Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
zu werden, aber auch die Sehnsucht danach, endlich mit ihm zusammenzuleben und sich in der Sexualität nicht mehr zügeln zu müssen. Zwar hatte sie sich entschieden, weiter zu studieren, weswegen sie den Gedanken an eine baldige Familiengründung beiseiteschob. Dies schloss jedoch eine Heirat nicht aus. Sie fasste sich ein Herz und setzte ihren Eltern den Plan in einem Brief auseinander: Giannin und ich werden in einem Jahre heiraten (…). Kinder werden wir dann ca. fünf Jahre noch keine haben (aber nicht nach altväterischer Verhütungsmethode, weil die zu unsicher ist und ich nicht jeweilen in der Luft hangen gelassen sein will.) Euch werden die Haare zu Berge stehen: horribile dictu, ist dies eine schamlose Jugend, dass sie solche Dinge so frei und frank heraus sagt. Reinheit im landläufigem Sinne heisst aber nichts anderes als Nichtwissen um Dinge, die nun einmal sind. Wirkliche Reinheit ist etwas ganz, ganz anderes. (…) Ich kann nicht aus meiner Haut und hoffe, dass Ihr mich nicht an dem hindern werdet, was ich für recht und notwendig, mir und Gott gegenüber erkannt habe.135
Gretis Brief löste im Igiser Pfarrhaus helles Entsetzen aus. Glaubst Du etwa, dass Papa hocherfreut darüber ist?,136 schalt Betty Roffler die Tochter. Als ich ihm den Brief vorlas, ist er im Studierzimmer herumgereist und hat Euch nicht die sanftesten Namen gesagt. Dann meinte er aber, es hätte (…) gar keinen Wert, dass Du noch weiter studierest; das sei ja das Geld zum Fenster hinausgeschmissen. Da sei es am gescheitesten, Ihr verlobet Euch bald und nachher sage er dem Bündner Kirchenrat, er solle die ganze Motion ins Kamin hängen. Es habe doch keinen Wert, dass man solches Tam Tam mache um nichts. Auch das Examen im Frühling lässest Du dann gescheiter beiseite.137 Erst kürzlich hatte der Kirchenrat Greti zum Propädeutikum, der kantonalen theologischen Zwischenprüfung, zugelassen, und sich dafür ausgesprochen, künftig auch Frauen in die Synode aufzunehmen. Nun lag der Ball bei den regionalen Pfarrerparlamenten, den Kolloquien, und auch dort liessen die Diskussionen hoffen. Nur in Prättigau-Herrschaft, wo auch Rofflers Heimatdorf Furna lag, hatte man seinen Antrag abgelehnt.138 Leider war von dort nichts anderes zu erwarten gewesen, schliesslich führte Jakob Rudolf Truog die Geschäfte, Pfarrer unten im Tal in Jenaz und vehementer Gegner des Frauenpfarramts. Truog liess keine Gelegenheit aus, im Kirchenrat gegen die Theologinnen zu wettern, und auch in den Zeitungen schoss er mit scharfer Munition. Von allen andern Kolloquien kamen aber positive Signale, und so sah Joos Roffler zuversichtlich der Synode entgegen, die die Sache im Sommer besiegeln sollte. Wenn Greti nun aber heiraten wollte, waren seine Bemühungen umsonst gewesen, denn die Debatten drehten sich nur um ledige Theologinnen.
Die Mutter wunderte sich mehr über Gretis Illusionen punkto Familienplanung. Die Tochter stellte sich das mit der Verhütung etwas gar einfach vor. Und zuletzt kommt dann ungerufen ein Pöps nach dem andern. Auch, dass Greti so offen über ihre Lust schrieb – dass sie nicht in der Luft hangen gelassen werden wollte, hiess ja nichts anderes als: Sie wollte nicht unbefriedigt bleiben139 –, missfiel Betty Roffler. Vermutlich hatte die Lektüre des feministischen Sexualratgebers von Marie Stopes, Das Liebesleben in der Ehe, der Tochter die Ehefreuden nähergebracht.140 Von wem hast Du eigentlich das mir gegebene Buch? Ich habe es zwar noch nicht fertiggelesen, aber soviel habe ich doch daraus gesehn, dass mein Mann auch ohne Buch ein sehr rücksichtsvoller Gatte war, der nie etwas forderte, was ich nicht selbst wollte, oder ohne dass er mich dazu geneigt machte, ausgenommen freilich die alte Verhütungsmassregel.141 Die Mutter bat Greti, das Buch ihren Schwestern nicht zu geben, besonders der unbesonnenen Elsi nicht, denn dadurch würde sie sich ihrer Regungen erst bewusst.142
Greti gefiel weder Ton noch Inhalt der elterlichen Reaktion. Ihr behandelt mich auch gar als naiven Gof,143 beklagte sie sich. Das Buch ermuntere nicht zum Sex, vielmehr diene es dazu, die eigenen Gefühle zu verstehen und einen Umgang damit zu finden, sei es, indem man sie sublimiere oder indem man heirate. Oder meinst Du Mama, es sei besser, vor Elsi werde einfach alles totgeschwiegen, «es» komme dann einmal über sie und sie sei der Sache ausgeliefert?144 Nein, das konnte die Mutter unmöglich wollen. War Euer Jahrhundert denn so ganz anders als wir sind?145 Greti weigerte sich, auf die Argumentation der Mutter einzusteigen und hielt an ihrer schonungslosen Offenheit fest. Sie offenbarte den Eltern gar, dass sie, als Gians Schlummermutter aus dem Haus war, einmal bei ihm übernachtet habe, beide keusch in Kleidern nebeneinander liegend.146 Diesmal versuchte Joos Roffler die Tochter nicht mit einer Standpauke, sondern mit rationalen Argumenten zur Vernunft zu bringen. Ein unbeherrschter Augenblick, und es ist geschehen. Nein Greti, traue Dir nicht zu viel zu. Unverhofft ist schon oft über manchen Frommen die Versuchung kommen. Du bist nicht einmal fromm. Also arrangiere Dich anders.147
