Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez


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Verliebtheiten unter jungen Frauen bezeichnete Greti im Tagebuch spöttisch als Flammenkrankheit.357 Die Beziehungen zu Jungen und die zu Mädchen beschrieb sie in ähnlichen Worten, sie sprach von Freundschaft, Verliebtheit und Liebe, von Küssen und Tränen, von wilder Sehnsucht und Eifersucht. Immer gab es ein Gebot der Exklusivität: So wie es undenkbar war, mit zwei Jungen gleichzeitig zu gehen, so konnte ein Mädchen auch nicht zwei Freundinnen zugleich haben. Trat eine zweite auf den Plan, versicherte sich das ursprüngliche Freundinnenpaar gegenseitig ihrer Bedeutung füreinander. Kannst Du Dich noch erinnern, dass ich zu Dir sagte: Wenn ich erfahren würde, dass ich Dich noch mit einem andern Mädchen teilen müsste, würde ich es nicht ertragen können?,358 wollte Greti von Hildi wissen. Trotz Verwandtschaft in der Wortwahl störte die Freundschaft zu einem Jungen diejenige zu einem Mädchen jedoch nicht. Beide konnten nebeneinander ­bestehen.

      In der spärlichen Freizeit im Mädchenpensionat widmete sich Greti lieber ihren Büchern anstatt einer Liebschaft. Mich hat die grosse Lernwut ergriffen. (…) Jeden Tag müssen zwanzig Seiten Rousseau ge­lesen werden.359 Kein Wunder, galt sie zunächst als richtige, brave Pfarrerstochter.360 Doch seit sie bei einem Abendessen alle zum Lachen gebracht hatte, wurde sie scherzhaft nur noch die missratene Pfarrerstochter genannt. Und schliesslich fand auch Greti eine Flamme im Mädchenpensionat. Wer hätte das geglaubt! Ich glaube ganz sicher, die Flammenkrankheit ist ansteckend. Ich habe nämlich eine Flamme für Trudy Gassmann.361 Ich liebe sie, weil sie so schneidig und stark ist.362 Auch Trudy fand Gefallen an Greti. Sie liebt alle Bündner. (…) Und als sie heute Abend den letzten Tanz mit mir tanzte, sagte sie, sie liebe mich, weil ich so offen sei.363 Doch Gretis Flamme überdauerte die Sommerferien nicht. Die Flammenkrankheit war ein Fieber, das im Internat besonders schnell entflammte, zum Ende der Pensionatszeit aber ebenso rasch wieder erlosch. Gretis wahre Liebe galt Hildi, der Schulfreundin aus Chur.

      Im Nachlass finden sich nur noch einzelne Seiten aus Gretis beiden ersten Jugendtagebüchern. Vor ihrem Tod steckte sie die Fragmente in einen Umschlag, den sie ins dritte Tagebuch legte. Offenbar war es ihr wichtig, genau diese Bruchstücke aufzubewahren. Dazu gehörten die Aufzeichnungen zum Generalstreik und ein Gedicht, das Hildi der Freundin 1923, im letzten gemeinsamen Sommer, bevor sie aus Chur wegzog, ins Tagebuch schrieb.

      DIE FREUNDIN

      Deine Briefe haben goldenen Rand

      Und steht viel Törichtes drin!

      Doch über das weisse Linnen hin

      Ging Deine schmale Hand.

      Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin,

      Da heut Deinen Brief ich fand.

      Ist doch Dein ganzes Herz darin

      Vertrauens Unterpfand.

      Deine Briefe haben goldenen Rand

      Gleich wie Dein krausbraun Haar

      Als die Sommersonne ihr Licht so klar

      auf Dich herniedergesandt,

      Damals, als Du am Flussesrand

      schlank lagst im feuchten Sand,

      Da Dich, halbnackt am wellgen Strand

      Mein heisser Blick verschlang.

      Deine Briefe haben goldenen Rand

      Wie Dein Ringlein mit rotem Rubin,

      Das du gleich einer Königin

      Trägst an der schmalen Hand.

      Du ahnst wohl nicht, wie schlecht ich bin,

      Du Kind aus Märchenland!

      Doch Dein schlanker Leib, Dein Herz, Deine Hand,

      S’liegt all mein Glück darin.

      Aug. 1923

      Eigentlich war es nicht dazu bestimmt, in diesem Tagebuch zu stehen. Aber nun – basta.

