Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez
nicht geben. Aber Name ist Schall und Rauch. Wie der Mensch ist, ist die Hauptsache.424 Für beide Grosselternpaare war Gian Andrea das erste Enkelkind. Sie nannten es liebevoll Hans-Hühnchen und wussten sich nicht zu fassen vor Freude.425
Die Erziehung war für Greti vom ersten Tag an ein Kampf. Gemäss der modernsten Säuglingspflege sollte eine Mutter ihr Kind alle vier Stunden stillen, angefangen um sechs Uhr früh. Um zehn Uhr abends gab sie ihm die letzte Mahlzeit, danach für acht Stunden nichts mehr. Hebamme Anny blieb die ersten drei Wochen nach der Geburt im Pfarrhaus und unterstützte Greti dabei, den Stillrhythmus einzuhalten. Die Grossmütter zeigten sich skeptisch, ein solch strenges Regime war ihnen fremd. Doch Greti wollte das Kind früh ans Durchschlafen gewöhnen.426 Es sei ja zum Besten für alle, rechtfertigte sie sich vor Gian. Wenn die beiden Nanis erzählen, dass sie bei ihren Kindern ein ganzes Jahr jede Nacht fünf bis sechsmal aufgestanden seien, so will ich lieber jetzt noch ein paar Nächte das Geschrei und die Bächlein meiner Milch, dafür aber nachher Ruhe für mich, Dich und es.427
So leicht, wie Greti gehofft hatte, gewöhnte sich Gian Andrea allerdings nicht an die Stilldisziplin. Hans-Hühnchen versucht es noch jede Nacht, unsere Herzen zu erweichen, berichtete sie Gian am vierten Tag nach der Geburt. Aber weder die «Gluggeri» noch die Mutter sind barmherzig. Sie schweigen, wenn sie auch nicht schlafen können. Freilich wenn man bedenkt, dass er von vier bis halb sechs brüllt, schmatzt und mit offenem Mäulchen in der Luft herumfährt, es an seinen Fäustchen und dem Kopfkissen versucht und unterdessen aus der übervollen Brust der Mutter zwei Bächlein rinnen, so ist dies viel geopfert für den Götzen Erziehung.428 Sie fühlte sich ohnmächtig, und in ihr regten sich leise Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Doch dann riss sie sich zusammen. Es muss werden, wir müssen es zum Durchschlafen, zu acht Stunden Ruhe bringen.429
Am sechsten Tag war Greti der Verzweiflung nah. Das Kind brüllte nachts immer noch zwei Stunden, obschon es tagsüber viel trank. Sie befürchtete, die Erziehung werde so nie gelingen.430 Die Nächte waren eine Qual, und auch tagsüber kam Greti nicht zur Ruhe. Der Besuch gab sich die Klinke in die Hand, Gians Mutter hatte sich gleich für mehrere Tage einquartiert. Sie sehnte sich danach, zwei Tage am Stück ganz allein zu sein mit dem Kind.431 Nur über den Besuch ihrer Freundin Verena freute sie sich. Verena, die Weggefährtin, mit der Greti alles besprechen konnte, was sie bewegte: die Arbeit als Theologin, Ehe und Mutterschaft und die Möglichkeit, alles miteinander zu verbinden.
Die beiden waren schon einen langen Weg zusammengegangen. Während des Studiums hatten sie es beide nicht für möglich gehalten, Pfarramt und Familie zu vereinbaren, und im Sommer 1928 hatten beide eine Entscheidung getroffen, die sie für definitiv hielten. Verena wählte die Berufung und trennte sich von ihrem Liebsten, Greti stand kurz davor, das Studium aufzugeben und zu heiraten. Jede bewunderte die andere für ihre Klarheit und versuchte, sie gleichzeitig für die eigene Überzeugung zu gewinnen. In ihren Briefen hielten sie Zwiesprache.
Greti: Wovon träumst denn eigentlich Du, wenn Du träumst? (…) Verena, ich möchte Dich einmal lieben sehen, ganz und ehrlich. Es wäre auch Dir Erfüllung, nicht Erfüllung des demütig liebenden Weibes, aber Erfüllung Deines Menschen, wie es eben auch ein jedem Manne Erfüllung seines Menschen ist.432
Verena: Ich glaube schon, dass die Ehe eine Erfüllung ist. Aber sie ist nicht die Erfüllung des Lebens. Ich denke, für den Christen wird das selbstverständlich sein. Die Ehe, die wirkliche Ehe, ist nichts Naturhaftes, sondern etwas Geistiges433, und deshalb ist sie (…) auch irgendwie Berufung.434
Greti: Was nützt es denn, dass wir diese Ideale haben, wenn der, den wir lieben, nicht so viel verdient, dass wir eine Magd haben können, denn zum Weibtum gehört das Putzen und Windelnwaschen. «Die Dinge sehen, wie sie sind.»435
Verena: Du musst nicht denken, dass ich meinen Weg für eine Lösung der Frauenfrage halte. Das wäre eine höchst verzweifelte Lösung oder vielmehr der grundsätzliche Verzicht auf eine Lösung. (…) Die Lösung der Frauenfrage (…) kann meines Erachtens nur darin liegen, dass es immer mehr auch der im Beruf stehenden Frau ermöglicht wird, zu heiraten.436
Greti: Dass es Dir schwer wird, Deine Kraft, die Du doch für so unendlich Wichtigeres und Grösseres einsetzen kannst, für solche Dinge zu brauchen, begreife ich wohl.437 Die Frage «Frau und Studium» löst sich mir eben so, dass ich mein Leben in die Hand Gottes gegeben.
