Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez


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Leserin den Atem stocken lässt, gab sie ihren persönlichen Standpunkt in der Prüfung kurzerhand als christliche Ethik aus.

      Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik.184

      Als Gegenstand christlicher Ethik! Gibt es denn eine andere Ethik? Etwa eine philosophische oder eine rein praktische, spekulativ nicht begründete? Es gibt überhaupt keine andere. Jeder Versuch, die sittlichen Normen anderweitig abzuleiten als aus Gottes Willen bleibt ein Versuch, bleibt beim Warum. (…)185

      Die Hauptprobleme sind wohl die Fragen: 1. Ist die Monogamie die richtige und die einzige Form für die Ehe, 2. Ist die Form unseres heutigen Familienlebens die beste?

      Zu der ersten Frage kann nur Eines gesagt werden. Es handelt sich nicht darum, ob der Mensch nun nur eine Frau oder einen Mann liebhat, sondern darum, wie ihre Herzen dabei stehen. Denn wer will bestehen, wenn wir an die Forderung Jesu denken! Es gibt keine Sicherung dagegen, dass ein zweiter Mensch unserem Herzen ebenso lieb sein wird. Es gibt nur Eines: einander186 die Freiheit zu lassen und es miteinander zu tragen und erleben. Es geht allein um die Gesinnung und darum, die Verantwortung ­tragen zu wollen. Es ist genau dasselbe Wagnis, einen Menschen aus seinem Leben auszuschliessen, wie ihn daran teilnehmen zu lassen. (…)

      Die Frage nach der Form unseres heutigen Familienlebens ist meiner Meinung nach heute falsch gelöst. Der Vater ausserhalb der Familie, die Mutter innerhalb der Familie ergibt eine ganz falsche Zusammensetzung. Dass der Vater seine Kinder oft überhaupt nicht kennt, weil er nur während der beiden Mahlzeiten mit ­ihnen zusammen ist, die Mutter – und vor allem unsere Schweizer und deutschen Mütter – vor lauter Flickkorb und Küche nichts anderes mehr sehen, dies bedeutet eine ungeheure Verarmung der ­Familie. Wenn unsere Zeit für die Frau Freiheit zum Beruf fordert, so ist dies nur die eine Seite, wenn auch eine ungeheuer wichtige, die andere ist: mehr Zeit dem Vater für seine Familie. Unsere Fami­lien sind innerlich so aufgelöst, weil der Vater verlernt hat, in ihr, und die Mutter, ausser ihr zu leben. Die Mutter versteht die Pro­bleme ihrer Kinder nicht, weil sie sich nur mehr in ihrer Stube auskennt und der Vater, weil er seinen Kindern ein Fremder ist.

      Greti Caprez-Roffler.

      Eine angehende Theologin stellt zwei Grundfesten des traditionellen Eheverständnisses in Frage: die Monogamie und die Rollenteilung zwischen Mann und Frau. Das musste auf Professor Emil Brunner, der die Arbeit korrigierte, wie ein Paukenschlag wirken. Ob ihr etwa erst nach der Abgabe die Sprengkraft ihrer Thesen ­bewusst wurde? Auf jeden Fall bröckelte ihr Mut, offenkundig schwanger vor die Professoren zu treten, je näher die mündliche Prüfung rückte. Sie nahm einen teuren Luftpostbogen und füllte ihn bis an den Rand mit engen Zeilen. Liebes Brüderlein, schlafe gut, das kleine lieb. Habe mir einen unglaublich schönen Hut und Schirm erstanden, auch Kleid ordentlich. Hoffe, dass sie es nicht merken, trotzdem «es» schon gross und lebhaft. Bewegungen durch Kleider sichtbar. Ich Heimweh nach Dir. 187

      In Brasilien waren inzwischen soziale Revolten ausgebrochen,188 Greti las täglich auf der Frontseite der Neuen Zürcher Zeitung davon: Im Bundesstaat Rio Grande do Sul ganz im Süden des Landes rebellierte das Militär gegen den neu gewählten Präsidenten Julio Prestes, einen Vertreter der Oligarchie São Paulos.189 Seit dem Börsencrash vor einem Jahr waren die Kaffeepreise stetig gesunken, an manchen Orten litten die Menschen Hunger.190 Bald kam es auch zu gewaltsamen Protesten im Nachbarbundesstaat São Paulos, in Minas Gerais. Die Regierung schickte fünf Flugzeuge mit Bomben und liess die Vorräte in den Lagerhäusern beschlagnahmen, um Lebensmittelspekulationen zu verhindern.191 Nun drohten die Aufständischen, mit vierzigtausend Mann auf Rio und São Paulo zu marschieren, falls sich die beiden Städte der Revolte nicht anschliessen würden.192 Als die Regierung den Ausnahmezustand bis zum Ende des Jahres verhängte,193 versuchte das brasilianische Konsulat in Zürich die Angehörigen der Auslandschweizer im Land zu beschwichtigen: In São Paulo herrsche vollkommene Ruhe, und der Präsident werde auch in den andern Regionen für Ordnung sorgen.194 Auch Greti übte sich in Gelassenheit. Ich habe nicht Angst um Dich, liess sie ihren Liebsten wissen. Wenn es nicht gutgeht, kommst.195

