Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
nicht kam.251 Die hoffnungsfrohe Gelassenheit, die sie auf der Überfahrt noch erfüllt hatte, war verflogen.
Ein Jahr getreulich geleisteter Arbeit, siebzehn Jahre Lernen und immer ein Ziel vor Augen, und nun nichts mehr. Nun mässig abgeschlossen und vor mir lauter Fragen. Ich fand mich ohne Boden unter den Füssen.252
Über drei Jahrzehnte später, im Alter von 55 Jahren, erinnerte sich Greti in einem Brief an eine Bekannte an ihre Studienzeit. Noch als Gymnasiastin habe sie einen riesigen Respekt vor Autoritäten gehabt. Dann verlor ich als Studentin vor Lehrern die Achtung, als ich hinter die Kulissen sah.253
Landquart,
27. September 1904
Ein Hochzeitsbild: Josias und Elsbeth, genannt Joos und Betty Roffler-Luk. Sie ist 25, eine alte Braut für damalige Verhältnisse, er ein Jahr älter als sie.254 Er nimmt zwei Drittel des Bildes ein, sie hält die Arme eng an den Körper gezogen. Beide tragen hochgeschlossene Kragen und schauen ernst, dem Anlass und der Zeit angemessen. Sie wirkt in der Faltenbluse mit der grossen Taftschleife wie eine Praline, die krausen Haare bändigt sie nur mit Not hinter dem Kopf. Schiebt sie das Kinn etwas nach vorn? Er versucht unter seinem Schnauz ein Lächeln und richtet seinen durchdringenden Blick direkt in die Kamera, ihre Augen schweifen in die Ferne.
Die jugendliche Betty in Chur liebte das Tanzen. Als der angehende Theologiestudent es ihr verbieten wollte, trennte sie sich von ihm. Überhaupt, der Städterin und Beamtentochter schien die Aussicht, als Pfarrfrau in einem Bergdorf zu leben, nicht sonderlich attraktiv. Drei Jahre lang gingen Joos und Betty getrennte Wege. Erst, als ein anderer um sie warb und ihr Herz nicht Feuer fing, kehrte sie zu ihm zurück.255 Das Paar verkündet die Eheschliessung auf einer Jugendstilkarte mit Schwalben und weissen Rosen. Das Hochzeitsmenu im Hotel Landquart: Königin-Suppe, Salm mit Butter und Kartoffeln, Rindsbraten mit verschiedenen Gemüsen, Gefüllte Pastete, Französisches Poulet mit Salat und Compôte, Rahmtorte, Dessert – Früchte.
Warten
Mitte Oktober 1930, nach dem letzten Examen, fuhr Greti Caprez-Roffler nach Igis zu ihren Eltern. Bis zur Geburt blieben ihr drei Monate. Sie quartierte sich im Pfarrhaus in ihrem Mädchenzimmer ein, dem geliebten blaugestrichenen Zimmer, in dem sie und Gian vor anderthalb Jahren die Hochzeitsnacht256 verbracht hatten. Wie viel war seither geschehen! Nun hiess es nur noch warten, bis das Kind kam.
Sie vertrieb sich die Zeit mit Hausarbeiten und Besuchen im Dorf, sie half der Mutter und den Schwestern Käti und Elsi bei der Buchi (Wäsche), und bei der Metzg257, sie knackte Nüsse für das geliebte Birnbrot258, strickte weisse Wollhöschen für das Kind und richtete ihm einen Korb259. Im Dorf sprach man sie nun mit Frau Pfarrer oder Frau Caprez an. Die verheirateten Frauen nahmen sie in ihren Kreis auf und erzählten ihr von den Problemen mit ihren Männern, von sexueller Frustration, von Schwangerschaften und Geburten. Zu Hause geriet sie immer wieder mit ihrem Vater aneinander, sie stritten über theologische Fragen und über die Erziehung des Bruders Christa, der zehn Jahre jünger war als Greti.260
Als Erstgeborene hatte Greti das Sagen unter den Geschwistern. Die dreieinhalb Jahre jüngere Käti besass zwar ebenfalls einen harten Schädel, doch der Älteren folgte sie ohne Murren.261 Elsi, fünf Jahre nach Greti geboren, war der Wildfang. Als die Mutter mit ihr schwanger war, wünschten sich alle in der Familie einen Jungen. Bei der Geburt schickte der Vater seinen Eltern eine Karte nach Furna: Unser Bub ist angelangt, und es heisst Elsi.262 Erst fünf Jahre später kam mit Christa der ersehnte Sohn zur Welt. Doch da hatten zwei der älteren Schwestern seinen Platz schon besetzt, jede auf ihre Art: Elsi, an der so gar nichts Mädchenhaftes war,263 und Greti, die durch ihre Intelligenz herausstach.264 Alle drei Mädchen hatten die Sekundarschule besucht, doch nur Greti auch das Gymnasium. Die musikalische Käti hatte ein Jahr am Konservatorium in Neuenburg Gesang studiert. Nun sass sie wieder zu Hause im Pfarrhaus und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen. Tauchte ein Verehrer auf, verkündete sie, die Männer seien ihr so gleichgültig wie Telefonstangen.265 Elsi, gerade zurückgekehrt von einem Welschlandjahr an einem Töchterinstitut, wartete auf ihren zwanzigsten Geburtstag, das Mindesteintrittsalter für die soziale Frauenschule in Zürich.266 Elsi ist fortwährend unzufrieden, reizbar, ärgerte sich Greti in einem Brief an Gian. Dass es für sie (…) nicht leicht ist, Haustochter zu sein, begreife ich gut. Ich wollte und könnte es nicht sein, Du auch nicht. Hausfrau ist schon etwas Anderes, Selbständigeres, Berufhafteres.
