Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
und nun mit brutaler Gewalt agierten. Ist das nicht ein frevelhaftes Spiel, das da zum Schaden des ganzen Volkes getrieben wird von Männern, die einer gläubigen Menge vorgaukeln, gute Demokraten zu sein und doch bis über die Ohren in anarchistischen Anschauungen drinstecken?274 Die Methoden der Streikenden verurteilte er, ihre Forderungen hingegen unterstützte er. Es sind teilweise Postulate, zu denen man mit ganzem Herzen stehen kann. Wir nennen nur die Alters- und Invalidenversicherung. Zu deren Durchführung soll aber der gesetzliche275 Weg betreten werden. Zur Forderung nach dem Frauenstimmrecht schwieg er.
Dafür hatte er sich kurz zuvor dezidiert zum kirchlichen Frauenstimmrecht geäussert, über das in Graubünden am 13. Oktober 1918 abgestimmt worden war. Mit Verve hatte er die reformierten Männer dazu aufgerufen, ein Ja in die Urne zu legen. Die Frau als die erste Pflegerin des erwachenden religiösen Lebens im Kinde und als der nach seiner Gemütsanlage ganz besonders empfängliche und zahlreichere Teil der Kirchenbesucher hat entschieden ein Recht darauf, in kirchlichen Dingen, wie z. B. bei Pfarrwahlen, bei Entscheidungen über die Ausgestaltung des kirchlichen Unterrichts und dergleichen auch gehört zu werden. Die Befürchtung, solche Mitarbeit könnte sie ihrem eigentlichen Berufe als Mutter, als Erzieherin der Kinder entziehen oder gar entfremden, hat sich in den Gebieten der Schweiz und anderer Länder, welche darüber zum Teil schon langjährige Erfahrungen besitzen, als unbegründet erwiesen.276 Dass de facto erst Bern und Basel das kirchliche Frauenstimmrecht eingeführt hatten, und das auch erst vor wenigen Monaten,277 verschwieg er. Stattdessen stellte er das Stimmrecht als logische Konsequenz eines lang zuvor gefällten Entscheids dar. Schon längst haben wir zur Gleichstellung der Frau den ersten Schritt getan mit Einführung der gleichen Schulpflicht für Knaben wie Mädchen. Das hat seinerzeit ganz ähnliche Bedenken gerufen wie jetzt die Forderung des Frauenstimmrechts.278
Für Joos Roffler waren die Weichen gestellt. Das Abstimmungsresultat schien ihm Recht zu geben: Die reformierten Männer Graubündens nahmen das Frauenstimmrecht in den Kirchgemeinden mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen an. Ein klares Resultat, möglicherweise begünstigt durch den Umstand, dass kaum ein Wahlkampf stattgefunden hatte.279 Wegen der Spanischen Grippe waren Gottesdienste und Versammlungen teilweise verboten, und das Abstimmungsmaterial hatte die Stimmberechtigten erst wenige Tage vor dem Urnengang erreicht. 280Mit derlei Spitzfindigkeiten hielt sich Joos Roffler nicht auf. Er dachte weiter. Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man es ebenso selbstverständlich findet, dass die durch die Schule dem Manne ebenbürtig ausgebildete Frau diese Bildung auch gleich dem Manne frei betätigt.281 So wie Schulpflicht und kirchliches Stimmrecht nun eine Tatsache waren, würde den Frauen auch bald das Recht auf Berufstätigkeit eingeräumt, und somit den Theologinnen auch das Recht, als Pfarrerinnen zu amten.
Zwölf Jahre später, als seine älteste Tochter ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte und in ihrem Elternhaus der Geburt ihres ersten Kindes entgegensah, war Joos Rofflers Vision noch weit entfernt davon, Realität zu werden. Dass Theologinnen nach geltendem Recht kein Pfarramt übernehmen durften, war das Eine. Dass aber nicht einmal die Frauen sich eine Frau auf der Kanzel vorstellen konnten, war für Greti im Oktober 1930 eine bittere Erkenntnis. Hoffnungsvoll war sie von Igis nach Chur gefahren, froh um die Abwechslung von ihrem Alltag als werdende Mutter im Pfarrhaus bei den Eltern und Geschwistern. Ihre Freundin Verena sprach auf Einladung des Vereins Junge Bündnerinnen über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst.282 Das Referat begeisterte Greti, doch die andern Frauen im Saal teilten ihren Enthusiasmus nicht. Ich habe nicht gewusst, dass ich einem Verein angehöre, dessen eine Tendenz ist, die Frau ins Haus zurückzuführen!!283
In ihrer Wut sah sie sich die Koffer packen und nach Brasilien zurückkehren. Doch dann erwachte ihr Kampfgeist. Wo sogar die Frauen so rückwärtsgewandt dachten, war ihre Arbeit umso nötiger. Sie schrieb an Gian: Zunächst gilt es, ihnen einfach die Möglichkeit, Frau und Mutter und Beruf zu vereinen, vorzuleben. Dass dazu vor allem ein ganz fabelhafter Mann gehört, daran wird nie gedacht, aber für mich bist Du deswegen doch der tragende Grund, ich weiss es doch. Der Mann wird von ihnen überhaupt nie zur Familie gerechnet. Die Mutter und Kinder mehr ins Haus!! Vom Vater wird nicht gesprochen, der hat das Geld zu bringen.284