      H. Hügli364

      1924, ein Jahr früher als Greti, machte Hildi Matur und zog zum Studium nach Bern. Ich suche überall Hildi und sehe sie um jede Strassen­ecke biegen und bin doch allein,365 schrieb Greti im Tagebuch, und an Hildi: Im Nebenzimmer spielen Mama und Käti Klavier und Geige, und in jedem Ton liegt die Sehnsucht nach Dir.366

      Doch die Freundschaft zu Hildi, die Greti so viel bedeutete, wurde jäh unterbrochen. Im Dezember 1924 verbot der Vater Greti jeden Verkehr mit der Freundin. Das Machtwort kam für sie aus heiterem Himmel. Hildi zu verlieren, war unvorstellbar. Als ich ihn nach dem Grunde des Verbotes fragte, antwortete er, sie bedeute für mich die grösste Gefahr. Darauf verlangte ich zu wissen, wieso er so plötzlich dazu gekommen, nachdem er zwei Jahre lang unsere Freundschaft ruhig mitangesehen. Er antwortete, er könne mir die Quelle seiner Befürchtungen nicht nennen, worauf ich ihn beschuldigte, heimlich Hildis ­Briefe gelesen zu haben. Er verteidigte sich mit keinem Wort, sondern sagte nur: «Du lieferst damit ein Geständnis!» (…) Am meisten schmerzte mich, dass mein Vater nicht offen war und nicht einfach sagte: Sie soll das und das getan haben. Weisst Du davon und wie stellst Du Dich ­dazu?367 Der Verdacht des Vaters, seine Tochter und Hildi hätten eine sexu­elle Beziehung, war unaussprechlich, und auch Greti wagte es nicht, ihn beim Namen zu nennen. Statt dessen betonte sie, als sie sich später an Hildi erinnerte, den nicht körperlichen Charakter ihrer Freundschaft: Wir gingen nie Arm in Arm, wie die Mädchen es sonst zu tun pflegen, und küssten uns auch nie.368

      In ihrem Tagebuch liess Greti ihrer Wut auf den Vater freien Lauf. Was soll Dein Verbot nützen?, schrieb sie sich in Rage. Gedanken sind zollfrei, und ich werde täglich, stündlich an sie denken müssen.369 Was hatte ihn überhaupt auf seinen Verdacht gebracht?370 Diese Frage beschäftigte sie mindestens ebenso sehr wie das väterliche Verbot an sich. Nach der Standpauke kam der Vater nicht mehr auf das Thema zu sprechen. Greti war froh darum. Im Tagebuch hielt sie fest, was sie ihm hätte sagen wollen: Siehst Du, unser Briefwechsel war so eine Art Beichte, und wir legten so alles Böse ab, nachdem wir es niedergeschrieben.371 Zwischen Moral und Verderben, Fantasie und Realität lag nur eine feine Linie. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem, was die Freundinnen dachten und dem, was sie taten, gab es nicht: Meistens waren es nur Gedanken, notierte Greti in ihrem Tagebuch. Meistens.

      Erstaunlich offen beschrieb Greti die Episode in ihrem Curriculum Vitae zu Händen des Deutschlehrers vor der Matur. Womit auch immer der Vater ihr drohte, sie würde ihrer Freundin treu bleiben. Sie und der Vater seien schliesslich auch nicht frei von Sünde. Ich muss zu ihr halten; denn ich verdanke ihr zu viel, und wenn wir uns die Mühe nehmen wollten, vor unserer eigenen Türe zu kehren, würden wir vielleicht dort genug Unrat finden und sie ihre Sachen ­allein «auskäsen» (lösen) lassen. Ich denke auch keinen Augenblick daran, ein Urteil zu fällen. Ich bin im Gegenteil dem Schicksal dankbar dafür, dass es mich nicht in Versuchung geführt (…)372. Dem Vater zu gehorchen und den Kontakt zu Hildi abzubrechen, kam für sie so oder so nicht in Frage. Ich hätte mich selbst verachten müssen, wenn ich jetzt abgebrochen hätte. Ja, ich liebte sie noch mehr als vorher, denn meine Liebe wurde angetan mit dem Märtyrerstrahlenkranz.373

      Als Greti ein Jahr nach Hildi die Matura machte, wagte sie es allerdings nicht, den Vater zu fragen, ob sie wie die Freundin in Bern studieren dürfe.374 Aus der innigen Verbindung wurde eine Brieffreundschaft, die die beiden auch dann noch aufrecht erhielten, als Hildi einige Jahre später mit ihrem Mann nach Amerika zog und eine Familie gründete. Sie wurde Dozentin, er Professor an der Universität von Chatanooga (Tennessee). Bis ins hohe Alter schrieben sich die beiden Freundinnen.

      Möglicherweise wäre Joos Roffler ebenso eifersüchtig gewesen, hätte er entdeckt, dass seine Tochter einen Mann liebt. Schliesslich reagierte er auch auf Gian, der kurze Zeit später in Gretis Leben trat, mit Eifersucht. Fest steht jedoch auch: Die Selbstverständlichkeit, mit der Greti und ihre Freundinnen Frauenbeziehungen lebten, teilte er nicht. Damit war er ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, während in der Flammenkrankheit der Internatsschülerinnen die Kultur romantischer Frauenfreundschaften des neunzehnten Jahrhunderts nachzuwirken scheint. Die österreichische Historikerin Hanna Hacker stellt fest, dass innige Verhältnisse jedenfalls unter bürgerlichen und adeligen Frauen mindestens bis ins späte neunzehnte Jahrhundert kulturell


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