Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
Smith-Rosenberg, die Frauenbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert in Nordamerika anhand von Briefen analysiert hat, schreibt: Die wesentliche Frage ist nicht, ob diese Frauen Geschlechtsverkehr miteinander hatten und so als hetero- oder homosexuell definiert werden können. Die Tendenz des zwanzigsten Jahrhunderts, Liebe und Sexualität im Rahmen einer dichotomisierten Welt von abweichendem und normalem Verhalten, von genitaler und platonischer Liebe zu sehen, ist den Gefühlen und Einstellungen des neunzehnten Jahrhunderts fremd und vermittelt ein von Grund auf verzerrtes Bild von den emotionalen Beziehungen dieser Frauen. Diese Briefe sind wichtig, weil sie uns zwingen, solche Liebesbeziehungen in einem bestimmten historischen Kontext zu situieren.376 Ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen sich Ärzte und Psychiater mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu beschäftigen und entwickelten den Begriff Homosexualität. Diese neue öffentliche Aufmerksamkeit brachte betroffene Frauen – und Männer – in die Defensive.
Dreissig Jahre, bevor Greti ihre Freundschaft zu Hildi rechtfertigte, hatte sich eine andere Bündnerin gegen ähnliche Vorwürfe gewehrt: Meta von Salis, geboren 1855 im Schloss Marschlins in Igis, anderthalb Kilometer vom Pfarrhaus entfernt, in dem Greti später aufwuchs.377 Als junge Erwachsene pflegte die Adlige eine schwärmerische Freundschaft zur Deutschen Theo Schücking. Die beiden Frauen besiegelten ihre Beziehung mit Blut und einem Ring und malten sich ein gemeinsames Leben aus. Ihre Wege trennten sich allerdings bald.378 Kurz darauf begegnete Meta von Salis an der Universität Zürich, wo sie später als erste Frau in Geschichte promovierte, der Fotografin Hedwig Kym, Tochter des Professors Ludwig Kym.379 Meta und Hedwig wurden Freundinnen fürs Leben. Sie unternahmen zahlreiche Reisen miteinander und waren in der Frauenbewegung aktiv.380 Auch andere ledige Akademikerinnen ihrer Generation lebten als Freundinnen zusammen, etwa die Ärztin Caroline Farner und ihre Lebensgefährtin Anna Pfrunder. Meta von Salis beschrieb die Frauenfreundschaft als Phänomen ihrer Zeit.
Solange die Frau eine abhängige, gänzlich von der Familie bestimmte, in ihr begrenzte Stellung einnahm, konnte Freundschaft in dem weiten und tiefen Sinn (…) bei Frauen gar nicht aufkommen. Sie entstand nicht, weil ihr die Lebensbedingungen, Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit fehlten. Kaum waren diese durch die berufliche Ausbildung und um sich greifende Befreiung der Frauen von männlichen Vormündern, Brüdern und Schwägern gegeben, so zeitigten sie auch die köstliche Frucht der Freundschaft à toute épreuve zwischen Frauen.381
Diese Freundinnenpaare waren gesellschaftlich respektiert – solange sie niemandem in die Quere kamen. Als Caroline Farner und Anna Pfrunder Mitte der 1880er-Jahre zwei Waisenkinder aus Pfrunders Verwandtschaft bei sich aufnahmen, zerrte sie ein Onkel der Kinder vor Gericht: Die Frauen hätten es nur auf das Vermögen der Waisen abgesehen. Im Prozess, der sogar in Deutschland wahrgenommen wurde,382 kam es zu einer Schlammschlacht gegen Caroline Farner. Der Kommentator der NZZ diffarmierte die Ärztin aufgrund ihres Äusseren. Dr. med. Karoline Farner erscheint mit Herrenkragen und weiter Krawatte383, das kurzgeschnittene Haar in der Mitte gescheitelt und auf die Stirn vorfallend. (…) Ihr durchaus männlich gebildetes Gesicht zeigt dabei den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit.384 Meta von Salis verteidigte ihre Freundin in einer achtzigseitigen Broschüre mit dem Titel Der Prozess Farner – Pfrunder. Darin wehrte sie sich gegen den impliziten Vorwurf, die Frauen führten eine sexuelle Beziehung – und versuchte unausgesprochen auch sich und Hedwig Kym als keusch darzustellen.
Dass eines der entsetzlichen Entartungsgebilde der Hyperkultur auch den Namen Freundschaft trägt, ist zu bedauern, aber die beiden zu verwechseln, wird nur einem mit den raffiniertesten Lastern vertrauten Gesellen gegeben sein. Das Giftgeschwür heftet sich an die Existenzen beschäftigungs- und interesseloser, überreizter Genussmenschen, die keusche Blume der Freundschaft385 entspringt dem Boden einer arbeitsfrohen, pflichttreuen Lebensführung.386
Giftgeschwür, Entartungsgebilde, Hyperkultur: Meta von Salis benutzte Begriffe, die die körperliche Liebe zwischen Frauen als entsetzliche Seuche, genetischen Defekt oder Zivilisationskrankheit darstellten. Ihr Vokabular erinnert an zeitgenössische rassistische und antisemitische Schriften. Tatsächlich las die Bündnerin die Bücher des französischen Rassentheoretikers Arthur de Gobineau.387 Mit den Rassentheorien untermalten Aristokratinnen wie Meta von Salis ihre Machtansprüche, die in der Demokratie an Legitimation verloren hatten.