Greti wusste wohl, wie unerhört ihre Ideen waren. Nachts im Traum holten ihre Ängste sie ein. Ich hatte eine Mathematikklausur, lag aber auf einem Bett, in einem anderen lagen285 der Professor und ein paar Schüler, wir waren alle angekleidet. Ich hatte Mühe, mit der Arbeit zurechtzukommen: ein Kind kletterte zu mir ins Bett, ich warf es hinaus, es kletterte noch einmal herein, und ich warf es wieder hinaus. Dann erwachte ich und erschrak: was war dies anderes als der Konflikt zwischen meiner Arbeit und «ihm». Dass ich aber so unbereit für «es» sei, hatte ich nicht gedacht.286
Ihre Freundin Verena konnte Gretis Zwiespalt gut nachfühlen. Ja, ja, mein Liebes, ich muss auch immer und immer wieder denken, ob es nicht Hybris ist, was wir uns da zumuten, ob wir es eigentlich eben doch nicht können. Aber: Das Wort ward Fleisch. Was nützt uns denn unser Glaube, wenn ein Leben von Gott her nur denen möglich ist, die sich doch mehr oder weniger gründlich vom Leben mit seinen Ansprüchen gerettet haben? Nein, im Leben und in unserem Beruf und in der Ehe stehend müssen wir verkünden, müssen gerade von den Dingen reden, über die man sonst gewöhnlich schweigt und die für gewöhnlich mit so viel Lügen umgeben sind, eben weil die, die von ihnen reden könnten, ihnen zu ferne stehen und daher auch schweigen: den Beziehungen zu den andern Menschen!287
Zunächst galt es für Greti, die kommenden Wochen und die Geburt zu meistern. Sie war froh, nicht mehr im subtropischen Klima São Paulos zu sein. Husten, Augenprobleme, Blasenentzündung – während des Jahres in Brasilien war sie kaum je gesund gewesen. Zum Arzt ging sie nun nicht, weil sie krank war, sondern um ihn nach den Möglichkeiten einer schmerzfreien Geburt zu fragen. Auch Doktor Jeklin hatte vom Rezept des Leipziger Mediziners gelesen und war bereit, das Medikament an Greti auszuprobieren.288 Die Suche nach einer Hebamme gestaltete sich hingegen schwierig. Eine stand selber kurz vor der Niederkunft, eine andere musste ihren kranken Vater pflegen.289 Nach Chur ins Spital wollte Greti nicht. Der dortige Arzt, Doktor Müller, galt als unfein und grob. Er war Greti schon zum Vornherein so unsympathisch, dass sie sich vor ihm nicht einmal ausziehen mochte. Ich kann doch nicht in einer Wut auf den Arzt Dein Kind gebären,290 erklärte sie Gian. Dass er bei der Geburt nicht dabei sein würde, erfüllte sie mit Schmerz. Dein Ätti hatte bei Elisabeths Geburt Dein Mami in seinen Armen gehalten. Es ist wohl unmöglich, dass Du in zwei Monaten bei mir bist! Wenn ich meinen Kopf an Deiner Brust bergen könnte, wollte ich am liebsten gar niemand sonst um mich haben. (…) Ihr beiden Caprez habt es los, mich warten zu machen, Du schon lange und das Kleine nun auch.291
Auch bei den Schwiegereltern in Pontresina verbrachte Greti einige Tage. Gians Mutter heizte ihr das Zimmer und bereitete ihr warme Bäder. Greti genoss es, umsorgt zu werden und bis neun Uhr zu schlafen. Noch dampfend vom Bad lag sie im Bett, das Fenster geöffnet, so dass sie den Brunnen hören konnte.
Pontresina, 8. November 1930
Geliebtes Du,
Ich schlafe im fünf, wo Du einmal eines Morgens früh auf meinem Bettrand gesessen. Zimmer vier ist zu einem gemütlichen Arbeitsstüblein geworden. Liebes, es war anfangs etwas merkwürdig für mich, hier in Deinem Elternhaus zu sein, ohne Dich, und überall Spuren von Dir zu finden. (…) Es ist alles so unglaublich gesichert, ruhig und ohne Sorgen. Sie haben sich vollkommen ausgesöhnt mit meiner Existenz. Wir haben auch nicht die kleinste Meinungsverschiedenheit. Geliebter, es ist ja gut so; dass sie im Grunde unmöglich das billigen können, was ich vertrete, darüber braucht man ja nicht zu sprechen.(…) Ich bin sonst das Nachgeben jetzt schon ordentlich gewöhnt oder tue wenigstens dergleichen.292
Gians Vater war zwar so aufgeschlossen, seine Tochter in einen Fahrkurs zu schicken, so dass sie zu den ersten Autolenkern im ganzen Kanton gehörte.293 In Bezug auf Gretis Ambitionen jedoch schien er die Skepsis seiner Frau zu teilen.294
Gians Verwandte und Bekannte wollten die Schwangere sehen. Für Greti waren es oft Höflichkeitsbesuche. Mit Grauen begegnete sie Tante Ghita, deren Begrüssungsküsse sie nicht ausstehen konnte. Als sie sich bei der Schwiegermutter beklagte, Gian müsse sich von ihrer Verwandtschaft auch nicht verküssen lassen, antwortete die, bei den Männern sei dies halt anders. Diesen Unterschied wollte Greti nicht akzeptieren. Weisst Du, fragte sie Gian rhetorisch, warum