und brauchte dazu einen zuverlässigen Mann. Zugleich war es unausweichlich, dass sie die Theologie der Familie würde opfern müssen – und wenn sie gezwungen war, dieses Opfer zu erbringen, so wollte sie sich ihrer Sache zu hundert Prozent sicher sein. In ihrer Not schrieb sie ihm kurzerhand, ihr scheine es, ihre Beziehung habe ihr Ende erreicht. Diese Intervention provozierte ein offenes Gespräch zwischen den beiden, bei dem sie einander ihr Seelenleben offenbarten. Es stellte sich heraus: Auch er hatte sie als distanziert wahrgenommen.
Tagebuch, 3. Dezember 1926
«Nun wirst du nicht mehr so kalt sein», sagtest Du. Du Giannin fühltest Du denn die ganze lange Zeit nicht, dass hinter der Maske meiner Kälte ein zages, schwaches Herz in heissestem Sehnen Dich rief? Weisst Du denn nicht, dass ich auch nur ein Weib bin mit einem kleinen, zitternden Herzen?
Zürich, 7. Dezember 1926, Gian an Greti
Du liebes Greti,
Ich finde gerade auch in diesem Scheusein, das meinerseits gewiss ebensogross war, etwas Feines. Nun ist etwas geschehen, etwas Grosses, dass diese böse «Maske der Kälte» genommen hat (…).
Nun, da die Verhältnisse zwischen ihr und Gian geklärt waren, wollte Greti ihn ihren Eltern vorstellen. Als der Vater davon erfuhr, reagierte er wutentbrannt. Du sollst studieren, und ausser dem Studium hat weder jetzt noch später irgendwann irgendetwas zu existieren für Dich!,88 herrschte er sie an und versagte ihr in seiner Eifersucht den üblichen Kuss vor dem Schlafengehen.89 Joos Roffler fürchtete, den ersten Platz im Gefühlsleben der Tochter zu verlieren, ihr nicht mehr Anker und Orientierungspunkt zu sein. Ausserdem sah er seine Ambitionen in Gefahr: Wenn sie heiratete, würde sie dereinst nicht in seine Fussstapfen treten.
Seine Frau Betty brachte der Tochter mehr Verständnis entgegen. Sie hatte selber als Jugendliche Schule und Liebe gegeneinander abgewogen. Ihr Vater Tobias Luk war Kantonsbuchhalter in Chur, ein fortschrittlich denkender Mann, der in jungen Jahren in Russland und Amerika sein Glück versucht hatte90 und die Tochter auf die Kantonsschule schicken wollte – Anfang der 1890er-Jahre ein unerhörtes Ansinnen, noch waren Mädchen nicht zur Matur zugelassen. Doch Betty, so erzählt es Greti später in der Familienchronik, mochte nicht stillsitzen und lernen. Lieber ging sie mit ihren Freundinnen zum Tanz. Die Liebeslust der eigenen Tochter konnte sie darum nachvollziehen.
Nicht so die Grosseltern in Furna, die sich um Gretis Ruf als ehrbare Jungfrau sorgten.91 Der Enkelin blieb neben dem Studium ohnehin zu wenig Zeit für die Entwicklung ihrer hausfraulichen Fähigkeiten.
Elsi Aliesch-Nett, geb. 1925, Gretis Cousine
zweiten Grades, aufgewachsen in Furna92
Gretis Grossmutter maulte, ein Studium brauche eine Frau nicht, das gebe dann keine gute Hausfrau. Greti konterte, das wolle sie dann schauen, ob sie keine rechte Hausfrau sein könne. Sie hatte dann ja sechs Kinder. Sie hat schon bewiesen, dass man das alles kann!
Im Dezember 1926, fast ein Jahr nach dem Bündnerball, gelang es Greti dennoch, die Einwilligung des Vaters für den Antrittsbesuch des Liebsten in Igis zu erlangen. Zu Beginn der Weihnachtsferien, auf dem Weg nach Pontresina, besuchte Gian sie im elterlichen Pfarrhaus. Sie zeigte ihm das Dorf ihrer Kindheit und führte ihn ins leere Kirchenschiff, wo sich die beiden unter der Kanzel von Gretis Vater lange küssten. Dies aber war der schönste Gottesdienst, den ich erlebt. Von der Wand winkte tröstlich der Spruch: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.» Und meine Augen entdeckten auf der andern Seite den Psalm: «Dein Wort ist meinem Mund süsser denn Honig», den er viel logischer las: «Dein Mund ist süsser denn Honig.» Was Wunder, dass wir lange hatten, die Kirche anzusehen!93 Siehe da: Mit seinem Charme und Humor eroberte Gian die Herzen sämtlicher Pfarrhausbewohner.94 Nur Joos Roffler hoffte insgeheim, die Flamme der Tochter werde bald erlöschen.
Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern
vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation95
Meine Eltern litten beide unter Tuberkulose und starben bald nach meiner Geburt. Ich kam dann als Pflegekind ins Pfarrhaus von Igis. Die Pfarrerskinder waren schon gross, Greti studierte in Zürich, Christa, der jüngste, war zehn Jahre alt.96 Papa Roffler war ein hochintelligenter Mensch, er hatte ein grosses Wissen, und er konnte sehr charmant sein. Aber er war sehr jähzornig, und er führte ein strenges Regime. Man ist nicht an ihn herangekommen. Er hatte recht und damit basta. Punktum, hat er immer gesagt. Punktum. Ich war sehr empfindlich, laute Diskussionen waren für mich tödlich. Einmal fragte ich die Mama: Warum hast Du diesen Mann geheiratet? Der hat ja immer schlechte Laune, Tag für Tag schlechte Laune! Sie sagte dann: Weisst Du, er ist ja sonst ein Lieber. Erst später habe ich gemerkt, dass nicht überall so eine Atmosphäre herrscht wie bei uns. Non und Nona etwa, die Eltern von Gianin, die waren ganz andere Leute. Für mich war das wie ein Sonnenaufgang, wenn die kamen. Die brüllten und stritten nicht wie Rofflers. Sie waren immer ruhig und nahmen es gemächlich.
Elsi Jenny-Roffler, 1911–1998, Schwester von Greti,
in einem selbst verfassten Lebenslauf97
Der Vater war ein strenger, aber sehr besorgter Patriarch, die Mutter war ein liebevolles Aufstehmännchen. Sie hatten sich sehr gut ergänzt.
Für Greti war der Vater die dominante Figur, Gian hatte zu seiner Mutter die engere Beziehung. Christina