Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
ist, wenn sie sagt: «Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, dass ich verstehen kann, wie sie es meinen.»334
Dass Schülerinnen am Gymnasium nicht vorgesehen waren, zeigte sich schon an der Kleidung auf Klassenfotos: Die Jungen trugen Schuluniform, die wenigen Mädchen Alltagskleidung, Röcke und Blusen.335 Neben Greti gab es nur eine weitere Schülerin in ihrer Klasse, die jedoch von der Pfarrerstochter nichts wissen wollte.336 In Hildi Hügli, einer Schülerin, die eine Klasse über ihr sass, fand Greti die langersehnte Freundin. Manche Leseeindrücke, die die Freundin ihr vermittelte, hielt Greti in ihrem Tagebuch unter dem Titel Sentenzen von Hildi fest.
Man kann Nietzsche überall bewundern, nur nicht, wenn er von Frauen spricht. Er kannte offenbar nur solche, die noch keine waren, oder solche die keine mehr waren.
Nietzsche proklamiert zwar – Übermenschen – aber wie sollte er von einem «Unterweib» geboren werden können?337
Die beiden Freundinnen schrieben sich auch Briefe, in denen sie einander erzählten, was sie erlebten und wie sie sich nacheinander sehnten.338 Kurz vor der Matur schwärmte Greti: Sie gab mir eigentlich erst das geistige Leben, wenigstens das kritische Denken. Ohne sie wäre ich ein einseitig unglückliches Wesen geworden.339 Hildi ermutigte die Freundin, selbstbewusster zu sein, denn Greti war schüchtern und fand ihren Mund zu schmal, die Augen zu klein, die Nase zu gross.340 Hildi hat mir drei Gebote gestellt: Ich solle mich so kämmen, dass meine schönen Haare zur Geltung kommen. Zweitens müsse ich tanzen lernen und drittens in Gesellschaften meine Scheu ablegen.341 Dem Deutschlehrer in der Maturklasse fiel Gretis Schüchternheit ebenfalls auf. Nach einem Vortrag, den sie unter Zittern gehalten hatte, empfahl er ihr: Wählen Sie ja nie einen Beruf, da Sie ein einziges Wort öffentlich sagen müssen.342
Weil sie so schüchtern war, traute sich Greti auch nicht, Kinderlehre343 zu halten, wie es sich der Vater gewünscht hätte.344 Nicht für hundert Franken würde sie die Kinder unterrichten, da konnte auch die gleichaltrige Cousine Gretly Puorger nichts bewirken, die in Winterthur Sonntagsschule erteilte und Greti ermunterte, es ihr gleichzutun. Doch Greti winkte ab: Ich habe von Natur aus eine unüberwindliche Scheu davor, aus der Verborgenheit hervorzutreten. Schon in einer Gesellschaft mit mir unbekannten Menschen werde ich ganz still und verkrieche mich in mich selbst. Ihre Schüchternheit sei nicht mit Furcht vor Menschen zu verwechseln, viel eher spüre sie eine grenzenlose Unsicherheit. Alles scheint mir so verworren, das früher so einfach und selbstverständlich war. Je weiter ich in der Schule hinaufrücke, umso mehr sehe ich, dass ich nichts weiss, dass mein Wissen immer ein lückenhaftes sein wird. Hast Du nicht auch solche Zeiten? Ich weiss nicht, was ich noch werden soll, ich weiss nicht, wo die Grenze zwischen Gut und Böse liegt345. Und nun sollte ich, die ich mit allem im Unklaren bin, andere belehren wollen? Oh nein, so vermessen bin ich nicht! 346
Greti quälte sich mit existenziellen Fragen. Wozu war sie auf Erden? Was passierte nach dem Tod? Und: Existierte Gott? Wenn sie über solche Dinge nachdachte, stritten sich Glaube und Vernunft in ihr. Mir scheint es das Wahrscheinlichste, dass es nach dem Tode kein Weiterleben gibt. Dagegen protestiert aber ein Gefühl in mir, das sich mich nicht als gar nicht mehr existierend vorstellen kann. Aber vor der Geburt fühlte und dachte, lebte man doch auch nicht. Aber wenn man an kein Fortleben glaubt, wozu dann dieses Leben? Und wenn es eines gibt, wozu dann; könnte man nicht sofort in das jenseitige kommen? Immer, immer fortzuleben, muss aber doch furchtbar langweilig werden.347 Sie drehte sich im Kreis und landete immer wieder am selben Punkt. Und doch wollte, ja, musste sie Antworten finden. Ich möchte einen Glauben, der sowohl das Herz als auch den Kopf befriedigt.348
An Hildi, die nicht an Gott glaubte, konnte Greti sich mit ihren Zweifeln nicht wenden, denn sie fürchtete, die Freundin könne ihr mit ihrer messerscharfen Argumentation den Glauben ganz nehmen.349 Umgekehrt irritierte Greti auch die Gewissheit überzeugter Gläubiger. Neidisch und zugleich befremdet begegnete sie einer Sonntagsschullehrerin, die gleichaltrig war wie sie und deren Selbstgerechtigkeit sie provozierte. Die Szene hielt sie in ihrem Lebenslauf vor der Matur fest, Adressat war ihr Deutschlehrer, der dem Glauben kritisch gegenüberstand.