Verena: Ich glaube, dass auch die Theologie noch weiter irgendwie einen Anspruch an Dich hat. Siehst Du, es ist doch etwas vom Allerwichtigsten438, dass es innerhalb der Ehe, gerade unter den Hausfrauen, Menschen gibt, die nicht darin aufgeben.439 Dann werden die Grenzen, die Du Deiner Wirksamkeit als Frau steckst, schon nicht zu enge werden, auch wenn Du gar nichts Theologisches mehr treibst. Wir brauchen Dich, Dein Mitwissen, Deine Teilnahme, Dein Verständnis.440
Schliesslich hatten sie beide, jede für sich, gespürt, dass eine Beschränkung auf das Eine oder das Andere nicht das Richtige wäre. Verena war zu Walter zurückgekehrt, Greti hatte weiter studiert. Und irgendwann war in ihnen die Überzeugung gereift, dass Ehe und Beruf zu vereinen sein müssten, und dass, wenn andere es nicht für möglich hielten, sie es ihnen beweisen würden. Nun, da sie Abschluss und Trauschein441 besassen, standen sie vor der Frage, wie sie ihre Utopie verwirklichen konnten. Verena träumte davon, mit ihrem Mann zusammen ein Pfarramt zu übernehmen. Zusammen hatten sie sich in Hundwil im Hinterland des Kantons Appenzell Ausserrhoden beworben – er als Gemeindepfarrer, sie als seine Mitarbeiterin. Zunächst sah es eigentlich gut aus für sie. Der Kirchenvorstand zeigte sich offen, wollte aber vor der Zusage die Meinung der Kantonalkirche einholen.442 Der Kirchenrat und die Synode reagierten positiv, mahnten aber, die Theologin dürfe nicht zu oft predigen. Zu weit wollte man nicht gehen, ein halbes Pfarramt solle in Hundwil nicht entstehen. Trotz dieses verheissungsvollen Signals entschied sich die Kirchgemeinde schliesslich für einen Pfarrer, der im Dorf schon länger bekannt war.443 Zur Zeit versuchten es Verena und Walter im glarnerischen Mollis, wo die Pfarrstelle schon länger verwaist war.444 Grosse Chancen rechnete sich Verena jedoch nicht aus.
Greti betrachtete Verena, die an ihrem Bett sass. Sie war bis jetzt immer influenzakrank. Sie hat auch ganz magere Hände. Überhaupt ist sie müde und deprimiert.445 Offensichtlich zermürbte der Kampf die Freundin. Doch sie war zäh. Den Kopf in den Sand zu stecken, kam für sie nicht in Frage, auch darin waren sich die beiden Frauen ähnlich. Verena liess keine Gelegenheit aus, für ihre Sache zu weibeln. Ihren Vortrag über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst konnte sie an vielen Orten halten, und er stiess auf grosses Interesse. Diskutierte irgendein kirchliches Gremium über die Zulassung von Pfarrerinnen, nahm Verena dazu Stellung, in einem direkten Brief an die Verantwortlichen oder einem Leserbrief.446 Ausserdem wollte sie den Austausch unter Kolleginnen fördern. Vor Kurzem hatte sie die Schweizer Theologinnen zusammengerufen, am Rand der Generalversammlung des Schweizerischen Verbands der Akademikerinnen in Zürich. Auch Greti war dabei gewesen, hochschwanger.447 Zu sehen, wie viele sie schon waren und wie jede an ihrem Ort für die gleiche Sache kämpfte, gab ihnen neuen Schwung.
Die Zahl der Theologinnen wuchs von Jahr zu Jahr. Zwar sassen die Studentinnen an den theologischen Fakultäten in Zürich, Bern und Basel immer noch allein oder höchstens zu zweit im Seminar.448 Doch zusammen mit den ausgebildeten Theologinnen waren sie nun schon über ein Dutzend, verstreut über die ganze Schweiz.449 Verena trug sich darum mit der Idee, einen Rundbrief zu initiieren, ein Forum für den Austausch zu praktischen Fragen, aber auch zum taktischen Vorgehen im Kampf für das Pfarramt.450
Als Verena abgereist war, versank Greti wieder im Trübsinn. Es geht uns beiden nicht sonderlich gut, berichtete sie Gian niedergeschlagen. Das Kind schlief immer noch nicht durch, und es wollte partout nicht zunehmen. Sie hatte starke Blutungen und befürchtete, ein Teil der Nachgeburt stecke noch in der Gebärmutter. Drei Wochen nach der Geburt reiste auch Schwester Anny ab, unter deren Fittichen sich Greti einigermassen sicher gefühlt hatte. Sie kam sich verlassen und hilflos vor wie ein verlorenes Kind.451 Die gut gemeinten Ratschläge von Mutter und Schwiegermutter halfen ihr nicht weiter. Die beiden Nani geben sich nun grosse Mühe, mir die Seligkeit des Kinderhabens und die Süssigkeit des Windelnwaschens klarzumachen und die Pflicht, das selber zu tun. Und ich habe es fast geglaubt. Abends, als ich dann allein war, hatte ich Moralischen und habe ein bisschen geheult, weil ich