      Zwischen den Prüfungen traf Greti ihre Freundinnen Verena Stadler und Henriette Schoch,196 die ebenfalls Theologie studiert, das Examen aber schon hinter sich hatten. Alle beschäftigte dieselbe Frage: Wo würden sie nach dem Studium einen Platz finden? Die Wirtschaftskrise traf das Pfarramt zwar nicht, denn an vielen Orten der Schweiz wurden Pfarrer fieberhaft gesucht.197 Aber eben keine Pfarrerinnen: Noch kein Kanton hatte das Amt für Frauen geöffnet. Im Aargau, in Basel-Stadt und Graubünden wurden intensive Debatten um die Zulassung von Frauen zum Pfarramt ­geführt. Zwölf Jahre zuvor hatten die ersten Theologinnen, Rosa Gutknecht und Elise Pfister, ihr Studium an der Universität Zürich abgeschlossen.198 Greti und ihre Freundinnen verfolgten den Weg der älteren Kolleginnen bang und hoffnungsvoll. Die warmher­zige Rosa Gutknecht empfanden sie als Mutter, während ihnen Elise Pfister streng und kühl erschien.199 Vorbilder waren sie ihnen beide. Die Zürcher Landeskirche hatte sie sogar ordiniert, und beide hatten eine Anstellung als Pfarrhelferinnen in grossen Stadtzürcher Gemeinden gefunden, Rosa Gutknecht am Grossmünster und Elise Pfister am Neumünster.200 In dieser Funktion erhielten sie jedoch nur halb so viel201 Lohn wie die männlichen Kollegen, und sie hatten sich mit denjenigen Aufgaben zufriedenzugeben, die die Gemeinden ihnen zuwiesen. Während Elise Pfister am Neumünster Glück hatte und alle Amtshandlungen ausführen konnte, durfte Rosa Gutknecht jeweils nur dann predigen, wenn der Pfarrer ausfiel.202 Immerhin spürten beide viel Unterstützung in ihren Gemeinden; Männer wie Frauen sprachen sie als Fräulein Pfarrer an und nicht etwa als Fräulein Pfarrhelferin.203

      Gretis Freundinnen, Verena und Henriette, hatten schon erste Gehversuche als Aushilfspfarrerinnen gemacht.204 Henriette ging nun nach Zürich Wiedikon als Gemeindehelferin.205 Dafür wurde zwar kein Theologiestudium vorausgesetzt – die Vorgängerin war eine Art «Mädchen für alles» gewesen –, aber Henriette setzte dar­auf, mit der Zeit immer mehr theologische Aufgaben übernehmen zu können.206 Greti und Verena rechneten sich noch geringere Chancen auf eine Pfarrstelle aus, weil sie nicht mehr ledig waren. Verena suchte mit ihrem Verlobten, dem Theologen Walter Pfenninger, eine Gemeinde, die ihn als Pfarrer anstellen und ihr erlauben würde, mitzuarbeiten.

      Seit dem ersten Tag an der Universität hatten die Freundinnen sich daran gewöhnt, ignoriert, argwöhnisch beäugt oder belächelt zu werden. Als Greti sich an der Theologischen Fakultät einschrieb, war sie neben Henriette die einzige Frau unter den Studierenden, Verena studierte damals gerade in Marburg.207 Die männlichen Kommilitonen hielten höfliche Distanz zu den beiden Exotinnen.208 Unendlich viel Schönes lag brach,209 erinnerte sich Greti später. Ich fand mich in einer Luft, tat nichts dagegen, setzte ein möglichst ernstes, reser­viertes Gesicht auf (…). Mit der Zeit gewöhnten sich die Kollegen jedoch an sie. An der kleinen theologischen Fakultät kannten sich Studierende und Dozenten, manche Seminare fanden zu Hause bei einem Professor statt210. Die Mitstudenten näherten sich Greti mit Witzen, sie nannten sie Ruedi Roffler und spekulierten, ob sie überhaupt weibliche Eigenschaften habe.211 Einer hatte ihr damals gar ein Gedicht gewidmet:

      GRETLI THEOL.212

      Verliebt gar tief

      Hut meist schief

      Ob schwarz ob blau

      Sie trägt zur Schau

      zwei schöne Zöpfchen

      geflochten ums Köpfchen

      die Ohren verdeckend.

      Und Liebe erweckend

      die Nase und Augen.

      Sie könnte wohl taugen

      Was nicht jede kann,

      als Frau einem Mann.

      Doch bleibt sie halt ledig,

      s’ist wegen der Predigt;

      doch eh’ ichs vergesse

      es bietet Int’resse,

      dass nebenbei sie

      studiert Theologie,

      das ist ganz unverdreht

      unsere liebe Gret.

      Allmählich hatten die Studenten Greti in ihren Kreis


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