1904 verkaufte Meta von Salis Schloss Marschlins ihrem Cousin, dem Rechtsprofessor Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, und war nur noch sporadisch zu Besuch auf dem Anwesen. Sie liess sich und Hedwig Kym auf der italienischen Insel Capri eine Villa bauen.388 Meta von Salis war damals knapp fünfzig Jahre alt, Greti wurde erst zwei Jahre später geboren. Der neue Schlossbesitzer amtete lange Jahre als Kirchgemeindepräsident von Igis389.
Maria Metz, geb. 1935, Tochter von Gretis Schwester Käti
Meine Mutter erzählte ab und zu von den Einladungen im Schloss Marschlins. Die Kinder (also Greti und ihre Geschwister) mussten sich in Gala stürzen und nobel tun. Sie gingen nicht gern dorthin, weil sie im Schloss nichts anfassen durften. Sie mussten ruhig dasitzen und darauf achten, dass sie richtig assen. Meta von Salis sass manchmal auch mit am Tisch. Die Kinder verstanden nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Was sie begriffen: Dass Meta von Salis eine hochgescheite Frau war.390
Igis,
Februar 1931
Ein Neugeborenes liegt nackt auf der Waage. Trotz der untergelegten Windel ist die Waagschale hart. Eben noch hat es auf dem weichen Kissen gelegen. Irritiert über den Vorgang, sucht es Kontakt zur Mutter, doch sie ist mit der Waage beschäftigt. Sechsmal am Tag legt sie das Kind auf die Schale, um sicherzugehen, dass es genug zunimmt. Kein Wunder, muss sie genau auf die Skala schauen, um die Gewichtszunahme von einer Wägung zur nächsten zu registrieren. Obschon das Kind reichlich Babyspeck hat – bei der Geburt ist es fast anderthalb mal so schwer wie ein durchschnittliches Neugeborenes –, sorgt sich die Mutter permanent um sein Gewicht und führt akribisch Buch über die Trinkmengen. Von Anfang an misst sie das Kind an vorgegebenen Normen. Entspricht es ihnen nicht, ist das für die Mutter ein Grund zur Beunruhigung. Ihre Sorge kann sie nicht unmittelbar mit dem Vater des Kindes teilen. Er ist noch in Brasilien, ihre Briefe dorthin sind mindestens zwei Wochen unterwegs. Brüderlein, ich glaube, es ist niemand so ein Angsthase wie eine Mutter. Wenn ich keine Waage hätte, würde ich es ja gar nicht merken. Das wird dann391 etwas für Dich. Statt Holzklötzlein kannst Du dann Deinen Sohn wägen.392
Später wird sich Enkel Andres daran erinnern, wie er seinen Grosseltern Gian und Greti im Altersheim stolz seinen Erstgeborenen präsentierte, ihren dritten Urenkel. Beide beugten sich über das Baby. Nani sagte nur: Nennt ihn ja nicht Dominic, er heisst Gian Domenic. Und Neni schaut das Kind an und beginnt gleich mit ihm zu spielen.393
Einsame Geburt
Igis, Pfarrhaus, Januar 1931. Tag um Tag verging, und jeden Tag verlor Greti Fruchtwasser.394 Immer wieder hatte sie Schmerzen in der Gebärmutter.395 Dr. Jeklin untersuchte sie und stellte fest, dass das Kind in Steisslage lag. Sie sehnte sich nach Gian und war doch froh, dass er sie in diesem Zustand nicht sah. Liebes, sei Du froh, dass Du nicht hier bist. Es wäre schwer für Dich, untätig meine stumpfe Verzweiflung zu sehen. Tagsüber, im hellen Sonnenschein, geht es, aber wenn es anfängt zu dunkeln und ich immer müder werde, dann muss ich allein sein, stehe in der dunkeln Stube und starre hinaus gegen die Berge, von denen noch ein mattes, blauweisses Licht fliesst.396
Sie mochte nicht müssig herumsitzen und nutzte die Zeit, um an einem Berufsbild für Theologinnen zu arbeiten.397 Darin wollte sie nicht nur begründen, warum sie Frauen für ebenso geeignet hielt wie Männer, um Gottes Wort zu verkünden, sondern auch einen Überblick über die Fortschritte in Sachen Pfarramt für Frauen geben. Sechs Tage nach dem Blasensprung spürte sie beim Erwachen Wasser zwischen den Beinen. Am Freitag morgen fing es an so stark zu gehen, dass ich unserem Kleinen vier Windeln einweihte.398
Ungeduldig wartete Greti auf die Morgenpost, die die Basler Nachrichten brachte.399 Darin fand sie den ersehnten Bericht der Synode: Verwendung der Frau im Kirchendienst400 war der zweispaltige Artikel überschrieben, der die Debatte ausführlich