Die illegale Pfarrerin. Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez


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positiv, ebenso das Resultat: Die Basler Kirche schuf ein neues Hilfsamt, Theologinnen durften fortan als Pfarrhelferinnen seelsorgerisch tätig sein und aushilfsweise auch Predigten und alle weiteren kirchlichen Amtshandlungen – Trauungen, Beerdigungen und Taufen – vornehmen. Sie erhielten so einen ähnlichen Status wie ihre Kolleginnen in Zürich, mit dem symbolischen, aber nicht unwichtigen Unterschied, dass die Basler Kirche auch eine Ordination der Theologinnen vorsah.

      Der Entscheid befriedigte Greti nicht ganz. Sie wollte sich nicht mit einem eingeschränkten Pfarramt zufriedengeben, sah aber auch, dass sie und ihre Mitstreiterinnen bei der politischen Grosswetterlage kaum auf mehr hoffen konnten.402 Sie arbeitete die Nachricht aus Basel in ihr Berufsbild ein. Mittags schlief sie zwei Stunden tief und fest. Dann setzte sie sich wieder an die Schreibmaschine und schrieb. Als ich die Korrektur403 las, fingen die leisen ersten Schmerzen an, und zwischen den beiden ersten starken Wehen schrieb ich mit zittriger Hand die Adresse. Sie war dankbar, dass das Kind so lange gewartet hatte. Mehr Verständnis kann ich von ihm nie verlangen!404

      Dann ging es endlich richtig los.405 Die Wehen wurden schnell heftiger, die Abstände dazwischen immer kürzer. Bei jeder Welle hielt sich Greti mit beiden Händen an einer Stuhllehne fest. Als sie nicht mehr stehen konnte, führte Anny, die Hebamme, sie ins Schlafzimmer und zog ihr ein Nachthemd und das weisse Bettjäckchen an, das die Schwiegermutter aus Pontresina geschickt hatte. Bei jeder Wehe stützte die Hebamme Greti im Rücken. Um halb zehn Uhr abends kam Dr. Jeklin und untersuchte sie. Der Kopf des Kindes sei zuvorderst, alles komme gut. Wie es bei Sterbenden oft vorkommt, so trug ich heftiges Verlangen, aufzustehen, wegzugehen und alles zurückzulassen. Zum Ersatz richtete ich mich mühsam in die Knie auf und stemmte mit den Händen gegen die Bettstatt. Ich hörte den Arzt sagen: «Eine jede sucht sich anders zu helfen.» Nach einer Weile hiess er mich, mich wieder hinzulegen, weil er so keine Kontrolle habe. Ich wartete immer noch darauf, dass die Schmerzen nun so stark werden würden, dass ich schreien müsste. Die Hebamme presste nun Gretis angezogenen Knie gegen ihren Leib. Ganz unten hinaus, fest, so ist’s recht, tief atmen und grad noch einmal, redete sie der Gebären­den zu. Nach einer Weile merkte Greti, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hörte den Arzt sagen: Es verhält irgendwo. Er versuchte nachzuhelfen, drückte vom Darm und von der Blase her, doch ohne Erfolg.

      Ich kämpfte weiter, das Schwierigste war wieder einmal das Warum in meinem Leben: warum ging es denn nicht vorwärts. Eine Narko­se war vollkommen ausgeschlossen, da ich ja alles selber tun musste.406 Dazu waren die Schmerzen ja sehr leicht zu ertragen. Es verrann wieder eine Stunde, da plötzlich, ohne dass ich selber etwas Besonderes spürte, sagte der Arzt: Jetzt haben wir den Kopf und jetzt auch grad das Popeli. Es lag einfach plötzlich da und soll schon mit der Nase geschnuppert haben, bevor es brüllte. Ich sah zwei rosige Beinlein und zwei Ärmlein zwischen meinen Beinen in der Luft herumfahren und hörte zwei kräftige Kläpse klatschen, dann schrie ein hohes Stimmlein zweimal auf.

      Sie fingen an, den Nabelstrang zu unterbinden, als ich unsern Sohn mit den Worten begrüsste: Könnt Ihr ihn nicht ein bisschen weiter wegnehmen? Er strampelte mit seinen Füsschen immer gegen meine wunde Stelle, so dass ich ihn von Herzen wegwünschte. Sie schnitten ihn ab und badeten ihn. Er wurde gewogen: Mami durfte ihn auf die Arme nehmen: Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie wollte ihn mir bringen, ich schüttelte nur den Kopf, denn die wunde Stelle brannte mich entsetzlich, auch war die Nachgeburt noch bei mir. Nun kamen sie wieder zu mir. Dr. Jeklin machte ein paar Press- und Drückbewegungen auf meinem Bauch und plötzlich ging ein ungeheurer, warmer Blut­kuchen ab, und sofort war mir «vögeliwohl». Ich hatte aber noch etwas vor mir: Der grosse Bub hatte mir drei Dammrisse gerissen, sie mussten noch vernäht werden, ich gab aber keinen Laut von mir. Und nun begann ein allgemeines Lob über meine Tapferkeit während der ganzen Nacht. Als ob sie denn wüssten, wie wenig oder wie sehr es wehgetan. Wenn ich kein einziges Mal geschrien, so war dies sicher nur, weil ich eben nicht musste. Als der Dr. sagte: «Es ist doch nicht, dass es ein Bub ist?», antwortete ich: «Ja, aber das nächste muss dann ein Mädchen sein!» Ich dachte also schon an das nächste!