Abends lasen die drei Schwestern mit ihrer Mutter Eine Frau allein, einen Roman der Amerikanerin Agnes Smedley. Begeistert berichtete Greti Gian davon. Das musst Du auch einmal lesen. Eine Frau aus den untersten Volksschichten, die an nichts mehr glaubt, vor allem nicht an die Ehe, und nur um eines kämpft: Freiheit der Frau und aller Unterdrückten. Mir war dies ja alles, wenn auch ein bisschen in anderer Form, unser eigener Kampf. Siehst Du, wir wollen frei und unabhängig von Euch sein, weil unsere Liebe dann etwas ganz anderes ist. Wir dürfen Euch dann lieben, in Freiheit, einfach deshalb, weil wir Euch lieben, nicht aber weil wir abhängig und gebunden sind oder weil es unsere hausfrauliche Pflicht ist.267
In Brasilien konnten die Aufständischen die Revolution inzwischen für sich entscheiden: Ihr Anführer, Getulio Vargas, hatte die Macht übernommen und versprochen, der Misswirtschaft ein Ende zu setzen und Politiker, die sich an Staatsgeldern bereichert hatten, zu bestrafen. Als er am 30. Oktober in São Paulo eintraf, feierte ihn eine tobende Menschenmenge. Viva a Revolução!, tönte der Triumphgesang in den Strassen. Gian mischte sich unter die Jubelnden. In seinen Briefen hatte er sich bisher über die Ereignisse ausgeschwiegen (um die Liebste nicht zu beunruhigen?).268 Nun schickte er ein Foto in die Schweiz: Ein Demonstrationszug von Männern und Frauen mit lachenden Gesichtern, die ihre Hüte in die Luft warfen vor Freude. Die Schweizer Illustrierte Zeitung druckte das Foto in der Ausgabe vom 27. November ab,269 zusammen mit weiteren Bildern, auf denen die Verwüstungen zu sehen waren, die aufgebrachte Revolutionäre in den Redaktionen regierungstreuer Zeitungen angerichtet hatten. Jahre später erinnerte sich Gian in der Familienchronik daran, wie er und die Kollegen am Polytechnikum die Ereignisse erlebt hatten: Wir sind heil davongekommen, wir gehören sogar zu den Siegern! Unser Direktor war selber Revolutionär.270
Als Zwölfjährige hatte Greti ebenfalls revolutionsähnliche Zustände erlebt, auf die sie sich damals keinen Reim hatte machen können. Die starke Teuerung und die schlechte Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkriegs hatten die Not der Arbeiterfamilien so gross werden lassen, dass es im November 1918 zu einem landesweiten Generalstreik kam, der schwersten politischen Krise seit der Gründung des Bundesstaates. In Graubünden streikten die Angestellten der Rhätischen Bahn,271 was die Pfarrerstochter direkt zu spüren bekam und im Tagebuch festhielt. Heute morgen sagte Mama zu mir: «Greti, Du musst nach Chur laufen.» Ich antwortete: «Warum, ich kann doch mit dem Zug fahren, warum laufen?» «Es fährt eben keine Bahn, nur morgens und abends Militärzüge. Die Sozialisten streiken und die andern können allein auch nichts machen.» Also entschlossen sich Käti und ich, die Reise zu wagen. Als wir beide um Viertel nach zehn Uhr am «Znüni» sassen, – das Käti und mir das Mittagessen ersetzen sollte – , hörten wir plötzlich viele Fuhrwerke vorbeifahren. Wir eilten ans Fenster und sahen Wagen, auf denen viele Soldaten sassen. Wir fragten nun, ob wir auch mitfahren dürfen. Sie liessen uns auf dem hintersten aufsitzen. Jetzt ging’s schnell nach Zizers hin. Dort wurde eine halbe Stunde Rast gemacht. Wir froren entsetzlich. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, setzte sich auch noch ein betrunkener Mann auf die hintere Bank in unserem Wagen. (…) Als wir in Chur anlangten, stiegen wir ab und bedankten uns. Wir besorgten Papas Brief und Medizin und kauften uns zwei «Schilt» [vier helle Brötchen aneinander]. Dann begaben wir uns auf den Heimweg.272
Die Kinder sahen es als Abenteuer, für die Eltern war die Situation existenziell. Die Spanische Grippe raffte 1918 in der Schweiz fünfundzwanzigtausend Menschen dahin.273 Joos Roffler lag mit vierzig Grad Fieber im Bett, die Medizin, die die Töchter in Chur holten, rettete möglicherweise sein Leben. Doch der Pfarrherr dachte nicht an den Tod. Aus dem Krankenbett schrieb er einen Leitartikel für den Graubündner General Anzeiger, dessen Redaktion er neben dem Pfarramt führte, und bezog Stellung zu den