Zunächst blieb alles beim Alten: Greti studierte weiter, und die Heirat war vorerst kein Thema mehr. Unter den Augen des ganzen Kantons legte sie ihr Propädeutikum ab. Kurz zuvor spottete sie Gian gegenüber: Wenn ich durchkomme, hast Du die berühmteste «Frau» in Graubünden zur Liebsten, und wenn ich fliege, die unmöglichste. Für mich ist es natürlich dann schon am schönsten, wenn ich einfach unter einem andern Namen verschwinde, d. h. das Greti Roffler aufhört zu existieren und daraus ein Greti Caprez wird. Nur der Ätti ist zu erbarmen, denn seine Tochter wird es immer sein, die durchgeflogen ist.148 Der Vater brauchte sich nicht zu schämen: Seine Tochter bestand die Prüfung mit der Note gut. Sechs Wochen später trafen sich alle Pfarrer aus Graubünden in Klosters zur Synode, um über die Zulassung der Frau zum Pfarramt zu diskutieren. Nach den regionalen Kolloquien beschloss nun auch die Synode mit 51 zu 4 Stimmen, dem Volk eine Vorlage zur Abstimmung vorzulegen: Zulassung der (ledigen) Theologin zum Pfarramt.
Der Vater schöpfte Hoffnung, doch Greti fühlte sich eingeengt ob der Pläne, die er für sie schmiedete. Er habe kein Recht, stolz zu sein auf seine Tochter, hielt sie ihm vor: Ich bin weder ein Genie noch sonst etwas Besonderes, sondern nur ein ganz, ganz mittelmässiger Mensch (…).149 Besonders regte sie sich darüber auf, dass er die Gesetzesvorlage in einem Artikel als Lex Grete bezeichnet hatte. Erstens heisse sie gar nicht so, und zweitens wolle sie keinesfalls mit dem Gesetz in Verbindung gebracht werden. Mir ist diese ganze Komödie zum Davonlaufen verekelt. (…) Spotten werden sie sowieso, wenn sie erfahren, dass ich heirate, und es wird ihrer etliche geben, die es mir sehr, sehr verübeln, dass ich die ganze Aufregung für nichts verursacht habe.150
In den Weihnachtsferien 1928 kam es im Pfarrhaus in Igis zum Eklat. Nach dem Ende der Vorlesungen war das Liebespaar aus Zürich angereist. Gian, frisch gebackener ETH-Ingenieur, wollte zu den Festtagen weiter nach Pontresina zu seinen Eltern fahren. Beim Mittagessen am Pfarrhaustisch sprachen Greti und Gian davon, sich zum Jahresende verloben zu wollen. Joos Roffler stand abrupt auf und verliess den Raum mit den Worten: Ich bin wenigstens noch nicht gefragt worden!151 Gian, sich des Ernsts der Lage offensichtlich nicht bewusst, lief ihm nach und fragte, ob der Schwiegervater in spe einen offiziellen Briefbogen hätte, er wolle einen formellen Antrag stellen. Doch Joos Roffler ertrug keinen Spass. Er liess Gian stehen, ging zurück zur Tochter und bellte: Wenn Du diesen heiratest, kommst Du mir nie mit ihm ins Haus und gebe ich Dir keinen roten Rappen.152 Dann ging er aus dem Haus und liess den Rest der Familie konsterniert zurück.
Später redete Greti ihm ins Gewissen: Er könne doch nicht im Ernst erwarten, dass der Freund der Tochter, die er so frei erzogen habe, bei ihrem Vater um ihre Hand anhalte – ausser sie würde dasselbe bei seinem Vater tun!153 Gian seinerseits schickte Joos Roffler einen Brief, in dem er einen versöhnlichen, allerdings immer noch ironischen Ton anschlug. Ich bin ein hochmütiges, freches Engadinerfrüchtlein, das ist doch Ihr Urteil über mich, und Sie haben vollkommen recht; denn was sich heute Mittag im Studierzimmer zugetragen hat, bestätigt es, und mich wundert, dass Sie mir nicht sofort die Türe gewiesen haben.154 Nachdem der Zorn verraucht war, besann sich Gretis Vater. Ich will gerne zugeben, dass ich noch in altväterischen Anschauungen befangen bin. (…) Dass Sie anders eingestellt sind, kommt wohl weniger von Ihnen als von Greti (…). Ich betrachte sie mit ihren modernen, der Frauenemanzipation entsprungenen Ideen als die intellektuelle Urheberin der ganzen Geschichte.155 Schliesslich gab der Vater den beiden seinen Segen. Es nützte ja doch nichts, gegen den harten Schädel seiner Tochter kam er nicht an.
Auch Gians Eltern stimmten der Verlobung zu. Seine Mutter, die zu Beginn ihrer Beziehung noch grosse Vorbehalte gegenüber Greti geäussert hatte, sah in ihr nun eine verständnisvolle liebe Gefährtin für den einzigen Sohn.156 Um sie noch mehr für sich zu gewinnen, stellte sich Greti als beflissene Schwiegertochter dar. Ich möchte noch viel von Ihnen lernen, um einmal Gianin eine tüchtige