      In São Paulo wartete Gian schon seit Tagen auf eine Nachricht. Am 24. Januar frühmorgens war es soweit.407

      CABOGRAMMA

      M. 1 LANDQUART 12 3.30 24 ZIR

      CAPREZ

      RUA 7 ABRIL 68 SPAULO

      SOHN SAMSTAG 3 UHR BEIDE WOHL

      GRETI

      Auf dem Weg zum Polytechnikum ging er beim Telegrafenamt vorbei.

      GROSSE FREUDE

      WUENSCHE GUTE GENESUNG ERWARTE

      LETTERTELE JETZTIGES BEFINDEN

      FREUNDLICH WORT GIANIN

      Im Büro behielt er die Neuigkeit für sich.408 Sie schien ihm zu kostbar, um sie mit jemandem zu teilen. Als er abends nach Hause kam, wartete die erbetene Antwort.

      NORMALER VORGANG BEGINN NEUNZEHN ENDE DREI UHR

      NEUN PFUND BEIDE MUNTER409 FREUDE

      GRETI

      Immer wieder schaute sich Gian die beiden kleinen Fotos an, die Greti ihm vor einigen Wochen geschickt hatte von sich und dem leeren Korb.410 Liebes, wie hast Du es überstanden, und «er», wie sieht denn «er» aus?, erkundigte er sich. Es ist schon so unrecht, dass ich hier wie ein Murmeltier schlafe und mich so wohl wie nur möglich fühle, währenddessen Du Dich in Schmerzen quälst. Wirst Du diese Nacht wohl schlafen können? Du musst mir dann jeden Abend erzählen, was Du alles erlebt und gefühlt hast, seitdem Du von mir fort bist, sonst verliere ich den Zusammenhang zwischen uns beiden und «ihm», und «es» soll mir doch nicht fremd vorkommen.411

      Während Gian diese Zeilen schrieb, brach fast zehntausend Kilo­meter412 weit weg in Igis der Morgen an. Greti erwachte nach der ersten kurzen Nacht als Mutter. Auf dem Tisch stand ein Strauss roter Nelken, den ihre Freundin Verena mitgebracht hatte.413 Greti fühlte sich sehr müde, aber gleichzeitig munter.414 Neben ihr lag das Kind im Zainli und schlief.415 Komisches Gefühl, dass «es» nicht mehr bei uns ist und «selbständig» und so gross in seinem Korb.416 Sie nahm den Brief zur Hand, den sie drei Tage zuvor angefangen hatte, als sie noch verzweifelt am Warten war, und fügte mit zittriger Schrift ein paar Zeilen hinzu.

      Sonntag, 25. Januar 1931

      Brüderlein, hast Du mir einen «Gwaltgüggel» mitgegeben! Er ist sehr gross: neun Pfund. Durchschnitt eines Neugeborenen: 6,2 Pfund. Ich hatte nicht gewusst, dass so ein eintägiges Wesen so brüllen kann. Er hat die letzte, seine erste ganze, Nacht gebrüllt von zehn bis vier Uhr ohne Unterlass und von da an ein bisschen ergebener und mit Unterbruch. Brüderlein, wir werden beide fest zusammenstehen müssen, um seinen Starrkopf anheben zu ­mögen. Von der Geburt schreibe ich Dir morgen. Heute noch zu müde.417

      Zwei Wochen später hielt Gian den Brief mit dem ausführlichen Geburtsbericht in Händen. Als er ihn las, war er erleichtert und stolz zugleich. Du gutes tapferes Greti, Liebste, weisst Du denn, welche Freude ich an Deinem Brief habe!418 Ich kauerte vor jedem Satz, las ihn langsam und gespannt und fand mich bald laut lachend, bald misstrauisch abwartend und ernst. Aber Du hast so glänzend geschildert, dass ich es miterlebte, als ob ich auch bei Dir gewesen wäre, dazu wusste ich ja auch, dass es nicht sehr schlimm kommen sollte, was ich, wenn ich bei Dir selbst gewesen, nicht hätte wissen können. Und wie das Kind419 in ­Nanis Arme gelegt wurde, da merkte ich, dass auch ich feuchte Augen hatte. Dass Du es von Dir weghaben wolltest, begreife ich gut, es freut mich «usinnig», wie Du Dich verhalten hast. Deine Sachlichkeit ist ganz glänzend.420

      Noch immer konnte Greti kaum glauben, dass sie dieses Kind empfangen, ausgetragen und geboren hatte. In Gedanken nannte sie die Zeugung das Wunder vom 14. April.421 Dass sie den Zeitpunkt der Empfängnis genau geplant hatte, daran wollte sie sich mittler­weile nicht mehr erinnern. Es ist zu mir gekommen aus Eigenwillen, da wir meinten, sein Dasein noch nicht verantworten zu können. Da «es» nun aber wider unseren Willen uns geworden war, konnte es nicht anders sein als dass «es» uns geschenkt worden.422 Das Wunder hatte jetzt einen Namen: Gian Andrea Caprez. Gretis Vater bedauerte, dass der Enkel nicht Roffler hiess.423 Sie pflichtete ihm insgeheim bei, trauerte aber nicht um den Stammhalter, sondern um die


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