Greti: Sie sind Sonntagsschullehrerin?350 Aber doch nur bei den Kleinen?
Sonntagsschullehrerin: Nein, nein bei denen, die schon konfirmiert werden.
Greti: Ja, können Sie denn das, Sie sind ja noch so jung?
Sonntagsschullehrerin: Natürlich!
Greti: Das ist doch nicht natürlich; ich könnte das nicht, weil ich alles noch bei mir sondieren muss. Meine Freundin glaubt überhaupt nichts.
Sonntagsschullehrerin: Dann müssen Sie für sie beten!
Greti: Oh nein, das tu ich nicht, das ändert bei ihr doch nichts.
Sonntagsschullehrerin: Aber Sie als die Tochter eines Pfarrers sollten braver sein.
Greti: Ach was, mein Vater besetzt für die ganze Familie Platz im Himmel, das ist dann ein grosser Saal, und alle sitzen den Wänden entlang auf Bänken und langweilen sich.
Doch der Spott half Greti nicht aus ihrem Zweifel, und so wandte sie sich an den Vater. Der wusste, dass er sie nicht mit simplen Ratschlägen für den Glauben gewinnen konnte und schlug ihr vor, sich das Leben mit und ohne Gott vorzustellen und sich dann zu entscheiden. Greti fand die Antwort des Vaters wunderbar. Sie war stolz, dass er in ihr nicht mehr das Kind sah, dem man irgend etwas einreden konnte. Die Zeit der Prügelstrafen war vorbei. Sie fasste Vertrauen. Alles, was mich bewegte, brachte ich zu ihm, und er verstand mich immer. Er war mein bester Freund geworden.351
Chur,
Sommer 1924
An dieser jungen Frau ist alles weich: Nase, Kinn, Wangen, Unterarme und auch das helle Jerseykleid, das ihre Glieder umspielt. Die Sanftheit der Züge wirkt auf den ersten Blick kindlich, doch der konzentrierte Blick, der entschlossene Mund und das modische Kleid lassen einen anderen Schluss zu: Auf dem schmalen Geländer sitzt eine Jugendliche mit eigenem Geschmack und Willen, die, obschon sie in der Provinz lebt, die Modetendenzen der Welt verfolgt. Der industriell gefertigte Jerseystoff wird für Männerunterhosen verwendet, bis Coco Chanel in den 1920er-Jahren daraus schlichte, bequeme und dennoch elegante Frauenkleider nähen lässt: Ich mache Mode, in der Frauen leben, atmen, sich wohlfühlen und jünger aussehen können.352
Greti hat in ihr Fotoalbum lediglich die Initialen gesetzt: H. H. – Bei Rektors (Chur). Hildi Hügli ist die Freundin aus der Kantonsschule. Hildi, die Greti riet, ihre schönen Haare zu betonen und tanzen zu lernen. Ein Bild der Gastgeber hat Greti nicht eingeklebt. Rektor Paul Bühler und seine Frau haben Greti und Hildi eingeladen, womöglich, weil sie zu den wenigen Mädchen an der Schule gehören. Der Rektor hat drei Söhne und ein besonderes Faible für die Kultur der Antike und für klassische Schönheit.353 Es ist Sommer 1924, Hildi hat gerade die Matura bestanden.354 Ob sie sich für den Gastgeber so schön gemacht hat, für dessen Söhne – oder für ihre Begleiterin?
Flammenkrankheit
Den Sommer 1924 verbrachte Greti in einem Mädchenpensionat im Welschland, um Kochen, Haushalten und Französisch-Konversation zu lernen. Die Mitschülerinnen stammten aus England, Norwegen, Deutschland, Italien und der Schweiz, und waren zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Für die Bündnerin war es komplett neu, ausschliesslich unter jungen Frauen zu sein. Ist das ein Leben unter diesen Mädchen! Schön sind sie die meisten, einige sogar bildschön. Bewegung ist unter ihnen. Sie küssen sich, lachen und machen einen ungeheuren Krach. Ich habe aber bereits gemerkt, dass sie hinten herum übereinander schimpfen. (…) Diese Mädchen sind ganz anders als ich, oder bin ich nur nicht gewöhnt, mit Mädchen zu verkehren?,355 fragte sie sich. Verwundert beobachtete sie das Anhimmeln, Küssen und Schmeicheln. Beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit, dann gingen zwei junge Frauen eine Freundschaft ein, die exklusiv war. Erika ist verliebt in Alice, berichtete Greti ihrer Freundin Hildi. Alice aber hatte schon, bevor Erika kam, eine Deutsche als Freundin, und sie kommt nun zu spät. Immerhin erbarmte sich Alice und gab Erika abends einen Kuss, worüber Greti sich